Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Gefangen in Alcatraz
> Der gescheiterte Ausbruchsversuch, Spannungen zwischen den Insassen und
> Konflikte mit den Wärtern sind die gängigen Topoi des Gefängnisfilms.
> Anläßlich des Starts von Marc Roccos „Murder in the First“ ein kleiner
> Rundumschlag  ■ Von Lars Penning
Folgt man den Überlegungen bedeutender Politiker der Gegenwart, führt der
Weg unserer Gesellschaft geradewegs in den Freizeitpark. Vorreiter dieser
Entwicklung ist das Justizwesen. Schließlich geht es niemandem so gut wie
den Gefängnisinsassen: Nix zu tun, Kost und Logis frei – da kann man sich
ganz dem Dolce vita mit Sex & Drugs & Rock'n'Roll (Elvis „Jailhouse Rock“
Presley sei Dank) hingeben. Stellt sich eigentlich nur noch die Frage,
warum die Knackis überhaupt wieder rauswollen.
Das europäische Kino hat sich dieses Themas schon vor beinahe vierzig
Jahren in vorbildlicher Weise angenommen: In dem französischen Film
„Archimède, le clochard“ („Im Kittchen ist kein Zimmer frei“) von Gill…
Grangiers stürzte Jean Gabin als Archimède seinerzeit angesichts der
Entlassung aus dem Knast derart in eine Sinnkrise, daß er sich mit allen
Mitteln um eine Rückkehr in das heimelige Etablissement bemühte. Doch
Archimède blieb ein Einzelfall. Viele Delinquenten sind einfach nicht von
dem Versuch abzubringen, die oftmals langwierig ausgehandelte
Aufenthaltsdauer erheblich abzukürzen.
Auch dem Amerikaner Henri Young mochte das Dasein auf der Gefängnisinsel
Alcatraz nicht recht zusagen. Seine Geschichte erzählt der heute startende
Film „Murder in the First“. Young wurde für drei Jahre illegal in
Isolationshaft gesteckt, nachdem sein Fluchtversuch von der als
ausbruchssicher geltenden Insel gescheitert war. Als er seinen Kerker
wieder verlassen durfte, ermordete er bei der ersten besten Gelegenheit
jenen Mithäftling, der den Ausbruch an die Wachen verraten hatte. Daraufhin
wurde Young in ein Gefängnis nach San Francisco verlegt, wo ihn sein Prozeß
wegen Mordes erwartete.
Diese weitgehend historisch verbürgten Fakten dienen Regisseur Marc Rocco
als Ausgangspunkt eines „Prison Dramas“, das jedoch weder mit einer
spektakulären Gefangenenrevolte noch mit Grabungstätigkeiten à la Graf von
Monte Cristo aufwartet. Zur zweiten Hauptperson der Story entwickelt sich
nämlich Youngs Anwalt, der es gegen alle Widerstände im Verlauf des
Prozesses fertigbringt, die unmenschlichen Strafvollzugsmethoden von
Alcatraz für die Tat seines Mandanten verantwortlich zu machen.
Das Gefängnis von Alcatraz war 1934 als Reaktion auf die Bedrohung durch
das organisierte Verbrechen, das Amerika während der Prohibitionszeit
erschüttert hatte, entstanden. Nach Alcatraz kamen ausschließlich
Schwerverbrecher. Einer der ersten Insassen war Al Capone. Die
Staatsanwaltschaft konnte ihm nicht einen Mord nachweisen, und so landete
er in Alcatraz wegen – Steuerhinterziehung.
Auch das amerikanische Kino reflektierte das Zeitgeschehen auf seine Weise:
Ende der zwanziger Jahre entstand das Genre des Gangsterfilms – und mit ihm
gewann auch der Schauplatz Gefängnis an Bedeutung. Für die Filmgangster
wurde der Knast zunächst häufig zu einem Ort der späten Reue, wie etwa für
den von George Bancroft gespielten „Thunderbolt“ („Sie nannten ihn
Thunderbolt“) in Josef von Sternbergs gleichnamigem Film aus dem Jahre
1929. In Michael Curtiz' „Twenty Thousand Years in Sing Sing“
(„Zwanzigtausend Jahre in Sing Sing“, 1932) übernimmt Spencer Tracy sogar
die Schuld für einen Mord, den eigentlich Bette Davis auf dem Gewissen hat.
Daß sich aber ein unbescholtener Bürger durch eine ungerechtfertigte
Gefängnisstrafe auch zum Kriminellen entwickeln kann, zeigt „Each Dawn I
Die“ („Todesangst bei jeder Dämmerung“, 1939) von William Keighley.
Das Vorbild aller Gefängnisdramen entstand jedoch bereits 1930: George
Hills „The Big House“ („Blutgeld“) enthält jene Topoi, die das Subgenr…
Gangsterfilms konstitutieren. Der gescheiterte Ausbruchsversuch, Spannungen
zwischen den Insassen und ihre Konflikte mit den Wärtern – Gefängnisfilme
erzählen Geschichten von Macht und Ohnmacht. Für die Häftlinge gibt es nur
zwei Möglichkeiten, mit ihrer Situation umzugehen: offene Revolte, wie sie
beispielsweise in „Brute Force“ („Zelle R 17“, 1947) oder „Riot in Ce…
Block 11“ („Terror in Block 11“, 1956) gezeigt wurde, oder den heimlichen
Ausbruchsversuch, wie ihn Jacques Becker in „Le Trou“ („Das Loch“, 1960)
und Don Siegel in dem suspensereichen „Escape from Alcatraz“ („Flucht aus
Alcatraz“, 1979) inszenierten.
Da die limitierten Drehorte die Produktionskosten niedrig hielten,
entwickelten sich die Stories um Menschen hinter schwedischen Gardinen zu
einem idealen Thema der B-Pictures. Besonders angetan hatten es den Autoren
dabei die „Girls in Prison“, wie der Titel eines Films von Edward L. Cahn
aus dem Jahre 1956 lautete (In Deutschland lief der Film unter dem
unsäglichen Titel „Kampf der Hyänen“).
Bereits 1931 hatte die Paramount versucht, sich mit ihren „Ladies of the
Big House“ an den Erfolg von MGMs „The Big House“ („Blutgeld“) anzuh�…
In der Werbekampagne zu John Cromwells „Caged“ („Frauengefängnis“, 195…
lautete die entscheidende Frage: „Will she come out woman or wildcat?“ Auch
Filme wie „Betrayed Women“ („Verratene Frauen“, 1955) oder „House of …
(1962) wollten darauf eine Antwort finden.
Entschieden ernster ging es hingegen in „Yield into the Night“ („Umfange
mich, Nacht“, 1958), einer britischen Produktion mit Diana Dors, und Robert
Wises „I Want to Live“ („Laßt mich leben“, 1960) zu. Indem sie minuti�…
letzten Tage und Stunden einer zum Tode verurteilten Frau (gespielt von
Susan Hayward) schildern, zeigen sie die Unmenschlichkeit der Todesstrafe
auf. Tim Robbins' „Dead Man Walking“, zu dem „Murder in the First“ eini…
Parallelen aufweist, steht also in einer langen Tradition. Ähnlich wie
Robbins' Film ist auch „Murder in the First“ das Protokoll einer behutsamen
Annäherung zweier sehr unterschiedlicher Personen: Kevin Bacon berührt als
verstörter Häftling Henri Young, der weniger Angst vor der Vollstreckung
der Todesstrafe als vor einer erneuten Einlieferung nach Alcatraz hat. Auch
Christian Slater überzeugt in der Rolle des Anwalts, der den Fall (den man
ihm nur gegeben hat, weil er so offensichtlich verloren scheint) zunächst
reichlich naiv angeht. Doch das wachsende gegenseitige Vertrauen und die
beginnende Freundschaft steigern das Selbstbewußtsein beider Protagonisten:
Der Anwalt riskiert seine Karriere und kämpft mit aller Kraft gegen das
inhumane Gefängniswesen, um seinen Mandanten zu retten. Young hingegen
akzeptiert letztlich eine erneute Gefängnisstrafe auf Alcatraz – die wohl
mutigste Entscheidung: Ein Schlußtitel weist lapidar darauf hin, daß er die
Einlieferung nur kurze Zeit überlebte.
Sabotiert werden die Bemühungen der beiden Akteure um ein menschlich
packendes Drama jedoch vor allem von ihrem eigenen Regisseur. Das
Presseheft zitiert Marc Rocco mit dem Satz, er habe nicht den typischen
Hollywood- Gerichts- und -Gefängnisfilm drehen wollen. Doch sein
verkrampfter Wille zur Originalität endet in einem Fiasko: Statt solidem
Regiehandwerk bietet Rocco nur selbstverliebte Fummelei. Stets befindet
sich die Kamera auf der Suche nach ausgefallenen Positionen, die garantiert
keinerlei Bezug zum dramatischen Gehalt der Szene haben, und delektiert
sich an glänzenden, polierten Oberflächen, die selbst die Kerker von
Alcatraz noch pittoresk erscheinen lassen. An seiner Überambitioniertheit
muß der Film letztlich scheitern: Die krude Mischung von politisch
korrektem Humanismus mit Psychodrama und Brutalitäten im „High-Gloss“- Stil
erweist sich als unbekömmlich. Weniger wäre hier mehr gewesen.
„Murder in the first“. Regie: Marc Rocco, Kamera: Fred Murphy. Buch: Dan
Gordon. Musik: Christopher Young. Mit Christian Slater, Kevin Bacon, Gary
Oldman, Embeth Davidtz u.a. USA 1995, 122 Min.
9 May 1996
## AUTOREN
Lars Penning
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.