# taz.de -- Geburt und Traumata: „Die Frau hat es nicht selber in der Hand“ | |
> Eine Geburt wird nicht selten von der Retraumatisierung der gebärenden | |
> Frau belastet. Unverarbeitete Erfahrungen können den Prozess erschweren, | |
> Hilfe gibt es kaum. | |
taz: Frau Goralsky, Sie beschäftigen sich als Heilpraktikerin mit dem Thema | |
„Geburt und Trauma“. Von welchen Traumata – also durch bestimmte Ereignis… | |
ausgelöste seelische Verletzungen – sprechen wir da? | |
Tatjana Goralsky: Wir müssen Traumata, die unter der Geburt entstehen, | |
unterscheiden von traumatischen Erlebnissen einer Frau vor der | |
Schwangerschaft. | |
Also etwa durch frühere Missbrauchserfahrungen? | |
Wurde eine Frau aufgrund eines sexuellen Übergriffs traumatisiert, führt | |
eine Geburt oft dazu, dass sie retraumatisiert wird – also das Trauma | |
erneut durchlebt – weil eine Situation entsteht, in der sie sich in die | |
Hände von Menschen begeben muss, die ihr meist nicht vertraut sind. | |
Kontrollverlust ist die Grundvoraussetzung für jede Traumatisierung. Oft | |
sind das sexualisierte Traumaerfahrungen, die sich während der Geburt | |
bemerkbar machen, aber es können auch andere Formen eines Kontrollverlusts | |
sein. Wenn die Frau etwa bei einem Unfall traumatisiert wurde und dann | |
später in einer Klinik die Geburt hektisch verläuft, kann es passieren, | |
dass sie das an die Unfallsituation erinnert. | |
Und dann gibt es noch traumatische Erlebnisse während einer Geburt, die in | |
jeden weiteren Geburtsprozess ausstrahlen?! | |
Das Austreiben eines Kindes ist körperlich schon ohne besondere | |
Komplikationen ein Trauma. Weil der Geburtskanal ungewöhnlich belastet und | |
auch verletzt wird. Es gibt deshalb das natürliche Trauma einer Geburt, das | |
wohl jede Frau erlebt. Wenn dazu noch Komplikationen auftreten oder das | |
Kind nicht gesund, vielleicht sogar gar tot zur Welt kommt, ist die Gefahr | |
einer tiefen Traumatisierung höher. | |
Welche Rolle spielt bei der Entstehung gebärbedingter Traumata die sich | |
stetig erhöhende Kaiserschnittrate? Hamburg ist da bundesweit | |
Spitzenreiter. | |
Die hohe Zahl an Kaiserschnitten ist nicht sinnvoll und hat viel mit der | |
Bequemlichkeit der Kliniken zu tun. Sie sind anders als eine Spontangeburt | |
planbar – weil sie auf Termin gelegt werden – und damit lukrativ. Frauen | |
aber unterschätzen oft das Risiko eines Kaiserschnitts, die Schmerzen und | |
auch die Traumatisierung, die er bewirken kann. Mit dem Zuwachs von | |
Kaiserschnitten ist auch die Sterblichkeitsrate der Mütter unter der Geburt | |
angewachsen – oft aufgrund von Narkoseschädigungen. | |
Und was ist mit Frauen, die zum Kaiserschnitt genötigt werden? | |
Ein Notkaiserschnitt ist alles andere als romantisch: Es ist eine hektische | |
OP-Situation. Da greift ganz stark das Gefühl, ich habe versagt, ich gebäre | |
nicht mehr selbstständig. Die Frau kann nicht mehr eingreifen, sie kann | |
diese Entscheidung medizinisch meist nicht nachvollziehen, aber sie wird | |
mitgehen, wenn es heißt, ihr Leben oder das ihres Kindes sei sonst | |
gefährdet. Sie hat es nicht mehr in der Hand, was geschieht – das heißt | |
Ohnmacht. | |
Die Initiative „Schatten und Licht“ geht von 100.000 Frauen aus, die pro | |
Jahr von mit der Geburt zusammenhängenden psychischen Erkrankungen | |
betroffen sind. Oft stehe dabei die Frage im Vordergrund: Wer ist schuld, | |
dass die Geburt nicht so gelungen ist, wie erhofft? | |
Frauen machen sich oft dafür verantwortlich, dass die Geburt nicht so rund | |
gelaufen ist, wie sie sich das vorgestellt haben. Es entsteht das Gefühl, | |
als Gebärende und Mutter auf ganzer Linie versagt zu haben, weil ich mein | |
Kind nicht „weiblich kraftvoll“ und „natürlich“ auf die Welt gebracht … | |
Das kann in Schwangerschaftsdepressionen oder Bindungsstörungen zwischen | |
Mutter und Kind münden. | |
Wie können Frauen Orientierung finden, um sich zwischen der „natürlichsten | |
Sache der Welt“ und der hochtechnisierten Apperatemedizin als Subjekt zu | |
verorten? | |
Natürliche Geburt und Weiblichkeit sind starke Worthülsen. Jede Frau muss | |
selber entscheiden, wie sie ihre natürliche Weiblichkeit definiert und wie | |
viel medizinische Sicherheit sie auch für sich und ihr Kind haben möchte. | |
Gibt es so etwas wie einen Natürlichkeitsfetisch?Ja! | |
Geburtsvorbereitungskurse sind darauf ausgerichtet, mit möglichst wenig | |
medizinischer Unterstützung das Kind auf die Welt zu bekommen. Ich | |
unterstütze diesen Ansatz, aber es wird dann schwierig, wenn eine Frau | |
spürt, dass sie da nicht so mitgehen kann und keinen Raum mehr findet zu | |
sagen: Ich habe ganz starke Angst, retraumatisiert zu werden, ich möchte | |
gern einen gut begleiteten, geplanten Kaiserschnitt haben. | |
Zurück zum Trauma und seinen Auswirkungen auf eine Geburt. | |
Aus einem traumatischen Erlebnis unter der Geburt resultieren nicht | |
zwingend psychische Probleme. Aber wenn die zweite Geburt ansteht, setzen | |
sich die Frauen meist mit der ersten Geburt und negativen Erfahrungen, die | |
sie dabei gemacht haben, auseinander. Daraus resultiert oft die Angst, es | |
könne wieder so wie beim ersten Mal werden. | |
Gibt es genug spezielle Hilfsangebote für Frauen, die mit so einem Trauma | |
vor einer Geburt zu kämpfen haben? | |
Mir sind keine Hilfeangebote bekannt, die an dem Zusammenhang Trauma und | |
Geburt ansetzen und auch keine Geburtsvorbereitung speziell für | |
traumatisierte Frauen. Wir brauchen auf diese Thematik zugeschnittene | |
Geburtsvorbereitung und Nachsorge. Die Kliniken würden sich aber einen | |
Gefallen tun, wenn sie so etwas anbieten würden. | |
An wen kann sich eine Frau wenden, die vor der Geburt merkt, dass ihr ein | |
Trauma im Nacken hockt? | |
Es wäre gut, wenn sie eine Hebamme findet, die traumapsychologisch | |
ausgebildet ist. | |
Was können Sie solchen Frauen in ihrer Praxis anbieten? | |
Ich plane gerade zusammen mit einer Hebamme einen Geburtsvorbereitungskurs | |
für schwangere Frauen, die bereits eine traumatische Geburt erlebt haben | |
und sich damit gezielt auseinandersetzen wollen. Das soll keine Therapie | |
ersetzen und es geht auch nicht darum, dass die Frauen sich gegenseitig | |
berichten, wie schrecklich traumatisiert sie jeweils sind. | |
Sondern? | |
Der Kurs soll die Begriffe von Weiblichkeit und Natürlichkeit etwas | |
zurechtrücken. Eine Frau büßt ihre Natürlichkeit nicht ein, wenn sie sich | |
für einen geplanten Kaiserschnitt entscheidet. Und ich arbeite | |
traumapädagogisch mit den Frauen. | |
Das heißt? | |
In der Traumapädagogik geht es darum, zu verstehen, was in einer | |
traumatischen Situation mit mir passiert. Und es geht darum das Phänomen | |
der Retraumatisierung zu erklären. | |
Dafür wäre jetzt Gelegenheit! | |
Es gibt ganz simple Auslöser einer Retraumatisierung: Oft sind es Farben | |
oder Gerüche. Wenn ich OP-Grün sehe, erstarre ich oder kann mich nicht mehr | |
artikulieren und lasse mir die Situation aus der Hand nehmen. Den Frauen | |
das zu erklären, bewirkt schon viel. Dann folgt die Frage: Was kann ich | |
tun, wenn ich merke, jetzt bin ich in diesem Trauma wieder drin? Die Frau | |
muss lernen sich mit ihrem Trauma auseinanderzusetzen und es in ihren | |
Geburtsprozess zu integrieren. Oft funktioniert ein gezielt gesetzter | |
körperlicher Reiz: Ich kann mich kneifen oder auch Entspannungsübungen | |
machen. Das kann hilfreich sein, um sich zurechtzufinden in so einer | |
stressigen Situation wie der Geburt. | |
21 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Marco Carini | |
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