Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- GENTLEMAN-KUNST: Spätes Frühwerk mit 55 Jahren
> Intelligente Aneignungen und perfekte Umdichtungen der Kulturgeschichte
> zeigt die Hamburger Kunsthalle mit ihrer Rodney-Graham-Schau.
Bild: Die "Rheinmetall / Victoria 8": Ob auf ihr Gedichte oder Deportationsbefe…
Langhaarig und gelangweilt sitzt der Künstler da und wirft ab und an mit
Kartoffeln auf einen Gong. Auch das Publikum dieses Happenings von 1969 ist
eher zurückhaltend: Neue Kunstformen treffen auf eine gewisse ratlose
Ernsthaftigkeit. Aus den Kartoffeln, die den Gong trafen, wurde damals
Wodka gebrannt, die Flasche und der Destillierapparat sind als Reliquien
dieser bedeutenden Kunstaktion im gleichen Raum ausgestellt, in dem das
manchmal etwas wackelig verzoomte Schwarz-Weiß-Filmdokument gezeigt wird.
Dass diese Aktion aus fernen Fluxus-Zeiten bisher eher weniger bekannt war,
liegt daran, dass sie komplett erst 2006 realisiert wurde. Sie ist eine
jener ziemlich perfekten Weiterschreibungen und Umdichtungen, mit denen der
kanadische Künstler Rodney Graham die Kunst-, Musik- und
Literaturgeschichte (und die eigene Biographie) um neue Artefakte
bereichert. Hier ist der Ausgangspunkt eine ganz beiläufiges Ereignis, das
sich in einer Pause eines Pink-Floyd-Konzerts tatsächlich ereignet haben
soll, nun aber zu einer Typologie einer ganzen Kunstepoche wird.
Der 1949 geborene Künstler Rodney Graham liebt für seine konzeptuelle Kunst
zahlreiche, möglichst komplexe Bezüge in Form und Inhalt. Meist setzen
diese Arbeiten sehr spezielles Wissen voraus. Sie kommen dabei aber zu
Bildern, die auch unmittelbar attraktiv wirken und oft den direkten Gag
nicht scheuen: In dem Film, der ihn in Europa bekannt machte, dem 1997 für
den kanadischen Pavillon der Biennale di Venezia in
Hollywood-Kostümfilm-Qualität produzierten Acht-Minuten-Streifen "Vexation
Island", erwacht Rodney Graham als Pirat verletzt an einem tropischen
Strand, schüttelt an einer Kokospalme und wird von der herabfallenden Nuss
wieder in Ohnmacht versetzt. Eine solche unausweichliche
Wiederholungsschleife ist auch der in der Kunsthalle gezeigte Film, bei dem
einem Saxophonisten die Manschettenknöpfe in sein Instrument fallen, er sie
mühsam wieder heraus schüttelt, und sie ihm beim Neuanlegen wieder dorthin
entgleiten.
Das ihm besonders wichtige filmische Prinzip des Loops findet Rodney Graham
aber auch in der Literatur und der Musik. Mitte der 1980er Jahre stieß er
im Layout der englischen Übersetzung von Georg Büchners Romanfragment Lenz
auf die Worte "through the forest", die gleich zweimal auf verschiedenen
Seiten an der genau gleichen Position auftauchen, an der der Text von einer
Seite auf die nächste übergeht. Ihm schien dies als eine weit über den
Zufall hinausgehende, bedeutende Manifestation des romantischen Wahnsinns -
im aktuellen Rückblick der Hamburger Kunsthalle mit rund hundert Arbeiten
aus den letzten dreißig Jahren wurden die Worte zum Titel der Ausstellung.
Rodney Graham hat auch den Minimalismus umgedeutet und Bücher von Freud in
Nachbauten von Skulpturen von Donald Judd integriert. Er hat in bestehende
Literatur eigene Elemente "eingeschmuggelt" und beispielsweise eine
Erzählung von Edgar Allan Poe "ergänzt". Zudem ist er halb ein Musiker: Er
hat den originalen Wiederholungsschleifen in Wagners "Parsifal"
nachgeforscht und er tritt bis heute in oft wechselnden Gruppierungen als
Musiker auf.
Daran, dass der in Vancouver lebende Künstler mit dem kanadischen
Fotokünstler Jeff Wall befreundet ist, erinnern die großen, auf das
Genaueste inszenierten Foto-Leuchtkästen. Das Triptychon "The Gifted
Amateur, Nov. 10th, 1962" zeigt Rodney Graham als reichen Dandy von der
Westküste, der sich in seiner zeitgemäß perfekt gestylten Wohnung als
Mal-Amateur versucht und dabei ist, eine großformatige, geschüttete
Colour-Field-Leinwand im Stile von Moris Louis zu imitieren. Das ist nicht
nur mit viel Liebe zum Detail inszeniert - da die Originale für das Bild zu
vergilbt gewesen wären, wurden die Zeitungen vom 10. November 1962
nachgedruckt - es kommt dem Selbstbild des Künstlers Rodney Graham auch
sehr nahe.
Das angelsächsische Verständnis vom gebildeten Amateur als reichem
Gentleman, der sich im 17. und 18. Jahrhundert mit Kunst und Wissenschaft
befasst, ist ein auf die meisten Arbeiten von Rodney Graham anwendbares
Rollenmodell. Und so geht der Künstler auch über die bloße Darstellung
dieser Rolle in Foto und Film hinaus und malt 2005 selbst Bilder im
kubistischen Stil der École de Paris aus der Mitte des letzten
Jahrhunderts. "Mein spätes Frühwerk" nennt es der distinguiert professoral
wirkende Künstler, wenn er die "Picasso, My Master" betitelten Bilder aus
dieser Malerei-Serie zeigt (und verkauft).
Es sind solche schamlosen Umdeutungen und intelligenten Aneignungen aus dem
etablierten Kanon der Kulturgeschichte, die klar machen, wie brüchig, wie
willkürlich und wie sehr immer neu zu verhandeln das ist, was
gewohnheitsmäßig oder mehrheitlich als gesicherte Geschichte betrachtet
wird. Dabei ist Rodney Graham bei seiner Arbeit niemals oberflächlich
ironisch, alles ist außerordentlich genau in seinen Referenzen und Formen.
Und manchmal findet er auch in ihrer Einfachheit überzeugende Zeichen:
"Rheinmetall / Victoria 8" ist eine deutsche Schreibmaschine der 30er
Jahre, die er 2003 in einem wie fast immer zehn Minuten langen Film genau
porträtiert und dann langsam mit Mehl zustäubt. Die Maschine, gleich ob auf
ihr expressionistische Gedichte oder Deportationsbefehle geschrieben
wurden, verstummt zu einer Schneelandschaft. Und unsere Assoziationen zur
deutschen Geschichte oder der sinnlich-analogen Form des Schreibens
überhaupt versinken still in der Vergangenheit.
Doch der genaue Blick auf Kultur und Alltag muss nicht notwendig
melancholisch machen: In einem kleinen, auf den Grundriss von Grahams
damaliger Küche bezogenen Kinosaal zeigt Rodney Graham in einem
Schwarz-Weiß-Film, wie er Zimtkörner auf der Ofenplatte glühend tanzen
lässt. Und das sieht aus wie ein poetisches Feuerwerk explodierender
Sterne.
Rodney Graham: Through theForest, Hamburger Kunsthalle - Galerie der
Gegenwart, Di bis So 10 bis18 Uhr, Do bis 22 Uhr. Bis 30. Januar
2011.Katalog im Verlag HatjeCantz, 166 Seiten, 35 Euro
1 Nov 2010
## AUTOREN
Hajo Schiff
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.