# taz.de -- GEBET UND EKSTASE | |
> ■ Die „semana santa“ in Malaga, Schmelztiegel von Religiosität und | |
> ausgelassener Volksfeststimmung | |
Die Szene mutet gespenstisch an. Kapuzenmänner ziehen vorüber. Christus am | |
Kreuz wird vorbeigetragen. Stille. Ergriffenheit. Zwei Straßen weiter: Jose | |
und Miquel grölen um die Wette. Eine Flasche Rotwein zerspringt auf dem | |
Asphalt in ein Scherbenmeer. Die „Semana Santa“, die Heilige Osterwoche in | |
Malaga, ist eine Mischung aus Gottesdienst und Karneval, aus Gebet und | |
Ekstase. Hier verschmelzen Andacht und Ausgelassenheit, Stille und Lärm, | |
Tod und Leben zu einer Einheit, die für Fremde nur schwer zu begreifen ist. | |
Christus ist tot. Malaga stirbt. Aber der Gekreuzigte wird auferstehen, und | |
Malaga wird leben. | |
Malaga im Frühling. In den Salzgeruch des Meeres mischt sich der Duft von | |
Orangenblüten und Palmen. Die Malaguenos erwarten das erste Wochenende, das | |
ihnen Temperaturen über 20 Grad und damit die ersten Tage des Jahres am | |
Strand bescheren wird. Und sie feiern die semana santa. Die Tage von | |
Palmsonntag bis Ostern, an denen sich ihre Stadt aufs neue anschickt, | |
Sevilla den Rang als erste Stadt der Heiligen Woche streitig zu machen. | |
Kein Einwohner Malagas, der nicht davon überzeugt wäre, daß seine semana | |
santa die beste der ganzen Welt sei. Kein Fremdenführer, der nicht | |
freudestrahlend mitteilte, daß die wahren Kenner und Liebhaber dieses | |
religiösen Spektakels ohnehin seit Jahren Malaga gegenüber Sevilla | |
bevorzugten. In Sevilla, da sind die Touristen, in Malaga die Spanier. | |
Schon Tage vor dem domingo de ramos, dem Palmsonntag, weicht die | |
mediterrane Ruhe leiser Aufgeregtheit. Am Plaza de la Constitucion, wo der | |
Blick gewöhnlich von einem der Straßencafes aus auf den malerischen Brunnen | |
im Zentrum des Platzes fällt, verstellt jetzt eine Zuschauertribüne die | |
Sicht. In den Straßen tauchen hölzerne Ballustraden, die tinglados auf. Ein | |
gutes Dutzend oder mehr. Dahinter verbergen sich die „Throne„; | |
Darstellungen der Passion Christi. Viele hundert Kilo schwer. Vollendete | |
Kunstwerke, die darauf warten, durch die Straßen Malagas getragen zu | |
werden. Schwarze oder dunkelblaue Anzüge, Trachten aus teurer Seide, | |
Kapuzengewänder in allen Farben - das gesamte Jahr über haben sie ein | |
Schattendasein im hintersten Winkel des Wohnzimmerschranks gefristet. Jetzt | |
ist ihre Stunde gekommen. Semana santa. Auf den Bürgersteigen der Calle | |
Larios, in der die Pilgerfahrten der mit ihren Thronen umherziehenden | |
Bruderschaften ihren Höhepunkt erreichen werden, erschweren die Stuhlreihen | |
den Einkaufsbummel. In den Kirchen der Stadt erwarten Tausende von Kerzen | |
ihren langsamen Tod. | |
Endlich! Es sind nicht die Straßen von Jerusalem. Aber so ähnlich muß es | |
gewesen sein. Ganze Straßenzüge wie leergefegt. Kleine Gäßchen jäh wie | |
ausgestorben. Dort aber, wo „er“ entlangkommen soll, una marea, eine | |
Menschenflut. Tausendköpfig. Dichtgedrängt. Väter und Mütter mit ihren | |
Kindern vor allem. Hosianna! Hosianna! | |
Endlich, endlich nimmt seinen Anfang, was sich in ähnlicher Form in jeder | |
der sechs Nächte bis zum Ostersonntag wiederholt. Ein Kapuzenmann kommt | |
angerannt. Barfüßig. Zeichen seiner Buße. Eine kleine Glocke in der Hand, | |
schellend. Einige Dutzend Meter nach vorne und dann genauso schnell wieder | |
zurück laufend, kündigt er die Ankunft der Prozession an. Kinder mit | |
Palmzweigen in der Hand folgen. Und dann der Thron. Blumengeschmückt, | |
kandelabergerahmt. Getragen von zwei- oder auch dreihundert Männern. Was | |
für den einen Ausdruck seiner Bereitschaft ist, Christus nachzufolgen, ist | |
für den anderen willkommener Anlaß, seiner Verlobten zu imponieren. Einige | |
Männer gehen den stundenlangen Weg mit verbundenen Augen, um die eigene | |
Qual zu erhöhen, andere sehen nichts, weil sie betrunken sind vom vielen | |
Alkohol, den sie bei jeder Ruhepause in sich hineinkippen. Jetzt Christus | |
bei seinem Einzug in Jerusalem. Auf einem Esel sitzend. Minuten später eine | |
traurige Maria. Der zweite Thron der cofradia, der Bruderschaft, biegt um | |
die Ecke. In Marias Gesicht ein Augenpaar, als ob sie wüßte, daß die | |
Palmenzweige sich bald in Lanzen, die „Hosianna-“ in „Kreuzigt-ihn!„-Ru… | |
verwandeln werden. Eine dritte Bruderschaft verläßt ihren Standort in der | |
Nähe des Busbahnhofes. Die Sonne versinkt langsam in den Bergen. Eine | |
Kapelle spielt die Nationalhymne. Die Menge klatscht enthusiastisch. Von | |
jetzt an gehört Malaga der Nacht. | |
Abend für Abend, Nacht für Nacht wiederholt sich nun, was am Palmsonntag | |
begann. Jede Nacht wird ihren eigenen Höhepunkt haben. Da liegen am lunes | |
santo, am Heiligen Montag, die Bruderschaft der Studenten und die der Ärzte | |
in einem stillen Wettstreit. Welche der cofradias schafft es am längsten, | |
die Throne „tanzen“ zu lassen? Ausgestreckten Armes wuchten sie ihre Throne | |
hoch über den Kopf, um sie wieder und wieder von rechts nach links und von | |
links nach rechts zu wiegen, so lange bis die Kräfte erlahmen und der | |
Körper dem Ehrgeiz nicht mehr folgen kann. „Gaudeamus igitur“ contra den | |
Eid des Hypokrates. Die Tausende, in drangvoller Enge auf dem Plaza del | |
Obispo, haben ein scharfes Auge... Jesus, El Rico | |
Am Mittwoch wird vor dem Justizpalast ein Gefangener begnadigt und | |
freigelassen. Unter den Augen von „Jesus, El Rico“, Jesus, dem | |
Gnadenreichen, läuft er seiner Freiheit entgegen. Ein Privileg, das die | |
Bruderschaft „El Rico“ dem Mut einiger Häftlinge und der Gnade eines Köni… | |
verdankt. Als nämlich im Jahre 1756 - so erzählt es die Legende - die Pest | |
die Bevölkerung Malagas dahinraffte, war guter Rat teuer. Wollte doch | |
niemand den „Gnadenreichen“ durch die Straßen der verseuchten Stadt tragen. | |
Bis Häftlinge in die Bresche sprangen, begnadigt wurden und die | |
Bruderschaft daraufhin von König Karl III. das Privileg erhielt, | |
alljährlich einem Häftling ihrer Wahl die Freiheit zu schenken. | |
Am Gründonnerstag dann die esperanza. Weit nach Mitternacht erst erreicht | |
sie die Haupttribüne in der Calle Larios. Es gibt Leute, die zahlen einige | |
tausend Mark für einen Dauerplatz auf einem der Balkone in der „Straße der | |
Straßen“ der im semana-santa-Fieber taumelnden Stadt. La esperanza kommt | |
immer mit Verspätung. Hunderttausendfach bestaunt, bahnt sie sich mühsam | |
ihren Weg. | |
Und dann Karfreitag. Ein langgezogener Schmerzensschrei durchfährt die | |
Kälte der Nacht und erhebt sich gen Himmel. Die saeta, das für die semana | |
santa so typische Klagelied, sucht den Weg in die Herzen der Menschen und | |
findet ihn. Niemand weiß genau, welchen Ursprung diese Lieder haben. Keiner | |
kennt den Grund für ihre Namen. Aber jeder spürt die Kraft ihrer | |
tongewordenen Traurigkeit. Sie kommen aus der Tiefe der Seele. Suggestiv, | |
leidenschaftlich verfehlen sie auch auf eingefleischte Atheisten ihre | |
Wirkung nicht. „Wer leiht mir eine Leiter, um auf das Kreuz zu steigen, um | |
Jesus, den Herrn, von den Nägeln zu befreien?“ Zu spät, zu spät. Christus | |
ist tot, und die heilige Jungfrau weint. Grenzenloser Schmerz. Malaga | |
leidet. Keine Trompeten mehr, nur der dumpfe Klang von Trommeln. Menschen | |
weinen, werden still. Aber: „No llores mas, Madre mia, que pronto | |
resucitera“ - Weine nicht, Maria, wie bald wird er auferstehen. | |
Jetzt, in der Zeit zwischen Karfreitag und Ostersonntag mehr noch als in | |
den Nächten zuvor, berühren sich Erde und Himmel. Malaga pulsiert. Ein | |
letzten Mal. Stärker denn je. Die vier Elemente tragen den Sieg über | |
Vernunft, Moral und Gewohnheit davon. Feuer - im Blut der Tanzenden, im | |
Lodern der Kerzen, im Blick des caballero, der gerade seiner Eroberung | |
unter die Röcke geht. Wasser - um die Nelken, die Lilien und Rosen vor dem | |
Verwelken zu bewahren, um als Träne aus frommen Augen zu rinnen, erst um | |
die Straßen der Stadt zu segnen, dann um sie jeden Morgen neu von | |
Erbrochenem, Scherben, Konfetti, Dosen, Papierfetzen und einer | |
unglaublichen Menge von Essensresten zu befreien. Erde - um auf ihr zu | |
gehen, um sich die Knie beim Bußgang wundzuscheuern, um ihr für kurze | |
Momente die Last der Throne aufzubürden, um die Augen zu senken vor dem | |
Leiden Marias, um sich einfach irgendwo hinzulegen, einzuschlafen vor | |
Erschöpfung, so lange bis die Kälte unerträglich wird. Himmel - der | |
zusieht, wie Laster und Frömmigkeit, wie Sünde und Buße sich zu einem | |
großen Ganzen vereinen. Malaga wählt das Leben. So schäbig, so armselig, so | |
kaputt es sein kann. Aber auch so voller Lust und Freude. Gierig. | |
Rauschhaft. Süchtig. Christ ist erstanden! Halleluja! | |
Und dann kehrt die Stadt zur Normalität zurück. Langsam. Verschlafen. | |
Anzüge, Trachten, Kapuzengewänder und Handschuhe wandern wieder in ihre | |
hölzernen Verließe. Wieder einmal hat die Stadt ihr Evangelium geschrieben | |
- das fünfte Evangelium nach Malaga. | |
Matthias Schepp | |
14 Apr 1990 | |
## AUTOREN | |
matthias schepp | |
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