| # taz.de -- Fünf Jahre nach Siedlungsräumungen in Gaza: Der verwehrte Neuanfa… | |
| > Anita Tucker ging nicht freiwillig aus Gaza weg. Die israelische | |
| > Regierung wollte es so. Auf das neue Land, das ihr versprochen wurde, | |
| > wartet die Gemüsebäuerin noch heute. | |
| Bild: Trauernde israelische Siedler kurz vor ihrem Abzug aus Gaza vor fünf Jah… | |
| EIN ZURIM taz | Seit fünf Jahren wartet Anita Tucker darauf, endlich ihr | |
| neues Leben anfangen zu können. Die 64-Jährige will wieder Gemüse anbauen. | |
| Tomaten, Sellerie, Paprika und Kräuter gehörten zu ihrem Bestand, bevor die | |
| Soldaten an die Tür klopften. "Ich hatte einen Traum", sagt sie, "und der | |
| war wahr geworden." Am 15. August 2005 endete er. Ariel Scharon, damals | |
| Premierminister, hatte Befehl gegeben zum Abzug aus dem Gazastreifen und | |
| zur Räumung der Siedlungen, in denen insgesamt 1.800 jüdische Familien | |
| lebten. | |
| Die Regierung schickte Offiziere, um die damals schon nicht mehr ganz junge | |
| Frau und ihre Familie zum friedlichen Weggang zu bewegen. Tucker, groß und | |
| kräftig, die aus religiösen Gründen stets einen Hut trägt, konterte mit | |
| einem letzten Versuch, die Soldaten zur Befehlsverweigerung zu bewegen. | |
| "Wie kann es sein, dass ihr uns vertreiben wollt?", fragte sie und bat | |
| einen nach dem anderen zum Gespräch. Dann ging sie, ohne Widerstand zu | |
| leisten und ohne zu wissen, wohin. "Es gab noch nicht einmal genügend | |
| Busse, um uns alle wegzubringen." | |
| Zwölf der insgesamt 84 Familien aus Netzer Chasani, wo Anita Tucker zuletzt | |
| lebte, hatten schon Wochen vor dem Abzug die Siedlung verlassen. "Es hat | |
| ihnen nicht gut getan", resümiert Tucker. Nur die, die bis zum Schluss | |
| geblieben sind, können "mit sich selbst im Reinen sein". | |
| Einen seelischen Knacks haben wohl alle mitgenommen. Denn kaum war für die | |
| Siedler der traumatische Abzug vorbei, kam schon der nächste Schock. "Die | |
| Regierung hatte uns Ersatzwohnungen, Land, Schulen und Arbeit versprochen", | |
| erinnert sich Tucker, "aber es gab gar keinen Plan." Was es gab, waren | |
| Übergangslösungen. Nach einer Odyssee durch Hotels oder Gästehäuser und | |
| neun Monaten Wartezeit in einer containerähnlichen Unterkunft auf den | |
| Golanhöhen bezog Tucker schließlich ihr provisorisches Fertighäuschen im | |
| Kibbuz Ein Zurim, wo sie heute lebt. | |
| Das Haus ist einfach, mit dünnen Wänden und deutlich kleiner als die 200 | |
| Quadratmeter, die die Familie in Netzer Chasani zur Verfügung hatte. Aber | |
| es verfügt über eine Grundausstattung, außerdem leben Tuckers fünf Kinder | |
| inzwischen nicht mehr bei den Eltern. Nicht die spartanische Unterkunft ist | |
| es, was die Siedler frustriert, sondern das Gefühl einer Lähmung: "Wir | |
| können nichts tun." Viele der Siedler haben noch immer ein lebhaftes | |
| Bedürfnis, ihre Geschichte zu erzählen. In Jerusalem gibt es deshalb seit | |
| zwei Jahren das "Gusch-Katif-Museum", wo die Namen der geräumten Siedlungen | |
| in schwarzen Buchstaben an der Wand stehen, ähnlich wie in der | |
| Holocaustgedenkstätte Jad Vaschem die Namen der ausgelöschten jüdischen | |
| Gemeinden in Europa. 90.000 Besucher sollen immerhin schon dort gewesen | |
| sein. | |
| Anitas Mann, ein bescheidener, streng gläubiger pensionierter Lehrer, | |
| stellt eine Kanne mit kochendheißem Wasser auf den Tisch und bietet Nescafé | |
| an, den sich jeder selbst mischt. "Wir mussten fast alle unsere alten Möbel | |
| wegwerfen", sagt die Frau. Diese waren für die unerwartet lange Zeit nicht | |
| ausreichend gut verpackt, um Hitze und Feuchtigkeit standzuhalten. | |
| Hohe Arbeitslosigkeit | |
| Die jüdischen Siedler aus dem Gazastreifen wurden von der Regierung auf 23 | |
| verschiedene Standorte verteilt. Nur gut ein Zehntel davon hat sich | |
| selbständig gemacht. Die größte Auffangstation ist Nitzan, wenige Kilometer | |
| von Ein Zurim entfernt, wo die Siedler je nach Familienumfang in 60, 90 | |
| oder 120 Quadratmeter großen "Karavillen" leben, eine Mischung aus | |
| Wohnmobil und Fertighaus. Mehr als 50 Prozent der Leute hat bis heute keine | |
| Arbeit, der Rest ist oft nur teilzeitbeschäftigt oder für die neue Arbeit | |
| fehlqualifiziert. | |
| "Der Staat hat grundlegend und absolut versagt", hält ein von der Regierung | |
| in Auftrag gegebener Bericht zur Lage der evakuierten Siedler fest. Eliahu | |
| Matza, ehemals Richter am Obersten Gerichtshof, resümiert auf knapp 500 | |
| Seiten, dass nach fünf Jahren die Arbeitslosenrate der Siedler "15-mal so | |
| hoch ist" wie vor dem Abzug. Weniger als ein Zehntel habe angefangen, neue | |
| Häuser zu bauen. Auch die Siedler seien mit schuld an der Misere, hält der | |
| Bericht fest. Die alten Gemeinden wollten um jeden Preis zusammenbleiben. | |
| Tucker spricht von Jugendlichen mit Drogenproblemen und von Aussteigern. | |
| Immer wieder gehen ihre Gedanken zurück zur Zeit in Gusch Katif, dem | |
| Siedlungsblock im Gazastreifen, wo die Welt für sie noch in Ordnung war. | |
| Selbst über ihre palästinensischen Nachbarn spricht sie fast mit Nostalgie, | |
| über den Mufti, der sie "mit Salz und Brot" empfangen habe, und über ihre | |
| Arbeiter, die noch lange nach dem Abzug telefonisch den Kontakt gehalten | |
| hätten. | |
| "Die Regierung hatte uns nach Gaza geschickt, damit wir das Land bebauen", | |
| sagt sie. Als sie 1976 zum ersten Mal in Gaza war, habe sie nur Sand | |
| gesehen, "weit und breit kein Mensch, noch nicht einmal ein Vogel". Für die | |
| sieben Jahre zuvor aus Brooklyn/New York eingewanderte Tucker "war das hier | |
| absolut verrückt". Die orthodoxe Jüdin, die der amerikanischen Konsumwelt | |
| entfliehen wollte und der romantisch verklärten Primitivität den Vorzug | |
| gab, lächelt für einen Moment, dann wird ihr Gesicht wieder ernst. "Es geht | |
| nicht nur um die Umsiedlung", sagt sie bitter. "Alles, was wir aufgebaut | |
| hatten, ist zerstört worden." | |
| Trotzdem lässt sich die 64-Jährige nicht unterkriegen. Zusammen mit einem | |
| ihrer Söhne plant sie jetzt den Bau neuer Gewächshäuser. Die 84 Familien | |
| aus Netzer Chasani sind sich mit dem Staat über ein passendes Stück Land | |
| südöstlich von Tel Aviv einig geworden. Wenn alles nach Plan läuft, könnte | |
| Tucker in zwei Jahren in ihr neues Haus ziehen und in die neue Ortschaft, | |
| die wieder Netzer Chasani heißen soll. "Ich kann das nur, weil mein Sohn | |
| mit einsteigt", sagt Tucker. "Viele von den anderen sind in meinem Alter. | |
| Die fangen allein nicht noch mal von vorne an." Von den 400 Bauern aus | |
| Gusch Katif arbeiten heute kaum 50 wieder in der Landwirtschaft. | |
| Wenn es im Gegenzug für den Abzug aus Gaza tatsächlich einen Frieden | |
| gegeben hätte, wäre es für die meisten Siedler sicher leichter gewesen, der | |
| Regierungsentscheidung rückwirkend zuzustimmen. Doch das Gegenteil einer | |
| Befriedung trat ein. Israel zog die Truppen ohne jede Absprache mit der PLO | |
| unilateral ab und hinterließ damit ein Machtvakuum, in das sechs Monate | |
| später die Hamas nachrückte. Die düstersten Prophezeiungen des | |
| rechtsnationalen Lagers waren damit noch übertroffen worden. | |
| Als Ende Dezember 2008 der Gazakrieg begann, flogen auch Raketen auf Nitzan | |
| und Ein Zurim. Die Siedler empfanden es als den Gipfel der Absurdität. "Die | |
| Raketen kamen aus dem Gebiet, aus dem wir vertrieben worden waren." Keines | |
| der provisorischen Häuser besaß einen Bunker. Noch nicht einmal die | |
| provisorische Schule und die Kindergärten waren geschützt. | |
| Mehr Gegenwehr | |
| "Israel hat mit dem Abzug Schwäche demonstriert, es war klar, dass die | |
| Extremisten sich das zu Nutzen machen würden." Tucker kennt sich aus mit | |
| der nahöstlichen Dynamik. Der erste blutige Überfall gegen die Siedler im | |
| Gazastreifen "fand an dem Tag statt, als [der ägyptische Präsident Anwar] | |
| Sadat und [der israelische Premierminister Menachem] Begin das | |
| Friedensabkommen unterzeichneten." | |
| Die energische Bäuerin ist ambivalent, wenn sie über den Widerstand der | |
| Siedler nachdenkt. "Wir haben zwar verloren", sagt sie und fügt schmunzelnd | |
| zu, "aber wir haben ihnen einen anständigen Kampf geliefert." Vermutlich | |
| habe keiner der Siedler ernsthaft daran geglaubt, die Armee wirklich | |
| besiegen zu können. "Das wollten wir im Grunde auch gar nicht, denn wenn du | |
| die eigenen Soldaten besiegst, dann bliebe ja niemand mehr, der dich | |
| beschützt." Trotzdem glaubt sie, dass beim nächsten Mal der Widerstand | |
| heftiger sein wird, wenn die Regierung entscheiden sollte, Siedlungen im | |
| Westjordanland zu räumen. | |
| Die traurige Erfahrung der Leute aus Gusch Katif wird anderen von der | |
| Vertreibung bedrohten Siedlern eine Lektion sein. Auch die politische | |
| Entwicklung in Gaza stützt nicht unbedingt die Befürworter einer fairen | |
| Zwei-Staaten-Lösung, sondern liefert gerade den Gegnern territorialer | |
| Kompromisse Argumentationsstoff. "Es wird mehr Gegenwehr geben, mit viel | |
| mehr Leuten", glaubt Tucker, "aber damit hat sich's dann auch." | |
| 12 Aug 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Knaul | |
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