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# taz.de -- Friedensangebot an Großväter
> TRÜBE TRÄUME Eine neue große Biografie untersucht das
> „spalttablettenförmige“ Leben Gottfried Benns. Gelegenheit zur Klärung
> von Positionen
VON DIEDRICH DIEDERICHSEN
Herr Blume war ein ziemlich unterhaltsamer Deutschlehrer: streng und
streitlustig, vor allem bei seinen linken Schülern. Er pflegte den ganzen
„Woyzeck“ allein in sämtlichen Rollen aufzuführen und gab besonders schön
den Hauptmann als dämonischen Biedermann. Natürlich ließ er sich nicht
nehmen, auch die Verse „des todessüchtigen Benn“ (Brecht) vorzutragen. Bei
den berühmten Leichenschauhausszenen mit ersoffenen Bierkutschern und den
quietschenden Schnäuzchen von Ratten, die zuvor in einem menschlichen
Brustkorb Kindheitsglück erlebt hatten, konnte Blume seiner Süffisanz
Zucker geben. Am Ende des Vortrags grinste er zu uns rüber in die Ecke, wo
seine politisierten Pappenheimer saßen: „Ja, ich weiß, wir mögen Benn
nicht, ja, nicht wahr, den mögen wir nicht, nein, denn der war ja
Faschist!“
So leicht wollten wir es Herrn Blume aber nicht machen. Natürlich mag ein
Sechzehnjähriger einen Dichter, der lakonisch von Leichenschauhäusern
dichtet, vorgetragen von einem süffisanten Studienrat, der seine linken
Schüler im Gegensatz zu seinen Kollegen weder mit Ressentiments noch mit
Verständnis bekämpft, sondern mit Sarkasmus verunsichert. Noch lieber als
die „Morgue“-Gedichte und die mir damals faszinierend rätselhaft
erscheinenden großspurigen Essays der 20er Jahre („Das moderne Ich“) mit
ihren flott geleimten Nietzsche-Paraphrasen mochte ich die mondänen und
scheinbar welthaltigeren Gedichte mit Kokain, Cafés, D-Zügen und
Côte-d’Azur-Szenen.
Ich wusste nicht, dass Benn das Meiste davon genauso nur geträumt hatte,
wie ich 1973 von den zwanziger Jahren fantasierte und mich mit Sätzen
identifizierte wie: „Wir haben müdes Blut, Herr von Wenck, wir brauchen
Sensationen besonderer Art, um das Leben ertragen zu können“ (so eine
Gräfin bei Fritz Lang). Benn hielt ich instinktiv irgendwie für einen von
uns, einen linken Dandy oder so etwas. Dass er mal kurz die Nazis
unterstützte, verzieh unsere kleine Clique von Expressionistenbewunderern
interessanterweise problemlos. Stattdessen trugen wir allen Ernstes
Benn-Strophen auf den Lippen: „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der
Mensch“ oder auch: „Du musst dir alles geben. Götter geben dir nicht.“ D…
sahen wir auch so.
## Lebenswelt und Haltung
Vier Jahre später belegte ich ein Uni-Seminar bei Professor Udo Köster.
Konservative deutsche Schriftsteller vor dem Faschismus: Mann, Benn,
Jünger. Den Titel des Seminars empfand ich als Provokation: Benn –
konservativ? Ein Mann der Drogen und der Ausschweifung, der den
romantischen Schmus des Bürgergeschmacks in nihilistische Fäulnis tunkte?
Thomas Mann? Klar! Jünger? Schlimmer als konservativ! Aber Benn? Ich hielt
ein Referat, in dem ich die These vertrat, dass Benn als geborener Linker
lediglich an der engstirnigen Parteilinken gescheitert und schließlich mehr
oder weniger aus purer Provokationslust in den Reihen der Nazis gelandet
sei. Dabei stützte ich mich bei der Einschätzung Benns als Linken, ähnlich
wie schon sein ab 1933 dann besonders untröstlicher Bewunderer Klaus Mann
wie aber auch Holger Hof in seiner neuen Benn-Biografie „Der Mann ohne
Gedächtnis“, auf Benns leidenschaftliche Intervention gegen den Paragrafen
218, in der er bewegend das Elend illegal abtreibender Proletarierinnen
schildert. Da kannte der Kreuzberger Kassenarzt sich aus.
Für Hof ist Benn ein linker Schriftsteller, weil er während der 20er vor
allem im linken Milieu verkehrte, einen antibürgerlichen Lebensstil
pflegte, in linken Zeitschriften und bei linken Verlagen publizierte und
sich erst gegen Ende des Jahrzehnts über einen Streit über Rolle und
Funktion des Schriftstellers mit Egon Erwin Kisch und dem späteren
DDR-Kulturminister Johannes R. Becher langsam, aber sicher aus diesem
Milieu herausschreibt. Er stilisiert sich nun zum Bewohner eines ewigen
Reichs der Kunst, das über dem trüben Treiben der Tagespolitik und des
Immergleichen thront: „Die Armen wollen rauf, die Reichen wollen nicht
herunter.“ Da wird dann auf eher niedrigem Niveau ziemlich undialektisch
zwischen realistischer Eingriffsethik und einer hochmögend überhistorischen
Olympieranmaßung gestritten, während genau diese Debatte durch Lukács,
Benjamin, Brecht auf der politisierten Seite ganz andere Gegner für Benn zu
bieten gehabt hätte als den biederlinken Becher.
Benn ist für Hof, nicht unähnlich der Diagnose Klaus Theweleits, ein Autor,
der von äußeren Anlässen angeknipst werden muss, um dann wie wild zu funken
und zu senden und produktiv zu sein. Geschieht dies nicht, sumpft er allein
in bürgerlichen Bierlokalen rum oder dumpft in seiner elenden Haut- und
Geschlechtskrankheiten-Praxis vor sich hin. Diese Schwermut, diese
Depression, dieser Nihilismus und die eskapistischen Träume von einer
mondän-mediterran oder einer überhistorisch kosmischen Perspektive liefern
aber auch in diesen angeknipsten Phasen die Inhalte. In Gang gebracht wird
der „spalttablettenförmige“ (Monika Rinck) Lyriker aber entweder, und zwar
recht häufig, durch auf ihn und seine opiumschweren Lider fliegende Frauen
oder, seltener, durch die Kettenreaktionen öffentlichen Zuspruchs.
Letzteres lieferte punktuell die expressionistische Boheme der frühen 20er
und später üppiger die BRD der Adenauer-Jahre. Am folgenreichsten aber war
wohl die Wahl in die Sektion für Dichtkunst der Akademie der Künste im
Jahre 1931, die, so Hofs These, Benn schließlich auch dazu brachte, zum
Parteigänger der Nazis zu werden, der erst im Laufe des Jahres 1934 so
langsam seinen Irrtum zu begreifen beginnt und sich schließlich in die
Existenz eines Militärarztes in die Provinz nach Hannover zurückzieht, wo
dann Oden an das Bier entstehen.
Professor Köster war damals nicht einverstanden mit meiner Deutung. Ich
müsste den Dichter schon ganz schön verbiegen, wenn ich aus Benn einen
Linken machen wollte. Heute würde ich ihm recht geben: Das Antibürgerliche
wird von bürgerlichen Jugendlichen tendenziell überschätzt. Auch das
empathisch geschilderte Arbeiterinnen-Elend ist nicht der zentrale Einsatz
des Paragraf-218-Aufsatzes. Das ist viel eher ein nietzscheanisch
empfindender Ekel vor christlicher Ethik, und zwar vor ihrem Einsatz für
das schwache Leben, nicht vor ihrer Sexualfeindlichkeit, ihrem Patriarchat,
ihrem Sexismus. Das Einzige, was Benn mit dem Milieu der
asphaltliterarischen Boheme teilt, sind in der Tat Lebensstilentscheidungen
– und dies sind eher die Trink- und Fickgewohnheiten, die der normale
Spießermann immer schon am Leben unabhängiger Junggesellen angenehm fand.
Seine eindrucksvoll melancholischen Lider waren wohl eher schwer vom Bier
als vom Opium.
Es sei ein ganz neuer Benn, den Holger Hof uns zeichnet, wirbt der Verlag.
Ich würde eher sagen, es ist der einzige, den es gab, aber auf solidere
Fundamente gestellt. Erstmals sind bisher unausgewertete Notizbücher
herangezogen worden. Nicht mehr allein die Selbststilisierung in Briefen
und autobiografischen Aufzeichnungen, sondern Notate im Range von
Einkaufszettel und To-do-Listen stellen Deutungen, die schon andere Autoren
wie Klaus Theweleit und Helmut Lethen geliefert haben, auf den Boden
banaler Berliner Tatsachen. So wird dann auch klar, dass man nach einem
antibürgerlichen Programm, einer nur später abhandengekommenen Position
lange suchen kann. Benns Stärke ist gerade seine Unzuverlässigkeit, seine
gelegentlich selbstgefällige, aber auch tatsächlich viel geprüfte Neigung,
sich im eigenen Elend zu verschanzen – und dann rasant ins Kosmische
abzudriften. Der Mann brauchte poetische Sensationen besonderer Art, um das
Leben aushalten zu können.
Da lief nichts ohne unmittelbaren Draht zu den alten Dorern und modernen
Fürstenhäusern, Abgründen der Astronomie und den kalt ertragenen Schrecken
ärztlicher Pflichten. Wer mit Psychologie und Politikwissenschaft, mit
Soziologie und Geschichte und anderem humanistischen Gesumse irgendetwas im
kalten Kosmos verstehen wollte, war ein unmännlicher Träumer, der nicht den
Mut hatte, sich den naturwissenschaftlichen Fakten zu stellen. Die einzige
Möglichkeit menschlichen Planens ist der direkte Griff ins Erbmaterial, ist
die Züchtung. Das war dann der zweite Grund – nach dem Glauben, als
Akademiemitglied nur staatsloyal die deutsche Kunst bewahren zu können –,
warum er mit den Nazis ging. Für Züchtung hatte er sich schon länger
interessiert: Das war doch eine Nummer größer als Geschichte.
Hof ist sehr gut darin, den armen Benn zwischen den Tiefpunkten seines
Lebens – Selbstmord der zweiten Ehefrau aus Angst vor der nahenden Roten
Armee – und den Höhepunkten als einen zu schildern, der sein Schicksal so
wenig versteht, wie er dies generell Menschen zubilligt. Warum ihn etwa das
Adenauer-Deutschland bis hin zu den süffisanteren unter seinen Studienräten
so sehr liebte, dass Benn meinen konnte, Adorno sei auf ihn „geflogen“,
wird in knappen, eleganten Schilderungen evident.
Was mir dennoch gefehlt hat, ist eine Erklärung, was nicht nur mich als
Jugendlichen, sondern nach 1989 noch einmal eine ganze Generation von
Autoren und Lesern zwischen neobürgerlich und posthistorisch an den in der
Summe doch trüben Träumen des Dr. Benn angezogen hat. Müdes Blut? Oder doch
ein Friedensangebot an Großväter, die zwar vieles falsch gemacht haben,
aber mit denen man auf der Ebene hart lakonischer Coolness und exquisiter
Räusche doch etwas gemeinsam haben will? Kontinuität des Hauptstadtkoksens?
■ Holger Hof: „Gottfried Benn – Der Mann ohne Gedächtnis“. Klett-Cotta,
Stuttgart 2011, 540 Seiten, 26,95 Euro
17 Dec 2011
## AUTOREN
DIEDRICH DIEDERICHSEN
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