# taz.de -- Freie Liebe und Sojawürstchen | |
> Das „Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“ in Belzig strebt | |
> nach der Harmonie der Geschlechter. Sektenexperte warnt vor „Liebesbiotop | |
> für späte Mädchen“ ■ Von Kirsten Küppers | |
Bernd ist grün vor Eifersucht. Anstatt wegen seiner Freundin Andrea | |
durchzudrehen, trällert er seinen ungefähr fünfzig Mitbewohnern eine | |
italienische Arie vor. Danach könnte man ja auch noch eine Runde auf der | |
Partnerschaukel schaukeln, denn „Leben ist Schwingung“. Business as usual | |
im „Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“ (ZEGG) in Belzig. | |
Zwanghafte Monogamie, Spießbürgermoral und Eifersuchtsdramen haben auf dem | |
15 Hektar großen Gelände nichts zu suchen, schließlich nennt man sich ein | |
„gewaltfreies Kulturmodell“. Als Angebot lockt ein Leben mit mehreren | |
unverkrampften Partnern ohne Eifersucht mit immer neuem Sex in der | |
Öffentlichkeit der Gemeinschaft, gepaart mit einem ordentlichen Schuß | |
Esoterik. | |
Das gefiel auch Christa Falkenstein. Frustriert, daß alle ihre | |
Partnerschaften über kurz oder lang in die Brüche gingen, wollte die | |
dunkelhaarige Mittvierzigerin nicht als Großstadtsingle in Hannover | |
versauern. Sie zog letzten Sommer ins ZEGG. „Hier kann ich sexuelle | |
Kontakte zu anderen Männern pflegen, ohne meine jetzige Beziehung zu | |
gefährden“, erzählt die braungebrannte Frau. | |
Die Frage „Was läßt die Liebe sterben?“ ist das zentrale Thema für die | |
überwiegend über 30jährigen ZEGG-Bewohner, die allesamt Narben von | |
mißglückten Romanzen mitbringen. Doch das ZEGG bedeutet für sie auch mehr. | |
„Wir haben Mitgefühl mit der Erde“, meint Falkensteins Kollegin Ina | |
Meyer-Stoll, während sie an einem Sojawürstchen knabbert, das vom veganen | |
Grillabend übrig geblieben ist. Das Prinzip des gewaltfreien Umgangs | |
beziehe sich nicht nur auf Paarprobleme, sondern auch auf den Umgang mit | |
Tieren und Pflanzen, denn „die Pflanzen sind unsere Genossen“. | |
Darum gibt es seit 1991 auf dem ehemaligen Stasi-Ausbildungsgelände, 80 | |
Kilometer südwestlich von Berlin, neben freier Liebe auch eine eigene | |
biologische Pflanzenkläranlage und eine Töpferei. Die grauen Gebäude haben | |
die neuen Eigentümer aus dem Westen mit türkisfarbenem, rotem und blauem | |
Anstrich aufgepeppt. Jetzt dienen sie als Wohnhäuser, als Kinderhaus für | |
die rund 20 Kinder, als Hotel und Tagungshaus. | |
Das ZEGG sieht sich nicht als Kommune, sondern als „Gemeinschaft“ mit | |
selbständigen Firmen auf dem Gelände, wie einem Verlag oder dem Buchladen, | |
in denen einzelne Bewohner für Lohn arbeiten. Es gibt keine | |
Gemeinschaftskasse. Jeder muß monatlich 600 Mark Miete zahlen und 250 Mark | |
für das „organische“ Essen. | |
Einen Großteil seiner Einkünfte erwirtschaftet das ZEGG mit der | |
Unterbringung und Verpflegung von Gästen des Seminarbetriebs. Ein | |
umfassendes Programm mit Kursen zu den „sieben Entwicklungsstufen der | |
Liebe“, „Lehmbau“ oder „Göttinnen“ zieht das ganze Jahr über ZEGG- … | |
Neugierige vor allem aus der akademischen Alternativszene nach Belzig. | |
Einige Menschen, die hinter dem ZEGG ein Eros-Center vermuteten, verirrten | |
sich auch schon mal auf das Gelände. Besonders, als die SuperIllu die | |
Gemeinschaft als „Sex-Camp im Stasi-Lager“ vorstellte. „Die haben aber | |
schnell gemerkt, daß sie hier an der falschen Adresse sind“, kichert die | |
zierliche Ina Meyer-Stoll. | |
Das ZEGG geriet oft ins Kreuzfeuer der Kritik: Immer wieder traf die | |
Gemeinschaft der Vorwurf, eine Sekte zu sein. Pfarrer Thomas Gandow, | |
Sektenbeauftragter der Evangelischen Kirche, ordnet das ZEGG als | |
„Psycho-Organisation“ ein. Er spricht von einem „Liebesbiotop für späte | |
Mädchen“. | |
Aus der linken Szene wurden dem ZEGG unter anderem patriarchalische, | |
hierarchische und sexistische Strukturen vorgeworfen. In linken | |
Publikationen gilt das ZEGG als „ein Mittelding zwischen reaktionärem | |
Religionsersatz und der New-Age-Version des Club Méditerrané“. Das an eine | |
Hauswand gepinselte Zitat „Die ganze Biosphäre beginnt zu jubeln, wenn die | |
ersten Menschen auf diesem Planeten in einen neuen Zustand der Liebe | |
eintreten“ erinnert denn auch ständig als Gebot an den geistigen Führer der | |
Gemeinschaft, Dieter Duhm – laut Pfarrer Gandow ihr „Chefideologe“. | |
Der habe die Gemeinschaft zwar „sehr stark geleitet“, gibt Ina Meyer-Stoll | |
zu, sei aber weder „autoritär“ noch „Sex-Guru“, sondern nur „Inspira… | |
Duhm habe nie in Belzig gewohnt und lebe jetzt im „planetarischen | |
Heilungsbiotop“ in Portugal. Er komme bei großen Veranstaltungen zu Besuch. | |
Mit dem Ideengeber Duhms, dem Wiener Aktionskünstler Otto Mühl und seiner | |
„Friedrichshof- Kommune“, in der aus freier Liebe der Zwang zum wahllosen | |
Vögeln nach computererstellten „Ficklisten“ wurde, wollen die ZEGGianer | |
auch nichts zu tun haben, selbst wenn Mühl inzwischen nicht mehr wegen | |
Kindesmißbrauchs im Knast sitzt. Pfarrer Thomas Gandow beharrt trotzdem | |
darauf, daß Verbindungen zwischen Mühl und ZEGG bestehen. | |
Doch in die Sektenschublade paßt das ZEGG nicht. Zu sehr betonen die | |
Bewohner die Notwendigkeit, eigenes Handeln kritisch zu hinterfragen. | |
Entscheidungen würden basisdemokratisch und nach Konsensprinzip gefällt, | |
versichert Ina Meyer-Stoll. Es habe sich eher eine Hierarchie der Experten | |
herausgebildet. | |
„Der reale Hunger wird nicht beseitigt werden, solange der Hunger nach | |
Liebe nicht gestillt ist“: Solche ZEGG-Äußerungen nährten in linken Kreisen | |
den Verdacht, ZEGG wolle mit freiem Sex die Welt retten. Christa | |
Falkenstein sieht das jedoch ganz realistisch: „Flüsse kriegt man nur | |
sauber, indem man sie sauber macht – und nicht, indem man vögelt.“ | |
Doch die Behauptung, das ZEGG reduziere die Frauen auf ihre Verfügbarkeit | |
für den Mann, hält sich hartnäckig. „Ich liebe die Frauen wie meinen | |
Automotor“, ist etwa in ZEGG-Magazinen zu lesen. In seinen „Politischen | |
Texten“ entdeckte Dieter Duhm Frauen als „natürliche Anlaufstelle für | |
Männer“ sowie als „sexuellen und seelischen Pool“. | |
Derzeit steigt das jährliche Sommercamp mit rund 250 Gästen, die in kleinen | |
weißen Zelten neben dem „Campus“ wohnen. Unter dem Motto: „Liebe ist voll | |
gelebtes Leben“ findet hier für den Preis von müden 800 Mark zehn Tage lang | |
„Glücksforschung“ und „Heimat auf dem Planeten“ statt. Wer dann noch G… | |
übrig hat, kann für 500 Mark einen Sommerkurs „Touching Me Softly“ | |
besuchen. | |
Vorher findet aber noch die „Fensterstreichaktion“ statt. Etwa 35 Leute | |
schmirgeln in kleinen, über das ganze Gelände verteilten Grüppchen | |
euphorisch Hunderte Fensterrahmen ab. Sie bekommen dafür keinen Pfennig, | |
aber Kost aus der Lehmküche und Logis im Zeltcamp gratis. Der 42jährige | |
René Lind mit den langen grauen Haaren und dem Ringelshirt ist Künstler aus | |
Frankfurt und erfüllt sich mit Schmirgeln gerade einen „Urtraum“. Ein | |
Automobilkonstrukteur aus Rüsselsheim will mit dem Fensterstreichen zur | |
„Heilung der Erde“ beitragen. Immerhin ist das Fensterstreichen kostenlos. | |
Beim „Einkoch-Workcamp“ im Herbst müssen die Teilnehmer pro Tag 25 Mark | |
zahlen, um für das ZEGG Gemüse einzukochen. Kirsten Küppers | |
Sonntags zwischen 15 und 18 Uhr kann man das ZEGG unangemeldet besuchen. | |
Treffpunkt für eine Führung ist um 15 Uhr die Dorfkneipe. Information: | |
Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG), Rosa-Luxemburg- | |
Straße 89, 14806 Belzig, Telefon (033841) 59510 | |
8 Aug 1998 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Küppers | |
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