| # taz.de -- Frauenärztin über Jungfernhäutchen-Rekonstruktion: "Welches Frau… | |
| > Mehr durch Zufall kam die Gynäkologin Christiane Tennhardt dazu, die | |
| > Technik der Hymenrekonstruktion zu erlernen. Mit ihrer Arbeit unterstützt | |
| > sie eine Doppelmoral, die sie eigentlich ablehnt. | |
| Bild: Die Beratungen sollen die Frauen überzeugen, von einer Operation abzuseh… | |
| taz: Frau Tennhardt, die Wiederherstellung der Jungfräulichkeit gehört | |
| nicht unbedingt zum gynäkologischen Alltag. Wie sind Sie zu dieser Praxis | |
| gekommen? | |
| Christiane Tennhardt: Das war eher ein Zufall. Meine beiden ersten | |
| Rekonstruktionen habe ich Mitte der Neunzigerjahre als Folge einer | |
| psychiatrischen Indikation an zwei relativ jungen Mädchen vorgenommen. Die | |
| hatten sich verliebt, wurden sitzen gelassen und hatten Angst, es würde | |
| herauskommen, dass sie schon einmal mit einem Jungen geschlafen hatten. Sie | |
| landeten wegen einem Selbstmordversuch in der Kinderpsychiatrie, und die | |
| Psychiater fragten bei uns an, ob wir das nicht wieder "hinbiegen" könnten. | |
| Damals betreute ich eine Spezialsprechstunde, in der Fälle landeten, die | |
| nicht richtig einzuordnen waren. Eine Oberärztin aus den USA, die gerade zu | |
| Besuch war, zeigte mir, wie der Eingriff vorgenommen wird, und dann haben | |
| wir das eben gemacht. Qualitätsgesicherte Standards gibt es aber bis heute | |
| nicht. | |
| Mittlerweile gilt "Balance" als eine Anlaufstelle für Mädchen und Frauen, | |
| die einen entsprechenden Eingriff machen lassen wollen. Handelt es sich um | |
| Muslima oder suchen auch Frauen aus anderen Kulturkreisen Hilfe? | |
| Die meisten Frauen sind zwischen 17 und 25 Jahre alt und haben einen | |
| muslimischen Hintergrund. Aber um nicht falsch verstanden zu werden: Die | |
| Frauen sitzen ohne Kopftuch vor mir, und alle sprechen so gut Deutsch, dass | |
| ich nicht mehr höre, woher sie kommen. Die betroffenen Frauen leben | |
| eigentlich ganz westlich, und plötzlich "passiert" es, sie kommen in diese | |
| dumme Situation. | |
| In welche Situation? | |
| Nun, die typische Geschichte läuft folgendermaßen ab: Die Mädchen verlieben | |
| sich in einen jungen Mann und haben die Vorstellung: Das ist er. Um ihn | |
| nicht zu verlieren, schlafen sie mit ihm. Dann merken sie, dass es doch | |
| nicht der Richtige war, und sie setzen sich ab oder der Junge verlässt sie. | |
| Oft folgen dann mehrere Jahre, in denen nichts passiert, und schließlich | |
| kommt ein neuer Mann, mit dem sie sich die Ehe vorstellen können - und | |
| damit beginnt der Druck. In meiner Sprechstunde erzählen sie dann, sie | |
| stünden kurz vor der Hochzeit, hätten schon Verkehr gehabt, und fragen | |
| mich, was sie jetzt tun sollen. | |
| Warum haben diese Frauen überhaupt den Wunsch, ihr Hymen wiederherstellen | |
| zu lassen? | |
| Das intakte Hymen gilt in ihrer Kultur als Zeichen der Jungfräulichkeit. | |
| Manchmal ist der Bräutigam traditionell eingestellt und ihm ist es wichtig, | |
| eine Jungfrau zu heiraten. Manchmal kommt der junge Mann aber sogar mit in | |
| die Beratung. Dann sind es die Eltern der Frau oder die künftigen | |
| Schwiegereltern, die erwarten, dass sie in der Hochzeitsnacht das Zeichen | |
| der Jungfräulichkeit liefern. | |
| Was da wäre? | |
| Das Blut. | |
| Das wäre, wenn der Partner mitspielt, aber doch auch anders zu | |
| bewerkstelligen? | |
| Viele der betroffenen Frauen haben die Vorstellung, das Blut, das aus dem | |
| Jungfernhäutchen kommt, sei ein anderes als das aus ihrem Körper und dass | |
| man das auch erkennen kann. Die Großmütter sagen ihnen, es gebe ein Mittel, | |
| das man auf das Blut streicht, um festzustellen, um welches Blut es sich | |
| handelt. Zum Beratungsgespräch gehört deshalb zunächst eine genaue | |
| anatomische Aufklärung. Ich zeige den Frauen, wo sich was befindet und wie | |
| es aussieht. Es gibt Hymen, die klein und schmal sind, andere, die sich | |
| wulstig auswölben, und wieder andere, die sehr elastisch sind. Deshalb, und | |
| auch darüber klären wir auf, ist ein scheinbar "unbeschädigtes" Hymen | |
| überhaupt kein Beweis für Jungfräulichkeit. Ebenso wie ein "beschädigtes" | |
| nicht unbedingt darauf zurückzuführen ist, dass das Mädchen oder die junge | |
| Frau schon Sexualverkehr hatte. Solche medizinischen Diagnosen sind gar | |
| nicht haltbar, nur wissen das selbst viele Gynäkologen nicht, manchmal mit | |
| fatalen Folgen. | |
| Was wird bei einer Hymenrekonstruktion gemacht? | |
| Es gibt unterschiedliche Methoden: Ich habe bislang nur eine | |
| Rekonstruktionsart gesehen und diese benutzen wir. Dabei wird an den | |
| Kerben, die innerhalb des Hymenalsaumes auftreten, mit dem Skalpell eine | |
| neue Wunde gesetzt. Mit einem sehr dünnen Faden wird diese Wunde zugenäht. | |
| Dadurch entsteht wieder ein "intakter" Saum. Das heißt nicht unbedingt, | |
| dass die Frau beim nächsten Verkehr blutet. Nicht alle Frauen bluten beim | |
| ersten Verkehr, da können Sie in Ihrem Freundinnenkreis herumfragen. Welche | |
| Techniken andere Ärzte und Ärztinnen benutzen, weiß ich nur von | |
| Erzählungen. So gibt es eine Technik, bei der unmittelbar vor der | |
| Hochzeitsnacht ein kleines Blutpolster am Scheideneingang eingepflanzt | |
| wird. Durch die Reibung und den Druck geht das Polster kaputt und gibt eine | |
| rote Flüssigkeit frei. | |
| Ist der Eingriff gefährlich? | |
| Nein, gefährlich ist unsere Technik nicht, die Scheidenhaut ist wunderbar | |
| elastisch und sehr strapazierfähig. Was wir machen, ist problemlos. Ich | |
| selbst habe aber auch keine Lust, aufwendigere OP-Techniken zu erlernen. | |
| Wir bestellen die Frauen, die unbedingt eine Rekonstruktion wollen, vier | |
| bis sechs Wochen vor der Hochzeit ein, garantieren aber nicht, dass sie in | |
| der Hochzeitsnacht dann wirklich bluten. | |
| Das klingt eher distanziert Ihrer eigenen Tätigkeiten gegenüber. | |
| Wir versuchen auf jeden Fall dahingehend zu beraten, eine Operation zu | |
| vermeiden, aus den bereits erwähnten Gründen. Aber jede fünfte Frau | |
| entscheidet sich dann doch für eine OP. Und wenn ich mir vergegenwärtige, | |
| was Jungfräulichkeit bedeuten soll, denke ich manchmal, welchen Mist mache | |
| ich da, welches Frauenbild unterstütze ich eigentlich? Man tut es eben, | |
| obwohl man nicht dahintersteht. Schadensbegrenzung. Aber es ist eine | |
| absurde Situation. | |
| Sie sagen Schadensbegrenzung. Sind die Frauen, die zu Ihnen kommen, | |
| bedroht? | |
| Wir fragen in der Beratung immer, was passiert, wenn wir die OP nicht | |
| machen, und wenn herauskommt, dass die Frauen nicht mehr Jungfrau sind. Als | |
| Allererstes kommt dann immer der Islam. Wenn man mit den Frauen intensiver | |
| spricht, sagen sie plötzlich: "Das kann ich meiner Mama oder meinem Papa | |
| nicht antun." Sie schämen sich und haben Angst davor, ihre Eltern zu | |
| verletzen. Das ist so ähnlich, wie wir früher gesagt bekamen: "Wenn du | |
| schwanger nach Hause kommst, kannst du schauen, wo du bleibst." Und ihre | |
| Furcht, die Familien zu gefährden und zu enttäuschen, ist sehr stark, weil | |
| die Jungfräulichkeit für die muslimischen Familien noch eine große | |
| Bedeutung hat. Ich hatte ein längeres Gespräch mit einer jungen Frau, die | |
| zwangsverheiratet werden sollte. Sie überlegte, die Familie zu verlassen, | |
| hat sich dann aber dagegen entschieden. Eine andere Identität anzunehmen, | |
| mit ihrem nichtmuslimischen Freund weit weg von Berlin zu leben, weg von | |
| der Familie, dieser Preis war ihr einfach zu hoch. Die Familie hat da noch | |
| ein stärkeres Gewicht. | |
| Aber ist es nicht so, dass die Familien durchaus Bescheid wissen? | |
| Sie wollen nichts davon wissen. Selbst in Ländern wie Tunesien, das hat die | |
| in Zürich arbeitende Dr. Verina Wild in ihrem Forschungsprojekt | |
| herausgefunden, wissen die Familien eigentlich vom "Fehlverhalten" ihrer | |
| Töchter, doch sie tun so, als wüssten sie nichts davon. Unsere | |
| Sexualpädagogen berichten auch, dass Mädchen, die als Jungfrau in die Ehe | |
| gehen sollen, öfter nach Analverkehr fragen oder was sie sonst tun können, | |
| um den Jungen halten und dennoch Jungfrau bleiben. Die Doppelmoral liegt | |
| auf beiden Seiten. | |
| Es gibt aber auch Fälle, wo Missbrauch in den Familien im Spiel ist. | |
| Ja, durchaus. Wenn Frauen erzählen, dass sie, seitdem sie elf sind, nicht | |
| mehr Jungfrau sind, müssen wir von Missbrauch ausgehen. Wir versuchen, die | |
| Frauen dann an die entsprechenden Beratungsstellen weiterzuvermitteln, weil | |
| die Hymenrekonstruktion ja nur ein sekundäres Problem ist. Oft sind die | |
| Frauen traumatisiert und auch tatsächlich bedroht. | |
| Wie gehen die Frauen mit der Gefahr um, schwanger zu werden? | |
| Überraschend viele Frauen, die zu uns kommen und die einen festen Freund | |
| haben oder hatten, verhüten. Sie sind sehr darum bemüht, dass sie nicht | |
| schwanger zu werden. Aber wir haben hier in Berlin auch gute Strukturen, | |
| die das ermöglichen, weil hier alles anonymer ist. Viele junge deutsche | |
| Frauen kommen ja auch aus der Provinz hierher nach Berlin, um ihre | |
| Schwangerschaft abbrechen zu lassen, weil sie sich das im Dorf nicht | |
| trauen. | |
| Das heißt, die Anonymität erleichtert den Zugang zu Ihrer Beratungsstelle | |
| auch im Falle von Hymenrekonstruktionen. Gesicherte Zahlen gibt es nicht, | |
| aber haben Sie den Eindruck, die Nachfrage steigt? | |
| Ob es mehr werden, kann ich nicht sicher sagen, zumindest senkt die | |
| Anonymität, die das Internet sichert, die Hemmschwelle. Wir bekommen | |
| mehrmals in der Woche Anfragen per Mail. Die Mädchen können anonym bleiben, | |
| das ist ein Vorteil, wir garantieren die Anonymität auch in der Beratung, | |
| wenn sie das wollen. Allerdings zücken dann doch die meisten ihre | |
| Krankenkassenkarte, um die Untersuchung offiziell abzurechnen. Bei | |
| "Balance" wird eine OP, wie gesagt, nur ungern gemacht. Wir wollen kein | |
| Geld damit verdienen. Bei uns waren es vielleicht 30 bis 40 | |
| Hymenrekonstruktionen in den letzten vier Jahren, sie sind ein Nebenaspekt | |
| unserer Arbeit. Da der Eingriff bei uns minimal-invasiv ausgeführt wird, | |
| ist er relativ billig, deshalb landen bei uns vor allem Frauen mit | |
| finanziellen Problemen. Es gibt aber auch Kollegen, die darauf | |
| spezialisiert sind. Die ziehen den Eingriff, ohne viel zu fragen, durch und | |
| nehmen 1.000 bis 2.000 Euro dafür. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse in | |
| keinem Fall. | |
| Sie haben angedeutet, dass Sie mit Ihrer Arbeit eine Doppelmoral stützen, | |
| die Sie eigentlich ablehnen. Was würden Sie jungen Frauen sagen, die | |
| darüber nachdenken, ihre Jungfräulichkeit chirurgisch wiederherstellen zu | |
| lassen? | |
| Ich würde ihnen sagen, dass man eine Beziehung, aus der auch einmal Kinder | |
| entstehen sollen, grundsätzlich nicht mit einer Lüge beginnen sollte. Wir | |
| versuchen ja zu erreichen, dass die Frauen offen mit dem "Problem", das | |
| selbst in den Peer-Groups tabuisiert ist, umgehen. Es ist wichtig, die | |
| Frauen zu bestärken, dass sie über ihre Sexualität bestimmen und sonst | |
| niemand. Hier könnte die Aufklärungsarbeit in den Schulen viel leisten. | |
| INTERVIEW: ULRIKE BAUREITHEL | |
| 14 Jun 2009 | |
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