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# taz.de -- Frank und frei nach fünfzig Jahren
> ■ Das Tagebuch der Anne Frank wird neu herausgegeben – ohne Zensur des
> Vaters
Die amerikanische Schriftstellerin Daphne Merkin berichtet in ihrem Beitrag
zu dem Erinnerungsband „Testimony“, daß Anne Franks Tagebuch ihr als Kind
jüdischer Überlebender des Holocaust zu einer Teenager-Identität verhalf,
die sonst unter der übermächtigen Last der elterlichen Erinnerungen kaum
Chancen hatte. „Sie zeigte mir, daß man mitten im Ansturm der Nazis leben
und trotzdem die eigene kleine Angst, Streitereien mit Mutter und
Schwester, giftige Bemerkungen über die Nachbarfamilie ernst nehmen konnte.
Noch besser: man konnte aus dem Holocaust als literarische Heldin
hervorgehen!“
Merkin und die vielen anderen, für die die Tagebücher der Anne Frank eine
ähnliche Stütze abgaben, können sich auf weiteres Material freuen. Es
stellt sich nämlich heraus, daß ihr Vater, Otto Frank, der die Tagebücher
1947 herausgegeben hatte, etliche „Stellen“ für nicht publikationswürdig
erachtet und entsprechend gekürzt hatte, und zwar um ganze dreißig Prozent.
25 Millionen Exemplare wurden mittlerweile von dieser gekürzten Version
verkauft. Anne Franks Cousin, der in Basel lebende Buddy Elias, sagte
gegenüber dem Londoner Independent, es sei an der Zeit, den Menschen die
Wahrheit über Anne Frank zu sagen. „So, wie es jetzt ist, ungekürzt, zeigt
es Anne, wie sie wirklich war, nicht als Heilige, sondern als normales
Mädchen. Sie war eigentlich niemand, allerdings mit Talent.“
Gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer Schwester Margot war sie,
dreizehnjährig, im Juli 1942 in ihr Versteck in einem Amsterdamer Kaufhaus
gezogen, wo sie zwei Jahre mit einer anderen Familie, den Van Daans
zusammen hausten. Irgendwann war auch noch ein Zahnarzt namens Fritz
Pfeffer hinzugekommen, den Anne „Alfred Dussel“ getauft hatte. Auch an
anderen Stellen, die der Vater gekürzt hatte, erweist sie sich als
altersgemäß schnippisch: „Gestern zogen mich alle auf, weil ich neben Herr
van Daan auf dem Bett gelegen hatte. ,In deinem Alter‘, hieß es, ,das ist
ja skandalös!‘ Und andere Dummheiten dieser Art. Es würde mir nicht im
Traum einfallen, mit Herr Van Daan zu schlafen, jedenfalls nicht so, wie
sie denken.“
Bemerkungen über ihre herannahende Periode fand der Vater ebensowenig
tauglich für die vierziger Jahre wie ein Gespräch mit Peter van Pels, in
den sie sich verliebt hatte. „Peter, es gibt das deutsche Wort
Geschlechtsteil, obwohl es für das männliche und das weibliche noch mal
zwei unterschiedliche Namen gibt. Das weibliche heißt Vagina, aber wie
heißt das männliche?“ „Hmm.“ „Nun ja“. „Woher sollte man das auch…
Kam der Urin aus der Klitoris? Was sollte man eigentlich mit all den vielen
Lippen anfangen – alles Fragen, die dem Vater nicht so recht in den Kram
paßten.
Der Nachwelt verheimlichen wollte Otto Frank auch Überlegungen wie diese,
niedergeschrieben etwa einen Monat später: „Peter sagt, er könne niemals
wie ein Christ fühlen, aber nach dem Krieg würde er niemanden merken
lassen, daß er Jude ist. Das gab mir einen Stich. Es ist eine Schande, daß
er immer noch so eine unehrliche Seite hat.“ Wenig später waren die
Gespräche mit Peter offener geworden, und er hatte ihr mitgeteilt, daß er
zu der Auffassung gelangt sei, die „offene Stelle“ am Körper einer Frau sei
nichts als eine Auslassung auf den entsprechenden Zeichnungen. Er wollte
ihr partout nicht glauben, daß so eine Sache sich tatsächlich zwischen den
Beinen einer Frau befände. „Der Abend endete in einem Kuß, nahe des
Mundes.“
Nicht überlieferungswürdig erschien dem Vater auch eine Bemerkung, die ihn
selbst betraf, und die schlicht das gewöhnliche ödipale Dilemma offenbart:
„Diese ganzen Kosenamen, [bei denen die Eltern sich rufen] sind irgendwie
peinlich. Auch daß Vater so gern über Furzen und zum Klo gehen redet, ist
ekelhaft.“
Im August 1944 enden die Eintragungen. Die SS hatte das Versteck entdeckt
und seine Bewohner nach Westerbork gebracht, von wo aus sie mit dem letzten
Transport nach Auschwitz deportiert wurden. Nur Annes Vater überlebte;
seine Tochter war im Februar oder März des letzten Kriegsjahres gestorben.
Bis 1980, so schreibt der Independent, hatte Herr Frank sein Leben dem
Andenken seiner Tochter gewidmet. Mariam Niroumand
24 Oct 1996
## AUTOREN
Mariam Niroumand
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