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# taz.de -- Erschossener Anwalt in der Türkei: Neue Erkenntnisse im Fall Tahir…
> Bis heute ist nicht aufgeklärt, wer den kurdischen Anwalt 2015 erschossen
> hat. Nun identifiziert eine Londoner Analyse drei potenziell
> tatverdächtige Polizisten.
Bild: Die 3D-Simulation zeigt die Schussrichtung der Polizisten (in blau, Tahir…
Am 28. November 2015 hält der Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi im
südosttürkischen Diyarbakır eine Presseerklärung ab. Zu der Zeit sind die
Kämpfe in den kurdischen Regionen gerade wieder aufgeflammt. Militante
PKK-Anhänger haben im historischen Stadtbezirk Sur Gräben ausgehoben,
bewaffnete Jugendliche halten strategisch wichtige Positionen in den
Straßen besetzt. Elçi hält seine Rede für den Frieden im Stadtteil Sur vor
der historischen Şeyh-Muhtar-Moschee mit dem „vierbeinigen Minarett“, auf
dem Spuren der Schießereien zu sehen sind. „Dies ist ein gemeinsamer Ort
der Menschlichkeit. Wir wollen hier keine Waffen, keine Kämpfe und keine
Militäroperationen. Lasst uns für unsere Geschichte und unsere Werte
eintreten“, sagt er.
Kurz nach der Pressekonferenz steigen zwei militante PKK-Anhänger aus einem
Taxi und rennen in Richtung der engen Kopfsteinpflaster-Straße, in der Elçi
sich noch aufhält. In der Hauptstraße töten sie zwei Polizeibeamte und an
der Einmündung der Straße, in der Elçi sich befindet, verletzen sie einen
weiteren. In der Straße sind wegen der Presseerklärung auch 26
Polizeibeamte platziert worden. Es fallen Schüsse. Kameraaufnahmen zeigen,
dass Tahir Elçi noch aufrecht steht, als einer der beiden PKK-Kämpfer seine
Waffe in Richtung der Polizisten schleudert. Als der militante PKK-Anhänger
flieht und am Ende der Straße aus dem Blickfeld verschwindet, liegt Elçi am
Boden. Er wurde mit einem einzigen Schuss ins Genick erschossen.
Tahir Elçi war einer der bekanntesten Menschenrechtsanwälte der Türkei.
Geboren 1966 in der Stadt Cizre im Landkreis Şırnak, kämpfte er sein ganzes
Berufsleben gegen die Straffreiheit und für die Aufklärung der staatlichen
Morde, der sogenannten „unaufgeklärten Verbrechen“ der 90er Jahre. Elçi w…
Vorsitzender der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakır und zählte zu den
wichtigsten Verfolgern der sogenannten „unaufgeklärten Verbrechen“.
Bis heute ist nicht geklärt, wer Tahir Elçi getötet hat. Drei Jahre nach
seinem Tod hat die Staatsanwaltschaft nicht einmal einen Tatverdächtigen
präsentiert. Gleich nach der Tat hatte die Rechtsanwaltskammer von
Diyarbakır eine Untersuchungskommission gegründet und von der
Staatsanwaltschaft die Herausgabe der Videoaufnahmen des Todeszeitpunktes
gefordert– ausgerechnet die Aufnahme der Erschießung fehlt jedoch.
## Drei Polizisten schossen in Elçis Richtung
Erst Monate, nachdem Elçi erschossen wurde, am 19. März, erstellte die
Staatsanwaltschaft das Expertengutachten. In diesem Gutachten heißt es, der
Tod könne medizinisch und physisch nicht aufgeklärt werden, da man nicht
genau wisse, in welcher Position sich Elçis Kopf und Körper nach dem Sturz
auf dem Boden befunden haben. Elçi könne demnach aus jeder Position
erschossen worden sein. Auch die Patronenhülse der Kugel, die in Elçis
Körper eingedrungen war, wurde nicht gefunden.
Jetzt könnte eine in London durchgeführte [1][neue Tatortuntersuchung]
Aufklärung darüber bringen, was am Tatort tatsächlich geschehen ist. Weil
die Beweisaufnahme in Diyarbakır und das Expertengutachten unzureichend
sind, wandte sich die Rechtsanwaltskammer Diyarbakır an die Abteilung für
Forensische Architektur der Universität London, die an interdisziplinären
Studien arbeitet. Die Rechercheagentur sollte durch eine Synchronisierung
der Videoaufnahmen vom Tatort eine dreidimensionale Darstellung der
Videoaufzeichnung erstellen und ein Gutachten darüber liefern, wie die
Ereignisse sich abgespielt haben.
Die 3D-Analyse, die sich auf Video- und Tonaufnahmen vom Tatort stützt,
bringt neue Erkenntnisse zum Geschehen zutage. Videoaufnahmen vom Geschehen
zeigen, dass die PKK-Anhänger nicht in die Richtung schossen, wo Tahir Elçi
stand. Doch die Polizisten zielten in seine Richtung. Der Bericht der
Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass drei von den 26 postierten
Polizisten in die Richtung schossen, in der Tahir Elçi stand. Die
Wahrscheinlichkeit ist groß, dass einer der drei Polizisten Elçi erschossen
hat.
„Das ist ein wichtiger Schritt, eine Untersuchung, die in der Türkei noch
nicht durchgeführt wurde“, sagt Barış Yavuz, einer der Anwälte von Tahir
Elçi. „Wir haben dadurch bereits einiges herausgefunden, es gibt jetzt
Verdächtige, die auf den Aufnahmen in der Straße zu sehen sind. Das ist ein
Hoffnungsschimmer für die Ermittlungen.“
## Dringend tatverdächtig
Das an der Universität London durch eine spezielle Technik in 3D-Format
umgewandelte Video wurde zusammen mit dem Gutachten am 14.12.2018 als
Expertenbericht der Oberstaatsanwaltschaft von Diyarbakır übergeben. Laut
Barış Yavuz lässt sich durch dieses Gutachten die Zahl der Verdächtigen
eingrenzen: Drei Polizisten, die am Tatort von ihrer Schusswaffe Gebrauch
gemacht haben, seien identifiziert, ihre Namen an die Staatsanwaltschaft
weitergegeben worden und man habe die Festnahme der drei Verdächtigen sowie
eine Auswertung der gespeicherten Telefondaten gefordert.
Bisher waren die 26 Polizisten, von denen einige in der Straße Schüsse
abfeuerten, in den Ermittlungen nur als Zeugen verhört worden. Yavuz
betont, die drei Polizisten stünden unter dringendem Tatverdacht. „Wenn sie
nicht als Verdächtige verhört werden, können wir den Tathergang nicht
rekonstruieren. Im Fall Hrant Dink gab es einen Verdächtigen, also wertete
man die Telefondaten aus. Wenn es aber in einem Fall keinen Verdächtigen
gibt, kann man rein gar nichts machen.“
Barış Yavuz interessieren die Telefondaten auch deshalb, weil Tahir Elçi
etwa einen Monat vor seinem Tod wegen einer Äußerung im Fernsehsender CNN
Türk in den Fokus der Öffentlichkeit geraten war. Er sagte dort: „Auch wenn
einige Aktionen als terroristisch einzustufen sind, die PKK ist eine
bewaffnete politische Bewegung. Eine politische Bewegung, die politische
Forderungen stellt und eine breite Unterstützung hat.“ Daraufhin wurde er
unter dem Vorwurf, Propaganda für eine Terrororganisation zu machen,
festgenommen.
„Kam es zu vermehrtem Telefonkontakt zwischen den drei verdächtigen
Polizisten, die in den Aufzeichnungen zu sehen sind, nachdem Elçi bei CNN
Türk aufgetreten ist?“, fragt Yavuz. Er hält eine Auswertung der
Telefondaten für nötig, denn dadurch könne man herausfinden, ob die
Polizisten in diesen Tagen Kontakt zu Geheimdienstmitarbeitern hatten.
Laut einiger seiner Arbeitskollegen wurde Elçi auch deshalb zur
Zielscheibe, weil er eine wichtige Vermittlerrolle einnahm. Er wollte
verhindern, dass die Straßenkämpfe sich auch in den anderen Stadtteilen von
Diyarbakır ausbreiten.
## Praxis der Straffreiheit
Bald werden die Ermittlungen zu Tahir Elçis Ermordung vor das
Verfassungsgericht gebracht. Bis heute wurden drei Staatsanwälte und zwei
Oberstaatsanwälte ausgewechselt, die in Diyarbakır mit dem Fall betraut
waren.
Mehmet Emin Aktar, der in der Zeit vor Elçi Vorsitzender der
Rechtsanwaltskammer von Diyarbakır war, fordert die Verantwortlichen auf,
im Fall Elçi ihrer Verantwortung gerecht zu werden und die Wahrheit ans
Licht zu bringen. „Sobald Polizeibeamte oder Agenten verdächtigt werden
oder verdächtigt werden könnten, wenden die staatlichen Einrichtungen in
ihren Ermittlungen eine Praxis der Straffreiheit an. Wenn es nicht Personen
wären, die für den Staat arbeiten, wären sie längst verhaftet“, sagt er.
Große Hoffnungen setzt er in die Staatsanwaltschaft jedoch nicht. „Es sieht
nicht so aus, als würde der Staatsanwalt Anklage gegen die in den
Videoaufzeichnungen identifizierten Polizisten erheben. Dafür braucht es
einen politischen Willen. Der Justizminister von damals hat der
Rechtsanwaltskammer und den Hinterbliebenen von Tahir Elçi versprochen, die
Täter zu finden, aber er hat sein Wort nicht gehalten.“
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş
8 Feb 2019
## LINKS
[1] https://www.forensic-architecture.org/case/killing-tahir-elci/
## AUTOREN
Figen Güneş
## TAGS
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