| # taz.de -- Eisenstein-Film reloaded: Karl Marx-Verfilmung auf DVD | |
| > 1927 fasste Eisenstein den Entschluss, das Unverfilmbare zu verfilmen: | |
| > das Kapital von Karl Marx. Mit seinem Filmprojekt gelingt Alexander Kluge | |
| > jetzt zumindest eine Annäherung. | |
| Bild: Wollte schon 1927 Karl Marx verfilmen: Sergei Michailowitsch Eisenstein. | |
| Da sitzen sie wieder. An Tischen, in öffentlichen Räumen, im Hellen, auch | |
| mal im Dunkeln, in dem neben den Köpfen ein Lichtlein brennt. Der | |
| Kulturwissenschaftler Joseph Vogl sitzt da, der schon lange dabei ist und | |
| immer noch wie kein anderer auf faszinierendste Weise schon mal ganz | |
| schönen Blödsinn erzählt. Oskar Negt sitzt da, der zutiefst sympathische | |
| Theoriedialogpartner Alexander Kluges seit Jahrzehnten. Und dann ist da, | |
| unvermeidlich, auch der marxistische Selberdenker und Schriftsteller | |
| Dietmar Dath als vielversprechender Neuzugang. Viele weitere Kluge-Köpfe | |
| treten auf, etwa auch Peter Sloterdijk, der den Dialog mit Kluge weitgehend | |
| verweigert und in Professorenmanier vor sich hin monologisiert. | |
| Mit dabei sind die Dichter Hans-Magnus Enzensberger und Durs Grünbein. | |
| Letzterer liest und interpretiert übers Telefon in Berlin Bert Brechts | |
| brillante Hexameter-Fassung des "Kommunistischen Manifests". Außerdem: | |
| Sophie Rois, im Lachen und Reden und Überlegen bezaubernd wie je. Absoluter | |
| Anspieltipp auch: der Dirigent Johannes Harneit, der mit ansteckender | |
| Leidenschaft die Kompositionsstruktur einer kommunistischen Luigi-Nono-Oper | |
| analysiert. Der große Abwesende bleibt, versteht sich, Heiner Müller, das | |
| von ihm und von uns gegangene Gegenüber des Alexander Kluge der | |
| Neunzigerjahre. | |
| Seit Jahr und Tag sitzen sie da, als Fremdkörper auf Programm in den | |
| privaten Sendern, die Kluge erst nicht kommen und dann zu ihrem Entsetzen | |
| nie wieder gehen sahen. Sie sitzen da und denken und reden, die | |
| Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner von Alexander Kluge. Auch Kluge | |
| sitzt da, im Off allermeist, aus dem er als guter Geist immer mitspricht. | |
| Präsent ist er vor allem als Stimme, die niemals verstummt. Als | |
| unverkennbare, leicht heisere Stimme, die längst zum Trägermedium einer | |
| einzigartigen Form tastend und suchend erlangter Erkenntnis geworden ist. | |
| Kluge fragt und drängt und extemporiert freundlich, sucht nicht die | |
| Konfrontation, sondern das Neuland. Kluges Stimme aus dem Off will vom | |
| Gegenüber immer nur wissen, was das Gegenüber womöglich selbst noch nicht | |
| weiß. Alexander Kluge, Autor und Filmemacher, Jurist und gallisches | |
| Fernsehdorf in einer Person, ist kein Nachfolger von Monologikern wie | |
| Theodor W. Adorno, in dessen Vorlesungen er einst saß. Er ist vielmehr ein | |
| Erbe des großen Hebammenkünstlers Sokrates und hat sich zur ihm gemäßen | |
| Methode die unbeendbare Dialogik gewählt. | |
| Da sitzen sie, freilich nicht im Fernsehen diesmal, sondern auf DVD. Der | |
| Suhrkamp Verlag spendiert sich nach neuen Imprints und Reihen nun auch eine | |
| Erweiterung des medialen Sortiments und versammelt zum Auftakt neue und | |
| alte Heroen der Suhrkamp-Kultur. Rund neun Stunden geht Alexander Kluge | |
| unter dem Titel "Nachrichten aus der ideologischen Antike" auf Sendung, und | |
| alles dreht sich um nichts Geringeres als "Das Kapital" von Karl Marx. Wenn | |
| auch nicht ohne weiteres oder einfach so, denn nichts ist bei Kluge je ohne | |
| Brechung. | |
| Der Ausgangspunkt der Recherche, die in der Form den Fernsehproduktionen | |
| Kluges sehr ähnelt, ist vielmehr ein ganz spezieller Fund. Sergei | |
| Eisenstein, der bedeutendste Filmemacher der damals immer noch jungen | |
| Sowjetrevolution, plante im Jahr 1929 wohl allen Ernstes, "Das Kapital" von | |
| Karl Marx zu verfilmen. Es gibt Pläne, Notizen, es gibt die Idee, die | |
| Handlung in Anlehnung an James Joyce Roman "Ulysses" auf einen Tag zu | |
| begrenzen. Einen einzigen Tag, an dem das Kapital von der ursprünglichen | |
| Akkumulation zum Geld als Realabstraktion inklusive der Verwandlungen in | |
| Lohn und Ware et cetera das von Marx analysierte Triebschicksal der | |
| Ökonomie mit allen theologischen und metaphysischen Mucken exemplarisch | |
| durchlebt. | |
| "Nachrichten aus der ideologischen Antike" ist keine Verfilmung des | |
| "Kapitals" und ist auch keine Rekonstruktion von Eisensteins | |
| größenwahnsinnigem Projekt. Es ist auch kein Film in einem irgend | |
| vertrauten, soll heißen: von anderswo als Kluges Neuerfindung des | |
| Fernsehens her vertrauten Sinn. Ein in sich geschlossenes, nach allen | |
| Seiten zugleich offenes "artistisches Kunstwerk" ist das Ganze dennoch. Als | |
| "artistisches Kunstwerk" hat Karl Marx selbst das "Kapital" bezeichnet, und | |
| als solches nimmt Kluge und nehmen beinahe alle von ihm ausgesuchten | |
| Gesprächs-, Gesangs-, Musik- und Denkpartner es ernst. Sie begreifen Marx | |
| Wurf als eine Art begehbare Installation. Sie treiben, mithilfe nicht nur, | |
| aber auch von Eisenstein Stollen hinein. Sie greifen Begriffe heraus, den | |
| des "Warenfetisch" zum Beispiel, wenden ihn hin, wenden ihn her, reiben | |
| daran, bis er wieder zu glänzen beginnt. Sie bemühen sich das von der | |
| marxistischen Orthodoxie vernutzte und darüber versteinerte Material ganz | |
| im Sinne von Marx wieder in den Aggregatzustand des Flüssigen, Beweglichen | |
| zurückzuverwandeln. Und manchmal springt aus den alten Begriffen ein | |
| Dschinn, der die Gegenwart aufschließen hilft. (Da, neben Joseph Vogl im | |
| Dunkeln, wenn das keine Wunderlampe ist!) | |
| Geradezu unfassbar zeitgemäß wird das auf den ersten Blick so verschrobene | |
| Projekt immer wieder durch den Bezug auf das Jahr 1929, in dem Eisenstein | |
| seine kapitale "Kapital"-Version plante. Immer wieder gerät durch dies | |
| Datum die Weltwirtschaftskrise, die im Oktober des Jahres ihren Ausgang | |
| nahm, in den analytischen Blick. Und alles, was etwa Sloterdijk hier zum | |
| Thema sagt, trifft prophetisch geradezu mitten hinein in die nach | |
| Fertigstellung der "Nachrichten" eskalierte Krise der unmittelbaren | |
| Gegenwart. Und doch reicht Kluges Projekt über alle Tagesaktualität weit | |
| hinaus. Es ist durchaus etwas wie das "Summum Opus" des Fernseh-Kluge, das | |
| die erarbeiteten Formen, die vertrauten Motive und die bekannten Köpfe nun | |
| um ein großes Thema herum anordnet. Durch die Lücke hindurch, die der | |
| Teufel lässt, wird gedacht und geredet, wird zitiert und montiert, wird | |
| auseinandergenommen und wieder zusammengebaut. Das meiste ist geradezu | |
| anrührend Lowtech, die spektakulärsten Spezialeffekte sind fast schon all | |
| die vielen bunten Buchstaben, die beinahe albern diversen Schrifttypen, mit | |
| denen Kluge zwischen den sprechenden Köpfen Sätze auf Schrifttafeln | |
| schreibt. | |
| So gibt es ästhetische Rückgriffe auf den Stummfilm, aber in einem | |
| Filmbeitrag Tom Tykwers zur Herkunft auf der Straße aufzulesender Dinge | |
| immerhin auch einen Ausflug ins digital Virtuelle. Kluge ist immer | |
| hypermodern und wahnsinnig altmodisch zugleich - und so dann doch der | |
| gewitzteste aller Dialektiker. Eben deshalb war er der Einzige, der in den | |
| Achtzigern ausgerechnet das Privatfernsehen als den Ort begreifen konnte, | |
| an dem die Fortsetzung des Filmens und Denkens und Schreibens und Forschens | |
| mit anderen Mitteln möglich ist. Als Dialektiker wie Dialogiker ist Kluge | |
| stets nichtlinear. Alles muss bei Kluge jederzeit die Laufrichtung ändern | |
| können. Nichts ist jemals aus einem Guss, alles bleibt in Bewegung. | |
| Das Unermüdliche, auch das Kollaborative gehört unabdingbar dazu. Der | |
| Vorwurf, er tue immer das Gleiche, ist darum absurd. Kluge hat im Fernsehen | |
| einfach die ihm ganz gemäße Form gefunden. Nur in den Augen | |
| spektakelgewohnter Konsumenten macht sie nichts her. Sie ist vielmehr, beim | |
| Opern- und insbesondere Wagner-Enthusiasten Kluge nicht überraschend, zwar | |
| durch und durch idiosynkratisch, zielt dabei aber immer auf das sich aus | |
| den Einzelteilen fügende Gesamtkunstwerk. | |
| Nicht anders denn als humanistisch ist Kluges Menschenbild zu beschreiben. | |
| Alle Seelenkräfte und alle Sinne will er mit seinen Kombinationskünsten | |
| mobilisieren. Der Betrachter soll hören und fühlen und niemals soll er | |
| denken, ohne dabei zugleich zu begehren und zu fantasieren. Fiktion und | |
| Verkleidung sind neben dem klaren Gedanken, dem gewagten Wort legitime | |
| Mittel der Erkenntnis. Auch der Wahnwitz, auch das Satyrspiel gehört immer | |
| dazu. Es nimmt im Epilog die Gestalt des größten lebenden Clowns deutscher | |
| Zunge an: Helge Schneider fistelt mit Rasputinbart "Proletarier aller | |
| Länder, vereinigt euch". Er macht Quatsch mit Marx- und Engelszungen und | |
| Kluge macht den Quatsch hörbar amüsiert mit. | |
| So klingt beschwingt aus, was zuvor sehr viel mehr Höhen als Tiefen hat. | |
| Man kann am Ende nur wünschen, es möge die Stimme des Alexander Kluge, die | |
| so viele andere Stimmen sprechen und singen macht, niemals verstummen. | |
| 12 Nov 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| Ekkehard Knörer | |
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