# taz.de -- Eine knappe Mehrheit der Polen hat keine Angst vor dem „Geist der… | |
## Polens Zukunft beginnt mit Schlußstrich | |
Die Leute im Supermarkt an der Warschauer Tamkastraße sehen verkatert aus | |
und haben schlechte Laune. Ein älterer, mißmutig dreinblickender Mann, der | |
an der Kasse Milch und Quark bezahlt, dreht sich plötzlich um und faucht | |
die Leute in der hinter ihm stehenden Schlange an: „Verräter! Die Bauern | |
und die Jungen! Die haben uns verraten.“ Einige nicken. „Sicher ist die | |
Wahl ungültig“, flüstert eine Frau im Verschwörerton. „Die Kommunisten | |
haben immer die Wahlen gefälscht!“ Aus der Schlange löst sich eine blonde | |
Schönheit: „Ihr seid doch dumm. Da ärgert ihr euch jahrelang über Walesa, | |
und wenn es zur Wahl geht, wo macht ihr das Kreuzchen? Bei Walesa!“ | |
Die junge Frau redet sich in Rage: „Euch interessiert es doch überhaupt | |
nicht, daß wir keine Arbeit haben. Ihr seht nur eure großartige | |
Solidarność. Aber das ist schon fast zehn Jahre her.“ Der alte Mann | |
verzieht das Gesicht zu einer Grimasse: „Dreck! Alles Dreck! Ich habe im | |
Gefängnis gesessen, und ich habe jahrelang keine Arbeit gehabt. Und wofür | |
das alles?“ Die Stimme schlägt um, erstirbt, die Kunden in der Schlange | |
gucken die Regale entlang. Die junge Frau geht an die Kasse und sagt | |
provozierend ruhig: „Für uns. Wir sind eure Zukunft.“ | |
Die Polen haben am 19. November 1995 einen neuen Präsidenten gewählt. Nach | |
den bisher vorliegenden Ergebnissen hat Lech Walesa, der legendäre | |
Freiheitsheld der Polen und Arbeiterführer der legendären Gewerkschaft | |
Solidarność, die Wahl knapp verloren. Sieger ist der Herausforderer des | |
noch amtierenden Präsidenten, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen | |
Partei Polens, der 41jährige Aleksander Kwaśniewski. | |
Das Ergebnis – mit 51,4 zu 48,6 Prozent denkbar knapp – spaltet die | |
Gesellschaft in zwei große Gruppen. Das zumindest meinen fast alle | |
Kommentatoren der führenden Tageszeitungen in Polen. Sie befürchten fast | |
durchgehend, daß es durch die Wahl zu einer stärkeren Polarisierung | |
innerhalb der Gesellschaft kommen könnte: die Jungen gegen die Alten, die | |
Arbeiter und Arbeitslosen gegen die Unternehmer, die Beamten und höheren | |
Staatsfunktionäre gegen die Angestellten. Der eigentlich so positiv | |
klingende Slogan Kwaśniewskis, „Wählen wir die Zukunft!“, grenze die | |
Menschen aus, die ein gutes Gedächtnis besäßen, so die einhellige Meinung. | |
Durch die Monopolisierung der Macht in den Händen der exkommunistischen | |
Sozialdemokratischen Partei könne es sogar wieder zu der alten | |
Frontstellung des „My“ und „Oni“ kommen. „My“ – das waren „wir�… | |
die Gesellschaft in der Solidarność-Zeit, die sich gegen die regierende | |
Polnische Vereinigte Arbeiterpartei aufbäumte; „Oni“ hingegen waren „die… | |
oben“, mit denen die Gesellschaft nichts zu tun haben wollte. Mit der Wahl | |
Kwaśniewskis habe ein Teil der polnischen Bevölkerung die Volksrepublik | |
nachträglich anerkannt oder deren Verfehlungen ad acta gelegt. Sie seien | |
die ständige Streiterei über die bessere Moral der einen oder anderen Seite | |
leid und wollten den „Schlußstrich“ ziehen. | |
Das hatte auch bereits Tadeusz Mazowiecki, der erste nichtkommunistische | |
Ministerpräsident Polens, im Jahre 1989 gefordert. Doch Mazowiecki ging es | |
nicht darum, alle Vergehen ungesühnt zu lassen. Er befürwortete durchaus | |
eine Auseinandersetzung über die Vergangenheit, aber nicht in der | |
Unerbittlichkeit, wie sie beispielsweise in Deutschland geführt wurde. | |
Die Wahlnacht selbst hätte Hitchcock nicht spannender inszenieren können. | |
Jede halbe Stunde gab der Wahlkampfleiter die neuesten Hochrechnungen und | |
Prognosen bekannt. Bis 22 Uhr sah es so aus, als werde Walesa, wie es | |
eigentlich fast alle erwartet hatten, als Sieger aus der Wahl hervorgehen. | |
Im Büro seines Wahlstabes herrschte eine ausgelassene Stimmung. Doch mit | |
jeder weiteren Bekanntgabe verlor Walesa Zehntel Prozentpunkte. Seine | |
Wähler waren fast alle morgens zur Urne gegangen. Die Kwaśniewskis hingegen | |
am späten Nachmittag oder erst am Abend. | |
## Im Grunde schon immer ein Sozialdemokrat | |
Als um 22 Uhr die ersten Hochrechnungen der offiziellen Stimmauszählung | |
über den Bildschirm liefen, wurde klar, daß Walesa aller Wahrscheinlichkeit | |
nach verlieren würde. Walesa trat ganz kurz vor die Kamera, verlas eine | |
vorbereitete Dankesrede und zeigte sich dann den ganzen Abend nicht mehr. | |
Auch im Wahlstudio des ersten Programms schlug die Stimmung schlagartig um. | |
Hatten die Gäste, allesamt Wissenschaftler, Journalisten und Politiker, in | |
den ersten beiden Stunden Walesa geradezu routinemäßig kritisiert, | |
überwogen im zweiten Teil der Wahlnacht die fragenden und besorgten | |
Stimmen. | |
Aleksander Kwaśniewski, dem es gelang, sich das Image eines „netten jungen | |
Manns von nebenan“ als auch das eines weltoffenen, smarten und eleganten | |
Europäers zu geben, plädierte in all seinen öffentlichen Auftritten für den | |
EU- und Nato-Beitritt Polens. Der Wirtschaftsexperte hält viel von der | |
parlamentarischen Demokratie, will die Staatsbetriebe Polens privatisieren | |
und dem Auslandskapital den Zugang erleichtern. | |
Der 41jährige Arztsohn Kwaśniewski hat immer wieder insbesondere die jungen | |
Menschen angesprochen und ihnen das Recht auf eine gute Schulbildung und | |
auf Arbeit versichert. Politisch beruft sich Kwaśniewski auf den spanischen | |
Ministerpräsidenten Felipe González. Er selbst, so versichert Kwaśniewski, | |
sei im Grunde seines Herzens schon immer ein Sozialdemokrat gewesen. Die | |
Vergangenheit – Kwaśniewski hatte in der Zeit des Kriegsrechts (1981–1983) | |
innerhalb der kommunistischen Partei Karriere gemacht – liege nun schon | |
fünf Jahre zurück. Seit 1990 gebe es die Polnische Vereinigte | |
Arbeiterpartei nicht mehr, und er habe sich seither als guter | |
Sozialdemokrat profiliert, der auch im Ausland als wichtiger | |
Gesprächspartner ernstgenommen werde. | |
Der „Sympathie- und Hoffnungsträger“, wie ihn die polnische Presse in ihrer | |
Berichterstattung zunächst feierte, hatte im Lauf der Wahlkampagne immer | |
mehr Kratzer bekommen. Zunächst kam heraus, daß er die für alle | |
Abgeordneten obligatorische Vermögenserklärung falsch ausgefüllt hatte. | |
Dann erfuhren die Polen, daß Kwaśniewski gar keine „höhere Bildung“ besa… | |
wie er immer wieder angegeben hatte. Er hatte als „abgebrochener Student“ | |
die Universität in Danzig verlassen müssen. „Ich habe keine Zeit, die | |
Magisterarbeit zu schreiben, ich muß Karriere machen“, soll Kwaśniewski dem | |
damaligen Universitätsdekan gesagt haben. | |
21 Nov 1995 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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