# taz.de -- Eine Windhose gegen Epilepsie | |
> Das interdisziplinäre Zentrum für komplexe Systeme in Bonn will | |
> epileptische Anfälle vorhersagen. Helfen sollen Staus, Tornados und | |
> Erdbeben. Die Wissenschaftler glauben, dass sich Extremereignisse auf | |
> ähnliche Weise ankündigen | |
VON MATTHIAS HENDORF | |
Plötzlich bricht ein Sturm los. Eine immense elektrische Energie strömt | |
durch das Gehirn. Muskeln zucken, die Kontrolle über den Körper ist dahin. | |
Ein epileptischer Anfall. Die Betroffenen sind dem hilflos ausgeliefert. | |
Ohne Vorwarnung. Ein Stau könnte Abhilfe schaffen. Oder ein Erdbeben. | |
Vielleicht auch der nächste Tornado. Dieser Spur folgt das | |
„Interdisziplinäre Zentrum für komplexe Systeme“ (IZKS) in Bonn. | |
„Vielleicht können wir für das Problem der Epilepsie von Meteorologen | |
genauso viel lernen wie von Mathematikern“, sagt Klaus Lehnertz, | |
Mitarbeiter des IZKS. Der Physiker, der an der Bonner Klinik für | |
Epileptologie arbeitet, will anhand statistischer Methoden Symptome | |
identifizieren, die vor epileptischen Anfällen auftreten. Falls die | |
mathematischen Modelle nicht ausreichen, werden andere Verfahren wie | |
beispielsweise die Methoden der Verkehrs- oder Klimaforschung angewandt. | |
Und eben hier liegt der Berührungspunkt des interdisziplinären Zentrums. | |
Die Forscher aus den verschiedenen Wissenschaftszweigen wie Meteorologie, | |
Informatik, Mathematik und Physik vermuten, dass sich Extremereignisse wie | |
ein epileptischer Anfall oder ein Erdbeben auf gleiche Art und Weise | |
ankündigen, wenn man sie statistisch untersucht. Ist ein Fachbereich bei | |
der Suche nach dem Auslöser mit seinem Latein am Ende, werden andere | |
Institute und deren Methoden zu Rate gezogen. | |
„Die Diversität des Zentrums ist wahrscheinlich einzigartig in | |
Deutschland“, betont Volker Jentsch, Geschäftsführer des IZKS. Das im Mai | |
2006 in Bonn aus der Taufe gehobene IZKS vereinigt heute elf Institute mit | |
Mitarbeitern aus Bonn, Köln und Jülich. Im Normalfall arbeiten drei bis | |
vier Forscher aus separaten Bereichen zusammen. In Kleingruppen bearbeiten | |
sie so einzelne Projekte. | |
In der Epileptologie sind bereits erste Erfolge erzielt worden. Die | |
Wissenschaftler hätten vermutlich „einen Voranfallszustand“ im | |
Elektroencephalogramm (EEG) entdeckt, sagt Lehnertz. Der Auslöser für einen | |
Anfall zeigt sich also vorher an besonders auffälligen Gehirnströmen. Doch | |
wann der Anfall tatsächlich kommt, kann der Physiker noch nicht | |
vorhersagen. Ob Minuten oder Stunden später, das liegt noch im Verborgenen. | |
„Wir haben die mathematischen Methoden bis an ihre Grenzen ausgereizt“, so | |
Lehnertz. Helfen sollen nun Wahrscheinlichkeitsrechnungen aus anderen | |
Wissenschaftsgebieten. „Jetzt müssen neue Werkzeuge her, das Gehirn ist | |
einfach zu komplex.“ | |
Diese Werkzeuge hoffen die Forscher beim Blick über den Tellerrand zu | |
finden – eine Weitsicht, die Geschäftsführer Jentsch bei vielen Kollegen | |
vermisst. „Das Hinausschauen über die Grenzen des eigenen Fachbereichs | |
findet viel zu selten statt.“ Zudem sei ein Schulterschluss dieser Art die | |
zukunftsweisende Organisationsform. „In zehn Jahren werden | |
Forschungsverbünde wie dieser alltäglich sein“, so Jentsch. | |
Vor überhöhten Erwartungen an das IZKS warnt er trotzdem. „Wir versuchen | |
die Vorhersage zu verbessern.“ Das dürfe nicht mit dem Vereiteln der | |
Extremereignisse gleichgesetzt werden. „Verhindern kann der Mensch nur das, | |
worauf er Einfluss hat.“ Und das ist bei Naturkatastrophen eher selten der | |
Fall. Deshalb will Jentsch den Handlungszeitraum zwischen Vorhersage und | |
tatsächlichem Ereigniseintritt „so groß wie möglich machen“. Dann könne… | |
sinnvolle Schutzvorkehrungen treffen. | |
Das Problem ist allerdings, dass die Finanzierung des interdisziplinären | |
Zentrums nicht gesichert ist. „Wir verfügen über kein eigenes Budget und | |
zehren immer noch von einem Forschungspreis aus dem Jahr 2004“, beklagt | |
Jentsch. Die Wissenschaftler lassen sich davon aber nicht abhalten. „Das | |
IZKS wird vom Idealismus der Mitglieder getragen.“ | |
Für Epileptiker könnten die Forschungsergebnisse von entscheidender | |
Bedeutung sein. Denn die Angst vor einem plötzlichen Anfall ist | |
allgegenwärtig. Ein kurzer Hinweis auf einen drohenden Kollaps würde vielen | |
Betroffenen die Panik vor alltäglichen Dingen wie dem Autofahren nehmen. | |
Doch noch steckt das in den Kinderschuhen. Ein portables Gerät, dass die | |
Gehirnströme ständig misst und im akuten Fall vorwarnt, gibt es bisher | |
nicht. Die Furcht vor dem elektrischen Sturm bleibt. Noch. | |
24 Aug 2006 | |
## AUTOREN | |
MATTHIAS HENDORF | |
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