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# taz.de -- Eine Kerze ist eine Kerze ist ein Licht
> ■ Tausende von Menschen gehen vor die Haustür, bilden Ketten und
> demonstrieren mit Lichtern gegen Rassismus. Sind es neue symbolische
> Formen, Gefühlee zu zeigen? Ist das die Antwort auf die Krise...
Was von der Berliner Massendemonstration vom 8. November gegen Ausländerhaß
im Gedächtnis haften blieb, waren nicht die Bilder einer großartigen und in
sich vielgestaltigen Mobilisierung, sondern die Schilder der Polizeikohorte
auf der Tribüne, die den einzigen Redner verdeckten.
Der vielfache Hinweis, es habe sich bei den Störaktionen nur um das Werk
einiger hundert oder tausend Spielverderber gehandelt, konnte die
Frustration nicht vertreiben, die viele der Teilnehmer – und beileibe nicht
nur die mitmarschierenden Politiker – anschließend quälte. Das wenige Tage
auf Berlin folgende antirassistische Volksfest in der Kölner Südstadt, die
Lichterkette in München und schließlich die vom vergangenen Samstag in
Hamburg waren Versuche, eine symbolische Form zu finden, die Gefühle zum
Ausdruck bringen sollte, vor aller politischen Artikulation, wie sie für
die Berliner (und die Bonner) Demonstrationen charakteristisch waren.
Die kollektive „Pathosformel“ der Lichterkette ist die Antwort auf die
Krise institutionalisierter Politik. Beweis dafür ist nicht nur das Fehlen
rotierender Vorbereitungskomitees und parasitierender Politiker. In München
wie in Hamburg wurde das nächtliche Kerzen- und Fackelfest binnen weniger
Tage von Medienleuten vorbereitet, in Köln fehlte selbst dieser
organisatorische „Vorlauf“. Die Krise des „Politischen“ zeigte sich bei
jeder der drei großen symbolischen Aktionen in der fast vollständigen
Abwesenheit von Transparenten, Parolen, Sprechchören, Kundgebungen. Hätte
es noch eines Hinweises auf die offensichtliche religiöse Herkunft dieser
Manifestationen der Stille bedurft, das Geläut der Kirchenglocken hätte ihn
geliefert.
Kritische Geister tun sich schwer, der Symbolisierung von Massenstimmungen
in der Politik eine positive Seite abzugewinnen. „Der Faschismus“, schrieb
Walter Benjamin, „verhilft den Massen zum Ausdruck, aber nicht zu ihrem
Recht.“ Aber können die Fackelzüge der Nazis im Ernst mit dem Gewimmel der
Kerzen, Leuchtgeräte aller Art, darunter – jawohl! – auch Fackeln, bei den
Münchner und Hamburger Kundgebungen in Beziehung gesetzt werden? Die
nächtlichen Aufmärsche der Nazis waren Feiern des Todeskults, der
Auslöschung des Individuellen, der Ausgrenzung des Feindes. Sie hielten
„die Reihen dicht geschlossen“. In München und Hamburg war die Form
vollständig offen, wo sich Kollektive trafen, geschah es auf der Basis
strikter Freiwilligkeit, ohne Konformismus, ohne die Aussicht auf Lob,
Anerkennung oder selbst die Hoffnung, sich in der Glotze abgebildet zu
sehen. Tatsächlich ist der Vergleich mit dem Faschismus nur ein Vorwand,
nur eine Metapher, um das Unbehagen an Aktionsformen zu transportieren, die
nicht dezidiert das aussprechen, was gegen Rassismus und
Ausländerfeindlichkeit jetzt getan werden muß. Es ist wahr, die Menschen in
München und Hamburg waren stumm. Die Bilder des Fernsehens zeigten nur die
Massen-Totale und den ergriffenen einzelnen, nicht aber die Gruppen, die,
Vermittlungsformen zwischen den isolierten Individuen und den abstrakten
Großorganisationen, für das Handeln der Bürgergesellschaft unentbehrlich
sind. Aber bedeutet das, daß die Lichterkette nur ein Ornament war, daß sie
den Teilnehmern nur ein kurzes folgenloses Gefühl des Verschmelzens mit
einer riesigen Masse gab, mithin nur ein mythisches Ritual?
Es ist falsch und gefährlich, das, was nottut, individuelle
Verantwortlichkeit und Zivilcourage, in Gegensatz zu bringen zu jener Art
von kollektiver emotionaler Selbstvergewisserung, wie wir sie in Hamburg
und München erlebt haben. Die Tugenden der Zivilgesellschaft wachsen nicht
oder nicht nur auf dem Boden rationaler Diskurse, des Bürgersinns, des
Verfassungspatriotismus etc. Freilich macht es einen gewaltigen
Unterschied, ob einer auf sich gestellt in der nächtlichen U-Bahn dem Opfer
eines faschistischen Angriffs zur Hilfe eilt oder ob er sich, ebenfalls zur
Nachtzeit, kerzenhaltend zu Hunderttausenden Gleichgesinnter gesellt. Aber
könnte es nicht sein, daß das harmlose zweite die Voraussetzung des
schwierigen ersten ist? Daß die Lichterketten dazu beitragen, jene Schwelle
herabzusetzen, ab der nicht mehr weggeschaut, nicht mehr auf die andere
Seite der Straße gegangen wird? Daß man sich eins weiß mit vielen andern,
ist natürlich an sich kein Beweis für die Richtigkeit der eigenen Gefühle
und Ansichten. Aber wer sagt, daß solche Gefühle der Übereinstimmung stets
und mit Gesetzmäßigkeit der Manipulation zum Opfer fallen müssen? Man rede
nicht vom Konformismus eines Protests, der ernstlich soeben begonnen habe,
nachdem der „Asylkompromiß“ unter Dach und Fach ist. In der deutschen
Nachkriegsgeschichte waren Antifaschismus und Antirassismus tatsächlich oft
Ergebnis einer taktischen Haltung, Folge der Rücksichtnahme auf „das
Ausland“, geboren aus dem Bedürfnis nach einem „westlichen“ Image. Nichts
gegen die Schamgrenze, die es zu beachten galt, nichts gegen Konventionen.
Sie waren das einzige, worauf die Demokraten bauen konnten, aber– sie sind
nach Rostock zusammengebrochen. Jetzt scheinen sich erstmals seit der
Revolte der 60er Jahre Ansätze gesellschaftlicher Übereinstimmungen, wenn
man will, Konventionen herauszubilden, die nicht künstlich, nicht
„angenommen“ sind. Die auf einem Gefühl für das beruhen, was auf gar kein…
Fall mehr hingenommen werden kann. Mag die Idee der Lichterketten auch
einer Banalisierung des religiösen Bedürfnisses entspringen, die Gefühle,
die sie zum Ausdruck brachte, sind authentisch. Sie ist die Antwort auf die
Unfähigkeit der etablierten Politik, massenhaft Emotionen der Solidarität
zu mobilisieren. Die Spontaneität, die am Werk war, ist ansteckend, auch im
Alltagsleben. Stehen wir nach Monaten des erstarrten Entsetzens vor einer
Tendenzwende? Christian Semmler
15 Dec 1992
## AUTOREN
christian semler
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