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# taz.de -- Ein ganz besonderer Saft
> Die geliebten roten Blutkörperchen
von GABRIELE GOETTLE
S. M. Rapoport, em. Univ. Prof., eh. Dir. d. Bioch. Inst. d. Humb. Uni.,
Dr. med., 36, Dr. phil., 39, Habil, 42, 3 x Dr. h. c. Erh. zahlr. Ehr. u.
Ausz., u. a. d. President Certificate of Merit, 47, d. Vaterland.
Verdienstord. d. DDR, 59 – Hufeland-Medaille, Arthur-Becker-Medaille i.
Gold, 62, Mitgl. div. Ges., u. a. Berl. Physiol. Ges. f. Physiol. Chem.,
Amer. Soc. f. Pediatr. Res., Soc. f. Clinic. Investig. Physiol. Chem.
Gründer u. a. der Leibniz-Ges., 92.
Von Herrn Rapoport kann ich eigentlich nicht erzählen, ohne zuvor etwas
genauer auf seine Lebensumstände einzugehen. Darum ein kurzer Blick auf den
Lebenslauf dieses Experten: Samuel Mitja Rapoport wurde 1912 im alten
Russland geboren, in einem Ort an der Grenze zu Österreich-Ungarn. Der
Vater war Weizenhändler, ein frommer, aber nicht orthodoxer Jude, die
Mutter, aus liberalem Hause, war nicht fromm, beachtete aber den Sabbat und
die hohen jüdischen Fest- und Feiertage. Man sprach russisch und jiddisch.
Der kleine Mitja ging zur Thoraschule, wie es üblich war. 1919 war seine
behütete Kindheit fürs Erste vorbei. Die Eltern flohen vor den Wirren der
Oktoberrevolution, es gelang ihnen, vom letzten auslaufenden Frachtschiff
nach Triest mitgenommen zu werden. In der Nacht sah der Knabe vom sich
entfernenden Schiff aus, wie die Munitionslager von Odessa in die Luft
flogen. Zweifellos ein starkes Erlebnis.
Als man nach vielen Strapazen endlich in Wien ankam, fingen die neuen
Probleme sofort an. Der Knabe und seine Schwester sprachen nur russisch und
etwas hebräisch, Wohnung und Arbeit mussten gefunden werden. Aber alles
ging gut, Mitja Rapoport lernte recht unwillig alles Erforderliche, machte
Abitur, studierte. Mit 19 trat er der Sozialistischen Partei bei,
beteiligte sich 1934 am Februaraufstand gegen die rechtsradikale Heimwehr.
Danach wechselte er in die Kommunistischen Partei, beteiligte sich neben
dem Studium an illegalen Aktionen, promovierte und forschte. Währenddessen
entschloss sich 1937 ein amerikanischer Biologieprofessor namens Guest zu
einer Europareise, bei der ihm durch einen glücklichen Zufall auch die
wissenschaftlichen Arbeiten des jungen Dr. Rapoport vor Augen kamen. Sein
Interesse war derart groß, dass er ihn zu einem einjährigen Stipendium nach
Amerika einlud. Aus bekannten Gründen wurde aus dem Studienaufenthalt eine
Emigration. Nach fünf Jahren wurde er eingebürgert, erhielt einen Pass. Er
arbeitete an einem renommierten Forschungsinstitut in Cincinnati in der
biochemischen Abteilung der Research Foundation, war verheiratet und
Mitglied der KP der USA.
1946 heiratete er in zweiter Ehe die Kinderärztin Ingeborg Syllm, die als
rassisch Verfolgte Deutschland hatte verlassen müssen. Professor Rapoport
war erfolgreich als Forscher und auch als Arzt in der Klinik. Eigentlich
hätte er eine glänzende Karriere machen müssen, aber bereits 1950 fand der
Traum von einer glücklichen, gesicherten Zukunft in der neuen Heimat ein
jähes Ende. Er sollte vorgeladen werden vor McCarthys „Komitee für
unamerikanische Aktivitäten“. Das bedeutete Gefängnis, denn
Aussageverweigerung galt als Missachtung des Gerichtes und musste
entsprechend gesühnt werden. Also flüchtete er mit seiner hochschwangeren
Frau und drei Kindern nach Europa zurück und versuchte an der Universität
Wien unterzukommen. Dort intervenierte der CIC gegen eine Einstellung
Rapoports mit der Drohung, der Uni Wien die US-Subventionen zu streichen.
Sein Pass wurde eingezogen wie bei allen amerikanischen Kommunisten.
Zusätzlich wurde er noch ausgebürgert. Man wollte ihn also nicht in Wien.
Auch nicht in der Sowjetunion, wo er wegen des Amerikaaufenthaltes
missliebig war. Man wollte ihn nicht in der Schweiz und nicht in Albanien.
Nach zwei Jahren endlich erhielt er ein Angebot für die DDR und nahm sofort
an.
Dort bekam er einen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität und sein eigenes
Institut für Biochemie. Zwar hätte er lieber Forschungsarbeit gemacht,
aber, wie schon so oft, musste Herr Rapoport sich mit Tätigkeiten befassen,
gegen die er anfangs starke Widerstände hatte. In Amerika war es die
praktische Arbeit am Krankenbett, in der DDR nun die Verpflichtung zur
Lehre. Mit der ihm eigenen Gründlichkeit und Liebenswürdigkeit führte er an
seinem Institut moderne amerikanische Methoden in Forschung und Lehre ein,
unkonventionellen Seminarbetrieb und offene Umgangsformen zwischen
Lehrkörper und Studenten. Erst zehn Jahre später bekämpfte man im Westen
unter den Talaren den Muff von tausend Jahren. Rapoports Studenten genossen
bereits in den 50er-Jahren große Freiheiten. Er schrieb ein viel beachtetes
Lehrbuch für „Medizinische Biochemie“, das vorn eine Widmung enthält: „…
Studenten, deren Nichtwissen und Neugierde der ständige Stachel eines
Lehrers sind“. Gebräuchlich sind allenfalls feierliche Zitate. Dieser
ungewöhnliche Professor richtete sich also wieder einmal in einer neuen
Heimat ein. Die Familie bekam ein schlichtes Siedlungshäuschen in
Niederschönhausen zugewiesen, in der so genannten „Intelligenz-Siedlung“,
so genannt, weil dort vor allem Künstler und Wissenschaftler untergebracht
wurden und zwar besonders solche, die aus den Konzentrationslagern und der
Emigration zurückgekommen waren.
An einem schwülen Julitag, fast 50 Jahre später, sitzen Rapoports im
Wohnzimmer ihres Siedlungshäuschens und geben zwei wildfremden Damen –
anfangs misstrauisch, später freundlich und geduldig – Auskunft über Leben
und Arbeit. Das Wohnzimmer ist schmal, wird im einen Teil dominiert von
einem schwarzen Flügel, auf dem die Käsesahnetorte steht, im anderen von
einer Sitzecke mit Couch und Sesseln. Über der Couch hängen zwei
Farbholzschnitte von Hokusai, graublau, wie verblasst. Originale in dicken
Passepartouts. Außer einem schwarzen Deckenfluter ist nichts von dem
üblichen Kram, den jeder heute haben muss, zu entdecken. Durch die große
Glastür blickt man in den Garten hinaus, auf ein Goldfischbecken voller
Seerosen, an dessen Rand eine schwarze Katze sitzt und ins Wasser blickt.
Herr Rapoport ist ein Wissenschaftler wie aus dem Bilderbuch. Er ist
verliebt in seinen Forschungsgegenstand und konnte noch in Zeiten arbeiten,
in denen die Wissenschaft weder so zerstückelt war noch unter solch einem
Konkurrenz- und Erfolgsdruck stand wie heute. Er konnte sich noch Zeit
nehmen, auch zur Freude an der Arbeit, sofern man ihn ließ. Lebenslang
waren die roten Blutkörperchen sein wesentliches Forschungsobjekt. Er
erklärt: „Mein Interesse an den roten Blutzellen hat zwei Wurzeln. Die
erste: Das Blut als Untersuchungsgebiet ist leicht zugänglich; man hat es
praktisch immer bei sich. Die zweite: Warum ich es lieb gewonnen habe,
liegt an seiner Einfachheit. Ich genieße es, übersichtliche, klare
Verhältnisse zu haben.“ Bevor aber der Wissenschaftler endgültig zu Wort
kommt, will ich versuchen – zur besseren Verständlichkeit des Folgenden –
auch seinen Forschungsgegenstand durch einen kleinen Lebenslauf
vorzustellen.
Das Blut ist Haupttransportmittel des Organismus, seine Hauptaufgabe ist
die Beförderung des Sauerstoffs von den Lungen ins Gewebe. Es ist wässrig
und enthält unter anderem die roten und die weißen Blutkörperchen, wobei
die roten Blutkörperchen den Hauptanteil ausmachen am Gesamtvolumen des
Blutes. Ihre Brutstätte ist das Knochenmark, wo sie in komplizierter Weise
heranwachsen. Im Frühstadium besitzen sie noch einen Zellkern, der aber
später ausgestoßen wird. Im kernlosen Stadium atmen sie noch und werden
Reticulozyten genannt. Aber auch das Atmen geben sie auf, verlieren ihre
Atmungsorgane, die Mitochondrien, und verwandeln sich innerhalb von nur ein
bis zwei Tagen in ein anderes Wesen. In eine Zelle, die ihre lebenswichtige
Energie nun durch Zuckerabbau herstellt, durch Glykolyse. Ihr Stoffwechsel
arbeitet jetzt mit Gärung, also ohne Verbrauch von Sauerstoff. Und bei
diesem Gährungsprozess entsteht der notwendige universelle
Energielieferant: das ATP. Es ist die wichtigste energiespeichernde
Substanz im Körper, eine Art Energiekonserve oder „Zellakku“. Sein
Entdecker, Lohmann, wird im weiteren Text noch eine Rolle spielen. Derart
ausgestattet und mit viel Hämoglobin gelangt das rote Blutkörperchen, das
nun ein „erwachsener“ Erythrozyt ist, in den Blutstrom. Seine Gestalt ist
dropsförmig, mit einer Delle auf jeder Seite, es ist sehr geschmeidig,
biegsam, elastisch und winzig klein. Eine große Oberfläche zu bilden, ist
der Endzweck dieser Winzigkeit. Nur so kann es seine Hauptaufgabe erfüllen,
möglichst schnell möglichst viel Sauerstoff aufzunehmen und abzugeben sowie
nebenbei das Kohlendioxyd in die Lunge zu transportieren zur Ausatmung. Das
rote Blutkörperchen ist 0,008 Milimeter groß, trotzdem wurde es bereits
1658 entdeckt. Es lebt hundert Tage, dann wird es gefressen und in seinen
Einzelteilen wiederverwendet vom Körper. 25 Billionen roter Blutkörperchen
kreisen im Blutstrom. Täglich sterben 250 Milliarden und ebenso viele
werden neu gebildet.
Herr Rapoport sitzt in seinem Lehnstuhl, die Hände auf dem Knie
übereinander gelegt, und beginnt in einem sehr feinen, weichen, manchmal
leisen Wienerisch zu erzählen. Besonders leise spricht er, wenn es um seine
Verdienste geht, von denen es zahlreiche gibt. Von einigen soll berichtet
werden, zuerst von den frühen Arbeiten, denen er das US-Stipendium
verdankte:
„... damals in Wien war es einfach so, der Zufall wollte es, dass ich eine
Methode fand durch Farbreaktion die Phosphoglycerinsäure zu bestimmen, das
war überhaupt nicht schwierig, aber diese Arbeit hatte einen unangenehmen
Teil, durch die Anwendung von konzentrierter Schwefelsäure. Sie können sich
vorstellen, wie alles durchlöchert wurde. Wie ich darauf kam? Es war der
berühmte Engländer Haidane, der sogar in Selbstversuchen die Sache
erforschte. Er wollte wissen, was passiert, wenn der Mensch sich sauer
macht oder alkalisch, den Körper also ansäuert oder ins Gegenteil versetzt
– was ja ein Eingriff ist in das sehr wichtige Gleichgewicht. Und er fand
starke Veränderungen. Welche? Bei Säuerung nimmt das Phosphat ab. Sie
können es auch so ausdrücken, lassen Sie das alkalisch weg, sagen Sie
einfach: Wenn der Mensch sauer wird, dann nimmt die Menge des organischen
Phosphats ab ...“ Frau Rapoport ergänzt: „In den roten Blutkörperchen, und
ihre Lebensdauer verkürzt sich dadurch.“ Herr Rapoport fährt in
unveränderter Tonlage fort: „Man wusste gar nicht genau, was organische
Phosphatverbindungen sind, man wusste ungefähr ihre Summe, ja. Und da kam
mir die Idee, dass sich diese unbekannten Phosphate vielleicht durch meine
Methode bestimmen lassen könnten, durch diese Färbemethode. Das erwies sich
dann als richtig. Zusammenfassend kann man sagen ... wiesen meine Arbeiten
die Identität des organischen Phosphats nach ...“ Frau Rapoport flicht ein:
„Und die Umstände, unter denen die Mengen sich verändern ...“ Er fährt
fort: „... und später auch, wie man die Wiederherstellung des Phosphats
beschleunigen kann. Ich höre jetzt auf ...“
Gebeten, die Bedeutung dieser Forschungsarbeit näher zu beschreiben, sagt
er: „Das war eine Art ‚Sesam öffne dich‘, ich hatte einen Schlüssel
gefunden zum Stoffwechsel der roten Blutzellen.“ Frau Rapoport ergänzt: „Zu
den Stoffwechselwegen.“ Doch Herr Rapoport verneint: „Vorläufig noch nicht,
das kam erst später. Was ich gefunden hatte, war ganz unerklärlich, das
wusste niemand. Aber es fiel in eine revolutionäre Zeit des Umbruchs, vom
Nichtwissen zum Wissen auf diesem Gebiet, das war dramatisch, man entdeckte
die Stoffwechselwege, wusste, dass das bestimmte Zyklen sind,
Kreisprozesse, dass es eine komplizierte Mehrstufigkeit gibt – dass es
mehrstufig ist, hatte man bis dahin überhaupt nicht gewusst. Also, dieser
große Abbauzyklus – der Ablauf des Zuckerabbaus – er wird Glykolyse
genannt, trägt den Namen der Entdecker: Embden und Meyerhof. Dieser
Abbauweg der Glucose ist verbindlich, er vollzieht sich beispielsweise im
Muskel, er vollzieht sich im Prinzip auf die gleiche Weise in der gesamten
lebenden Natur, von der Hefe bis zum Menschen; das ist also der große
Abbauweg. Später habe ich dann einen Nebenweg dieses Hauptweges aufgedeckt,
bezogen auf die Prozesse im roten Blutkörperchen. Das war ein kleines,
zusätzliches Detail ...“ Kaum verständlich, murmelt er etwas von einem
Sowieso-Zyklus. Auf Nachfrage sagt er widerstrebend: „Das Detail bekam den
Namen Rapoport-Luebering-Zyklus. Ich wurde oft gefragt, wer ist Luebering?
Frau Luebering war eine sehr liebe und interessierte technische
Assistentin, als solche beteiligt, deshalb habe ich sie auch als Co-Autor
genannt. Später ist sie leider durch Heirat ... Aber ihr Name ist
unsterblich geworden.“ Herr Rapoport ändert leicht die Haltung seiner
Hände, die immer noch auf dem Knie seines übergeschlagenen Beines ruhen.
Überhaupt wirken Rapoports ruhig und gelassen, sie zappeln gar nicht,
gestikulieren wenig – er übrigens stets mit der linken Hand, während sie,
meist schweigend, aber nicht schlaff, den Gang der Dinge fast bewegungslos
verfolgt. „Um das abzuschließen“, sagt er, „erst jetzt, also zehn Jahre
später in Amerika, bestätigte sich das, was ich in Wien herausgefunden
hatte. Mehr noch, erst jetzt wusste ich, wie das vor sich geht, erkannte
den Mechanismus ... So ist es oft in der Wissenschaft. Sie müssen sich das
folgendermaßen vorstellen: Sie beobachten die Blitze, Sie lernen den
Blitzableiter kennen – und vielleicht sogar den Blitz zu verwenden –, aber
Sie wissen eigentlich nichts vom Blitz und was sein Schicksal ist in der
Erde, nach dem Einschlag.“
„Was fällt mir noch ein ...“ Herr Rapoport schweigt und blickt zur Decke.
Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens beginnt er zu erzählen: „Im Krieg,
da war ich tätig zum Problem der Blutkonservierung. Der Nationale
Forschungsrat in Washington hatte mehrere Labors im ganzen Lande damit
beauftragt, eine bessere Blutkonservierungsmethode zu finden.“ Auf die
Frage, ob er sie gefunden habe, antwortet er murmelnd in seinen Schoß
hinab: „Jaa ... ich hab’s gefunden. Dazu muss man die Geschichte vielleicht
etwas näher betrachten. Die ersten Blutkonservierungsversuche nach dem
Ersten Weltkrieg waren bescheiden. Man hat einfach nur Natrium citricum zur
Verhinderung der Blutgerinnung dazu getan. Na ja, nach sieben Tagen war es
hinüber, unbrauchbar. Dann hat man versucht, durch Zugabe von Glucose die
Haltbarkeit zu verlängern. Man konnte so ein wenig länger den Stoffwechsel
der roten Blutkörperchen erhalten. Dieses Blut hielt dann 12 bis 13 Tage.
Das war der Stand der Dinge. Und dann kam sozusagen mein Beitrag. Zu der
Zeit wusste ich schon, dass die Phosphoglycerinsäure eine Quelle war, aus
der die Synthese der Energiesubstanz gespeist wird, die man ATP nennt. Als
Erster entdeckte es übrigens Karl Lohmann aus Berlin ...“ Eine kleine Pause
entsteht, die schwarze Katze kauert nun am Rand des Goldfischbeckens und
beugt sich plötzlich weit hinunter zum Wasser. „Na ja“, fährt Herr Rapopo…
fort, „das habe ich dann festgestellt, dass diese Phosphoglycerinsäure –
unter bestimmten Bedingungen – in der Lage ist, wenn man die Blutzellen
etwas ansäuert, ATP zu erhalten bzw. zusätzlich zu liefern, aufzubauen. Die
Phosphoglycerinsäure funktioniert wie ein Speicher, sie ist ein Speicher,
besser gesagt. Und ich habe diese Idee auf die Blutkonservierung angewandt.
Damit war es dann möglich, durch ein Konservierungsmedium, das ACD
(Acid-Citrate-Dextrose), oder anders gesagt, durch ein saures
Citrat-Glucose-Medium, die Blutkonserven 21 bis 30 Tage aufzubewahren und
gebrauchsfähig zu halten. Das war dann der Standard für die nächsten ... na
sagen wir, 10 bis 15 Jahre. Die ACD-Lösung ist bis heute weltweit im
Gebrauch. Heute liegt die Haltbarkeit übrigens bei mindestens vier Wochen,
es gibt nun noch weitere Zusätze.“
Auf die Frage, was eigentlich passiert mit dem Blut, was es unbrauchbar
macht, erklärt Herr Rapoport: „Die roten Blutzellen verlieren durch
Energieverlust ihre Lebensfähigkeit – der begrenzende Faktor für die
Haltbarkeit des Blutes ist immer das ATP – und bereits geschwächte
Blutzellen können dann im Körper des Empfängers ja nicht überleben. Das
musste genau untersucht werden, man sieht es ihnen nämlich nicht an, wenn
sie unbrauchbar geworden sind. Man hat gewisse Konventionen getroffen. Wenn
nicht mindestens 70 Prozent der roten Blutzellen über mindestens 24 Stunden
lang im Empfängerblut lebendig bleiben, ist das Spenderblut unbrauchbar und
muss weg.“ Wir fassen zusammen: Das bedeutet also, dass die Blutkonserven,
die im Zweiten Weltkrieg an amerikanische Soldaten verabreicht wurden,
allesamt nach der Methode Rapoports haltbar gemacht waren. Für einen
Kommunisten, Antifaschisten und Juden sicherlich eine gewisse Genugtuung.
Herr Rapoport lächelt hintergründig und sagt: „Na ja, das war das, was ich
noch beitragen konnte, als Nutzeffekt meines theoretischen Forschens ... In
Deutschland übrigens waren sie noch lange nicht so weit. Sie haben es nie
versucht. Man benutzte einfach noch die alte, allererste Nachkriegsmethode,
sieben Tage Haltbarkeit. Ansonsten war die gebräuchlichste Blutkonserve in
Deutschland vor allem der Mensch, in Form von Direktübertragung vom Spender
zum Empfänger.“ Auf den Einwurf, dass diese totale Rückständigkeit des
Bluttransfusionswegens für ein Land, das das „Gesetz zum Schutze des
deutschen Blutes“ erließ und eine derart gnadenlose Bluttümelei an den Tag
legte, doch eigentlich verwunderlich sei, sagt Herr Rapoport: „Nein, gar
nicht! Denn diese Art von Irrationalismus führte ja gerade dazu, dass man
das Blut auf keinen Fall anonymisieren wollte, sodass man es gar nicht erst
angetastet hat zu diesem Zweck. Außerdem wusste man natürlich gar nichts.
Es waren ja vor allem Kliniker und Chirurgen, die zuständig waren, die
Forscher sind ja fast alle weg gewesen ... Das war aber nur ein Grund. Es
war ja auch vorher in den USA so, dass die Blutbanken von den Chirurgen
geführt wurden. Sie maßten sich an, alles direkt am Operationstisch
entscheiden zu können, auch, ob das Blut gut ist oder nicht. Da ist so
manches schief gegangen ... In Sizilien sind damals tausende von Menschen
gestorben – das ist eine tolle Geschichte aus den Kriegsjahren ... in den
USA ... also ich kenne sie nur vom Hörensagen. Es wurde alles unheimlich
unter dem Tisch gehalten und nie veröffentlicht.“ Auf die Frage, woran die
Leute in Sizilien starben, sagt Herr Rapoport: „An der Zerstörung des
Blutes, weil das Blut bereits zu alt war. Und die Übertragung hat dann die
Nieren geschädigt ...“ Frau Rapoport fügt hinzu: „Crush-Syndrom heißt da…
und buchstabiert, damit es keine Missverständnisse gibt. Herr Rapoport
fährt fort: „Da gab’s damals so einiges. Verbrecher und Schwindler waren
beteiligt ... Da war einer, der hat also einen Sirup verwendet als
Konservierungsmittel – er war nicht mal so schlecht –, der Mann hatte die
Blutbank in New York geleitet und sich solche gestrandeten Existenzen aus
der Bowery besorgt – das war damals ein heruntergekommener Stadtteil in New
York, an der Spitze von Manhattan, unterhalb der Wall Street. Den armen
Schluckern wurde in einem städtischen Krankenhaus Blut abgezapft, sie
bekamen einen Drink und sind dann ungefähr innerhalb der nächsten Stunde
kollabiert. Daraufhin wurde ihnen eine Bluttransfusion verabreicht, die
teuer war und von der Stadt bezahlt werden musste. Die Armen bekamen eine
ganze Kleinigkeit an Geld dafür, und er verdiente an jeder Bluteinheit ...
ich weiß nicht wie viel ... Das ist dann aufgekommen.“
Er schweigt für einen Moment und betrachtet sinnend seine Hände. Die
schwarze Katze liegt nun am Rande des Goldfischbeckens mit erhobenem Kopf.
„Na ja“, sagt Herr Rapoport, „am Ende jedenfalls wurde meine Methode, die
ACD-Solution, in den USA eingeführt und durchgesetzt mit Hilfe von
Inspektoren – oft gegen den Willen vieler Chirurgen. Das Verfahren wurde
standardisiert. Und übrigens – und das ist vielleicht wirklich
erwähnenswert – nicht patentiert ... genauso wenig wie 1921 die
Insulinentdeckung. Das wäre vollkommen undenkbar gewesen, nach den
Auffassungen dieser Zeit. Es gab so ein Ethos, medizinischer Fortschritt
wurde nicht patentiert. Aber anerkannt wurde er natürlich schon, von der
Fachwelt ... Rapoport war Experte für rote Blutkörperchen!“ Er lacht, denn
meine Definition des Experten ist ihm ein Dorn im Auge (womit er, was ihn
betrifft, nur zu Recht hat). Frau Rapoport meldet sich energisch zu Wort:
„Es war ja nicht nur so, dass du die Anerkennung der Fachwelt hattest, du
wurdest ja auch ausgezeichnet“, und an uns gewandt erklärt sie, „er wurde
dann geehrt – denn durch diese revolutionäre Neuerung konnten ja tausende
von verwundeten Soldaten lebensrettende Blutkonserven zur Verfügung
gestellt werden. Es war eine Ehrung mit allem militärischen Pomp, und er
bekam das Certificate of Merit von Präsident Truman im Jahr 1947. Und dabei
war kurz zuvor ein Dossier über die politischen Aktivitäten meines Mannes
überprüft worden. Aber da war man in Washington offenbar noch nicht so
vernetzt ..., sonst wäre es zu dieser Auszeichnung vielleicht gar nicht
gekommen.“
Nicht nur die Beschäftigung mit dem Blut und den roten Blutkörperchen zieht
sich wie ein roter Faden durch Herrn Rapoports mäandernden Lebenslauf, auch
eine damit zusammenhängende seltsame Verknüpfung von Personen und
Ereignissen fällt auf. Er bekam das President Certificate zusammen mit
Georg Guest, jenem amerikanischen Professor, der ihn damals in Wien zum
Stipendium nach Amerika eingeladen und damit vor den Nazis gerettet hatte.
Und was die Verbesserung der Blutkonservierung angeht, so wäre sie kaum
denkbar gewesen ohne die biochemische Erforschung des Stoffwechsels der
Zellen bzw. ohne das Wissen um die Schlüsselsubstanz ATP, das Karl Lohmann
zu verdanken ist, der es als Erster isoliert hat. Knapp zehn Jahre, nachdem
Herr Rapoport die neue Blutkonservierungsmethode gefunden hatte, übernahm
er an der Berliner Humboldt-Universität das Institut von Karl Lohmann – und
das gezwungenermaßen. Nur deshalb, weil McCarthys Kommunistenjagd ihn aus
dem Gleis gehebelt hatte.
In der DDR befasste sich Herr Rapoport dann weiterhin mit dem roten
Blutkörperchen, und zwar, wenn ich es richtig verstanden habe, mit der
Erforschung des Untergangs von Zellstrukturen im Reticulozyten, dem
Verschwinden seiner „Organe“ im Umwandlungsprozess zum Erythrozyten und
schließlich dessen Todesumstände. Er widmete sich seinen Studenten, er
veranstaltete in Berlin internationale Symposien über die roten
Blutkörperchen. Alle drei Jahre einmal. Herr Rapoport erinnert sich: „...
bei einer solchen Gelegenheit tauchte dann ein Oberst Valery auf,
Spezialist für Blutkonservierung bei der amerikanischen Marine. Er trug
Gala-Uniform! Na, das war vielleicht ein Aufsehen, sofort forschte die
Staatssicherheit nach, was denn da los ist bei uns – das ganze wurde vom
Ministerium für Gesundheitswesen unterstützt, und es war natürlich zu
befürchten, dass wenn es Probleme gibt ... Na gut, wir haben es überlebt
...“ Er lächelt und sagt nach einer kleinen Pause. „Die Wissenschaft
verändert sich in großer Geschwindigkeit. Es gibt jetzt übrigens eine
umfangreiche Forschung zum Selbstmord von Zellen, da spielen die weißen
Blutkörperchen eine große Rolle, man weiß jetzt, dass es mindestens zehn
verschiedene Wege gibt.“ Elisabeth fragt: „Wie stellt man sich das vor als
Laie, es muss ja irgendwo im Körper eine Instanz ...“, er verneint sofort,
„... die entscheidet, wer stirbt jetzt wo ab?“ Herr Rapoport sagt erst
ernst und dann amüsiert: „Es ist eine Verflechtung, eine Demokratie ...
Wenn Sie so wollen, demokratischer Zentralismus.“ Dann wird er wieder ernst
und fährt fort: „Ich war gerade in Boston auf einem Kongress. Schön, ich
verstehe akustisch nichts und sehen kann ich schon gar nicht, aber das war
nicht der Grund ... Was vorgetragen wird, hat sich derart komprimiert, dass
man im Nu veraltet – auch bereits in jüngeren Jahren selbstverständlich.
Heute kennt man etwa 100-mal so viele Eiweiße wie zu der Zeit, als ich
aktiv war. Man benutzt die verrücktesten Abkürzungen, die selbst mein Sohn
Schwierigkeiten hat zu verstehen. Und da entsteht wirklich die Frage, die
große Frage nach der Zersplitterung der Wissenschaft, das ist eine große
Gefahr ... Aber lassen wir das, das ist wieder ein anderes Thema.“
Die schwarze Katze kommt hereinspaziert, so als wüsste sie, dass beide
Gäste im Aufbruch sind. Sie lässt sich streicheln, schnurrt und schmiegt
sich eng an die Beine des Hausherrn, dann springt sie auf den Schoß ihrer
Herrin. Unser Gastgeber lächelt sanft zur Katze hin. Ein freundlicher alter
Herr. Er lebte als Kind sieben Jahre in Russland, 18 Jahre in Wien, 13
Jahre in Amerika, zwei Jahre in Wien, 39 Jahre in der DDR und nun, zum
Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes, fast elf Jahre in Deutschland;
in das er und seine Frau eigentlich nie hatten zurückkehren wollen.
31 Jul 2000
## AUTOREN
GABRIELE GOETTLE
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