# taz.de -- Ein ganz besonderer Saft | |
> Die geliebten roten Blutkörperchen | |
von GABRIELE GOETTLE | |
S. M. Rapoport, em. Univ. Prof., eh. Dir. d. Bioch. Inst. d. Humb. Uni., | |
Dr. med., 36, Dr. phil., 39, Habil, 42, 3 x Dr. h. c. Erh. zahlr. Ehr. u. | |
Ausz., u. a. d. President Certificate of Merit, 47, d. Vaterland. | |
Verdienstord. d. DDR, 59 – Hufeland-Medaille, Arthur-Becker-Medaille i. | |
Gold, 62, Mitgl. div. Ges., u. a. Berl. Physiol. Ges. f. Physiol. Chem., | |
Amer. Soc. f. Pediatr. Res., Soc. f. Clinic. Investig. Physiol. Chem. | |
Gründer u. a. der Leibniz-Ges., 92. | |
Von Herrn Rapoport kann ich eigentlich nicht erzählen, ohne zuvor etwas | |
genauer auf seine Lebensumstände einzugehen. Darum ein kurzer Blick auf den | |
Lebenslauf dieses Experten: Samuel Mitja Rapoport wurde 1912 im alten | |
Russland geboren, in einem Ort an der Grenze zu Österreich-Ungarn. Der | |
Vater war Weizenhändler, ein frommer, aber nicht orthodoxer Jude, die | |
Mutter, aus liberalem Hause, war nicht fromm, beachtete aber den Sabbat und | |
die hohen jüdischen Fest- und Feiertage. Man sprach russisch und jiddisch. | |
Der kleine Mitja ging zur Thoraschule, wie es üblich war. 1919 war seine | |
behütete Kindheit fürs Erste vorbei. Die Eltern flohen vor den Wirren der | |
Oktoberrevolution, es gelang ihnen, vom letzten auslaufenden Frachtschiff | |
nach Triest mitgenommen zu werden. In der Nacht sah der Knabe vom sich | |
entfernenden Schiff aus, wie die Munitionslager von Odessa in die Luft | |
flogen. Zweifellos ein starkes Erlebnis. | |
Als man nach vielen Strapazen endlich in Wien ankam, fingen die neuen | |
Probleme sofort an. Der Knabe und seine Schwester sprachen nur russisch und | |
etwas hebräisch, Wohnung und Arbeit mussten gefunden werden. Aber alles | |
ging gut, Mitja Rapoport lernte recht unwillig alles Erforderliche, machte | |
Abitur, studierte. Mit 19 trat er der Sozialistischen Partei bei, | |
beteiligte sich 1934 am Februaraufstand gegen die rechtsradikale Heimwehr. | |
Danach wechselte er in die Kommunistischen Partei, beteiligte sich neben | |
dem Studium an illegalen Aktionen, promovierte und forschte. Währenddessen | |
entschloss sich 1937 ein amerikanischer Biologieprofessor namens Guest zu | |
einer Europareise, bei der ihm durch einen glücklichen Zufall auch die | |
wissenschaftlichen Arbeiten des jungen Dr. Rapoport vor Augen kamen. Sein | |
Interesse war derart groß, dass er ihn zu einem einjährigen Stipendium nach | |
Amerika einlud. Aus bekannten Gründen wurde aus dem Studienaufenthalt eine | |
Emigration. Nach fünf Jahren wurde er eingebürgert, erhielt einen Pass. Er | |
arbeitete an einem renommierten Forschungsinstitut in Cincinnati in der | |
biochemischen Abteilung der Research Foundation, war verheiratet und | |
Mitglied der KP der USA. | |
1946 heiratete er in zweiter Ehe die Kinderärztin Ingeborg Syllm, die als | |
rassisch Verfolgte Deutschland hatte verlassen müssen. Professor Rapoport | |
war erfolgreich als Forscher und auch als Arzt in der Klinik. Eigentlich | |
hätte er eine glänzende Karriere machen müssen, aber bereits 1950 fand der | |
Traum von einer glücklichen, gesicherten Zukunft in der neuen Heimat ein | |
jähes Ende. Er sollte vorgeladen werden vor McCarthys „Komitee für | |
unamerikanische Aktivitäten“. Das bedeutete Gefängnis, denn | |
Aussageverweigerung galt als Missachtung des Gerichtes und musste | |
entsprechend gesühnt werden. Also flüchtete er mit seiner hochschwangeren | |
Frau und drei Kindern nach Europa zurück und versuchte an der Universität | |
Wien unterzukommen. Dort intervenierte der CIC gegen eine Einstellung | |
Rapoports mit der Drohung, der Uni Wien die US-Subventionen zu streichen. | |
Sein Pass wurde eingezogen wie bei allen amerikanischen Kommunisten. | |
Zusätzlich wurde er noch ausgebürgert. Man wollte ihn also nicht in Wien. | |
Auch nicht in der Sowjetunion, wo er wegen des Amerikaaufenthaltes | |
missliebig war. Man wollte ihn nicht in der Schweiz und nicht in Albanien. | |
Nach zwei Jahren endlich erhielt er ein Angebot für die DDR und nahm sofort | |
an. | |
Dort bekam er einen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität und sein eigenes | |
Institut für Biochemie. Zwar hätte er lieber Forschungsarbeit gemacht, | |
aber, wie schon so oft, musste Herr Rapoport sich mit Tätigkeiten befassen, | |
gegen die er anfangs starke Widerstände hatte. In Amerika war es die | |
praktische Arbeit am Krankenbett, in der DDR nun die Verpflichtung zur | |
Lehre. Mit der ihm eigenen Gründlichkeit und Liebenswürdigkeit führte er an | |
seinem Institut moderne amerikanische Methoden in Forschung und Lehre ein, | |
unkonventionellen Seminarbetrieb und offene Umgangsformen zwischen | |
Lehrkörper und Studenten. Erst zehn Jahre später bekämpfte man im Westen | |
unter den Talaren den Muff von tausend Jahren. Rapoports Studenten genossen | |
bereits in den 50er-Jahren große Freiheiten. Er schrieb ein viel beachtetes | |
Lehrbuch für „Medizinische Biochemie“, das vorn eine Widmung enthält: „… | |
Studenten, deren Nichtwissen und Neugierde der ständige Stachel eines | |
Lehrers sind“. Gebräuchlich sind allenfalls feierliche Zitate. Dieser | |
ungewöhnliche Professor richtete sich also wieder einmal in einer neuen | |
Heimat ein. Die Familie bekam ein schlichtes Siedlungshäuschen in | |
Niederschönhausen zugewiesen, in der so genannten „Intelligenz-Siedlung“, | |
so genannt, weil dort vor allem Künstler und Wissenschaftler untergebracht | |
wurden und zwar besonders solche, die aus den Konzentrationslagern und der | |
Emigration zurückgekommen waren. | |
An einem schwülen Julitag, fast 50 Jahre später, sitzen Rapoports im | |
Wohnzimmer ihres Siedlungshäuschens und geben zwei wildfremden Damen – | |
anfangs misstrauisch, später freundlich und geduldig – Auskunft über Leben | |
und Arbeit. Das Wohnzimmer ist schmal, wird im einen Teil dominiert von | |
einem schwarzen Flügel, auf dem die Käsesahnetorte steht, im anderen von | |
einer Sitzecke mit Couch und Sesseln. Über der Couch hängen zwei | |
Farbholzschnitte von Hokusai, graublau, wie verblasst. Originale in dicken | |
Passepartouts. Außer einem schwarzen Deckenfluter ist nichts von dem | |
üblichen Kram, den jeder heute haben muss, zu entdecken. Durch die große | |
Glastür blickt man in den Garten hinaus, auf ein Goldfischbecken voller | |
Seerosen, an dessen Rand eine schwarze Katze sitzt und ins Wasser blickt. | |
Herr Rapoport ist ein Wissenschaftler wie aus dem Bilderbuch. Er ist | |
verliebt in seinen Forschungsgegenstand und konnte noch in Zeiten arbeiten, | |
in denen die Wissenschaft weder so zerstückelt war noch unter solch einem | |
Konkurrenz- und Erfolgsdruck stand wie heute. Er konnte sich noch Zeit | |
nehmen, auch zur Freude an der Arbeit, sofern man ihn ließ. Lebenslang | |
waren die roten Blutkörperchen sein wesentliches Forschungsobjekt. Er | |
erklärt: „Mein Interesse an den roten Blutzellen hat zwei Wurzeln. Die | |
erste: Das Blut als Untersuchungsgebiet ist leicht zugänglich; man hat es | |
praktisch immer bei sich. Die zweite: Warum ich es lieb gewonnen habe, | |
liegt an seiner Einfachheit. Ich genieße es, übersichtliche, klare | |
Verhältnisse zu haben.“ Bevor aber der Wissenschaftler endgültig zu Wort | |
kommt, will ich versuchen – zur besseren Verständlichkeit des Folgenden – | |
auch seinen Forschungsgegenstand durch einen kleinen Lebenslauf | |
vorzustellen. | |
Das Blut ist Haupttransportmittel des Organismus, seine Hauptaufgabe ist | |
die Beförderung des Sauerstoffs von den Lungen ins Gewebe. Es ist wässrig | |
und enthält unter anderem die roten und die weißen Blutkörperchen, wobei | |
die roten Blutkörperchen den Hauptanteil ausmachen am Gesamtvolumen des | |
Blutes. Ihre Brutstätte ist das Knochenmark, wo sie in komplizierter Weise | |
heranwachsen. Im Frühstadium besitzen sie noch einen Zellkern, der aber | |
später ausgestoßen wird. Im kernlosen Stadium atmen sie noch und werden | |
Reticulozyten genannt. Aber auch das Atmen geben sie auf, verlieren ihre | |
Atmungsorgane, die Mitochondrien, und verwandeln sich innerhalb von nur ein | |
bis zwei Tagen in ein anderes Wesen. In eine Zelle, die ihre lebenswichtige | |
Energie nun durch Zuckerabbau herstellt, durch Glykolyse. Ihr Stoffwechsel | |
arbeitet jetzt mit Gärung, also ohne Verbrauch von Sauerstoff. Und bei | |
diesem Gährungsprozess entsteht der notwendige universelle | |
Energielieferant: das ATP. Es ist die wichtigste energiespeichernde | |
Substanz im Körper, eine Art Energiekonserve oder „Zellakku“. Sein | |
Entdecker, Lohmann, wird im weiteren Text noch eine Rolle spielen. Derart | |
ausgestattet und mit viel Hämoglobin gelangt das rote Blutkörperchen, das | |
nun ein „erwachsener“ Erythrozyt ist, in den Blutstrom. Seine Gestalt ist | |
dropsförmig, mit einer Delle auf jeder Seite, es ist sehr geschmeidig, | |
biegsam, elastisch und winzig klein. Eine große Oberfläche zu bilden, ist | |
der Endzweck dieser Winzigkeit. Nur so kann es seine Hauptaufgabe erfüllen, | |
möglichst schnell möglichst viel Sauerstoff aufzunehmen und abzugeben sowie | |
nebenbei das Kohlendioxyd in die Lunge zu transportieren zur Ausatmung. Das | |
rote Blutkörperchen ist 0,008 Milimeter groß, trotzdem wurde es bereits | |
1658 entdeckt. Es lebt hundert Tage, dann wird es gefressen und in seinen | |
Einzelteilen wiederverwendet vom Körper. 25 Billionen roter Blutkörperchen | |
kreisen im Blutstrom. Täglich sterben 250 Milliarden und ebenso viele | |
werden neu gebildet. | |
Herr Rapoport sitzt in seinem Lehnstuhl, die Hände auf dem Knie | |
übereinander gelegt, und beginnt in einem sehr feinen, weichen, manchmal | |
leisen Wienerisch zu erzählen. Besonders leise spricht er, wenn es um seine | |
Verdienste geht, von denen es zahlreiche gibt. Von einigen soll berichtet | |
werden, zuerst von den frühen Arbeiten, denen er das US-Stipendium | |
verdankte: | |
„... damals in Wien war es einfach so, der Zufall wollte es, dass ich eine | |
Methode fand durch Farbreaktion die Phosphoglycerinsäure zu bestimmen, das | |
war überhaupt nicht schwierig, aber diese Arbeit hatte einen unangenehmen | |
Teil, durch die Anwendung von konzentrierter Schwefelsäure. Sie können sich | |
vorstellen, wie alles durchlöchert wurde. Wie ich darauf kam? Es war der | |
berühmte Engländer Haidane, der sogar in Selbstversuchen die Sache | |
erforschte. Er wollte wissen, was passiert, wenn der Mensch sich sauer | |
macht oder alkalisch, den Körper also ansäuert oder ins Gegenteil versetzt | |
– was ja ein Eingriff ist in das sehr wichtige Gleichgewicht. Und er fand | |
starke Veränderungen. Welche? Bei Säuerung nimmt das Phosphat ab. Sie | |
können es auch so ausdrücken, lassen Sie das alkalisch weg, sagen Sie | |
einfach: Wenn der Mensch sauer wird, dann nimmt die Menge des organischen | |
Phosphats ab ...“ Frau Rapoport ergänzt: „In den roten Blutkörperchen, und | |
ihre Lebensdauer verkürzt sich dadurch.“ Herr Rapoport fährt in | |
unveränderter Tonlage fort: „Man wusste gar nicht genau, was organische | |
Phosphatverbindungen sind, man wusste ungefähr ihre Summe, ja. Und da kam | |
mir die Idee, dass sich diese unbekannten Phosphate vielleicht durch meine | |
Methode bestimmen lassen könnten, durch diese Färbemethode. Das erwies sich | |
dann als richtig. Zusammenfassend kann man sagen ... wiesen meine Arbeiten | |
die Identität des organischen Phosphats nach ...“ Frau Rapoport flicht ein: | |
„Und die Umstände, unter denen die Mengen sich verändern ...“ Er fährt | |
fort: „... und später auch, wie man die Wiederherstellung des Phosphats | |
beschleunigen kann. Ich höre jetzt auf ...“ | |
Gebeten, die Bedeutung dieser Forschungsarbeit näher zu beschreiben, sagt | |
er: „Das war eine Art ‚Sesam öffne dich‘, ich hatte einen Schlüssel | |
gefunden zum Stoffwechsel der roten Blutzellen.“ Frau Rapoport ergänzt: „Zu | |
den Stoffwechselwegen.“ Doch Herr Rapoport verneint: „Vorläufig noch nicht, | |
das kam erst später. Was ich gefunden hatte, war ganz unerklärlich, das | |
wusste niemand. Aber es fiel in eine revolutionäre Zeit des Umbruchs, vom | |
Nichtwissen zum Wissen auf diesem Gebiet, das war dramatisch, man entdeckte | |
die Stoffwechselwege, wusste, dass das bestimmte Zyklen sind, | |
Kreisprozesse, dass es eine komplizierte Mehrstufigkeit gibt – dass es | |
mehrstufig ist, hatte man bis dahin überhaupt nicht gewusst. Also, dieser | |
große Abbauzyklus – der Ablauf des Zuckerabbaus – er wird Glykolyse | |
genannt, trägt den Namen der Entdecker: Embden und Meyerhof. Dieser | |
Abbauweg der Glucose ist verbindlich, er vollzieht sich beispielsweise im | |
Muskel, er vollzieht sich im Prinzip auf die gleiche Weise in der gesamten | |
lebenden Natur, von der Hefe bis zum Menschen; das ist also der große | |
Abbauweg. Später habe ich dann einen Nebenweg dieses Hauptweges aufgedeckt, | |
bezogen auf die Prozesse im roten Blutkörperchen. Das war ein kleines, | |
zusätzliches Detail ...“ Kaum verständlich, murmelt er etwas von einem | |
Sowieso-Zyklus. Auf Nachfrage sagt er widerstrebend: „Das Detail bekam den | |
Namen Rapoport-Luebering-Zyklus. Ich wurde oft gefragt, wer ist Luebering? | |
Frau Luebering war eine sehr liebe und interessierte technische | |
Assistentin, als solche beteiligt, deshalb habe ich sie auch als Co-Autor | |
genannt. Später ist sie leider durch Heirat ... Aber ihr Name ist | |
unsterblich geworden.“ Herr Rapoport ändert leicht die Haltung seiner | |
Hände, die immer noch auf dem Knie seines übergeschlagenen Beines ruhen. | |
Überhaupt wirken Rapoports ruhig und gelassen, sie zappeln gar nicht, | |
gestikulieren wenig – er übrigens stets mit der linken Hand, während sie, | |
meist schweigend, aber nicht schlaff, den Gang der Dinge fast bewegungslos | |
verfolgt. „Um das abzuschließen“, sagt er, „erst jetzt, also zehn Jahre | |
später in Amerika, bestätigte sich das, was ich in Wien herausgefunden | |
hatte. Mehr noch, erst jetzt wusste ich, wie das vor sich geht, erkannte | |
den Mechanismus ... So ist es oft in der Wissenschaft. Sie müssen sich das | |
folgendermaßen vorstellen: Sie beobachten die Blitze, Sie lernen den | |
Blitzableiter kennen – und vielleicht sogar den Blitz zu verwenden –, aber | |
Sie wissen eigentlich nichts vom Blitz und was sein Schicksal ist in der | |
Erde, nach dem Einschlag.“ | |
„Was fällt mir noch ein ...“ Herr Rapoport schweigt und blickt zur Decke. | |
Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens beginnt er zu erzählen: „Im Krieg, | |
da war ich tätig zum Problem der Blutkonservierung. Der Nationale | |
Forschungsrat in Washington hatte mehrere Labors im ganzen Lande damit | |
beauftragt, eine bessere Blutkonservierungsmethode zu finden.“ Auf die | |
Frage, ob er sie gefunden habe, antwortet er murmelnd in seinen Schoß | |
hinab: „Jaa ... ich hab’s gefunden. Dazu muss man die Geschichte vielleicht | |
etwas näher betrachten. Die ersten Blutkonservierungsversuche nach dem | |
Ersten Weltkrieg waren bescheiden. Man hat einfach nur Natrium citricum zur | |
Verhinderung der Blutgerinnung dazu getan. Na ja, nach sieben Tagen war es | |
hinüber, unbrauchbar. Dann hat man versucht, durch Zugabe von Glucose die | |
Haltbarkeit zu verlängern. Man konnte so ein wenig länger den Stoffwechsel | |
der roten Blutkörperchen erhalten. Dieses Blut hielt dann 12 bis 13 Tage. | |
Das war der Stand der Dinge. Und dann kam sozusagen mein Beitrag. Zu der | |
Zeit wusste ich schon, dass die Phosphoglycerinsäure eine Quelle war, aus | |
der die Synthese der Energiesubstanz gespeist wird, die man ATP nennt. Als | |
Erster entdeckte es übrigens Karl Lohmann aus Berlin ...“ Eine kleine Pause | |
entsteht, die schwarze Katze kauert nun am Rand des Goldfischbeckens und | |
beugt sich plötzlich weit hinunter zum Wasser. „Na ja“, fährt Herr Rapopo… | |
fort, „das habe ich dann festgestellt, dass diese Phosphoglycerinsäure – | |
unter bestimmten Bedingungen – in der Lage ist, wenn man die Blutzellen | |
etwas ansäuert, ATP zu erhalten bzw. zusätzlich zu liefern, aufzubauen. Die | |
Phosphoglycerinsäure funktioniert wie ein Speicher, sie ist ein Speicher, | |
besser gesagt. Und ich habe diese Idee auf die Blutkonservierung angewandt. | |
Damit war es dann möglich, durch ein Konservierungsmedium, das ACD | |
(Acid-Citrate-Dextrose), oder anders gesagt, durch ein saures | |
Citrat-Glucose-Medium, die Blutkonserven 21 bis 30 Tage aufzubewahren und | |
gebrauchsfähig zu halten. Das war dann der Standard für die nächsten ... na | |
sagen wir, 10 bis 15 Jahre. Die ACD-Lösung ist bis heute weltweit im | |
Gebrauch. Heute liegt die Haltbarkeit übrigens bei mindestens vier Wochen, | |
es gibt nun noch weitere Zusätze.“ | |
Auf die Frage, was eigentlich passiert mit dem Blut, was es unbrauchbar | |
macht, erklärt Herr Rapoport: „Die roten Blutzellen verlieren durch | |
Energieverlust ihre Lebensfähigkeit – der begrenzende Faktor für die | |
Haltbarkeit des Blutes ist immer das ATP – und bereits geschwächte | |
Blutzellen können dann im Körper des Empfängers ja nicht überleben. Das | |
musste genau untersucht werden, man sieht es ihnen nämlich nicht an, wenn | |
sie unbrauchbar geworden sind. Man hat gewisse Konventionen getroffen. Wenn | |
nicht mindestens 70 Prozent der roten Blutzellen über mindestens 24 Stunden | |
lang im Empfängerblut lebendig bleiben, ist das Spenderblut unbrauchbar und | |
muss weg.“ Wir fassen zusammen: Das bedeutet also, dass die Blutkonserven, | |
die im Zweiten Weltkrieg an amerikanische Soldaten verabreicht wurden, | |
allesamt nach der Methode Rapoports haltbar gemacht waren. Für einen | |
Kommunisten, Antifaschisten und Juden sicherlich eine gewisse Genugtuung. | |
Herr Rapoport lächelt hintergründig und sagt: „Na ja, das war das, was ich | |
noch beitragen konnte, als Nutzeffekt meines theoretischen Forschens ... In | |
Deutschland übrigens waren sie noch lange nicht so weit. Sie haben es nie | |
versucht. Man benutzte einfach noch die alte, allererste Nachkriegsmethode, | |
sieben Tage Haltbarkeit. Ansonsten war die gebräuchlichste Blutkonserve in | |
Deutschland vor allem der Mensch, in Form von Direktübertragung vom Spender | |
zum Empfänger.“ Auf den Einwurf, dass diese totale Rückständigkeit des | |
Bluttransfusionswegens für ein Land, das das „Gesetz zum Schutze des | |
deutschen Blutes“ erließ und eine derart gnadenlose Bluttümelei an den Tag | |
legte, doch eigentlich verwunderlich sei, sagt Herr Rapoport: „Nein, gar | |
nicht! Denn diese Art von Irrationalismus führte ja gerade dazu, dass man | |
das Blut auf keinen Fall anonymisieren wollte, sodass man es gar nicht erst | |
angetastet hat zu diesem Zweck. Außerdem wusste man natürlich gar nichts. | |
Es waren ja vor allem Kliniker und Chirurgen, die zuständig waren, die | |
Forscher sind ja fast alle weg gewesen ... Das war aber nur ein Grund. Es | |
war ja auch vorher in den USA so, dass die Blutbanken von den Chirurgen | |
geführt wurden. Sie maßten sich an, alles direkt am Operationstisch | |
entscheiden zu können, auch, ob das Blut gut ist oder nicht. Da ist so | |
manches schief gegangen ... In Sizilien sind damals tausende von Menschen | |
gestorben – das ist eine tolle Geschichte aus den Kriegsjahren ... in den | |
USA ... also ich kenne sie nur vom Hörensagen. Es wurde alles unheimlich | |
unter dem Tisch gehalten und nie veröffentlicht.“ Auf die Frage, woran die | |
Leute in Sizilien starben, sagt Herr Rapoport: „An der Zerstörung des | |
Blutes, weil das Blut bereits zu alt war. Und die Übertragung hat dann die | |
Nieren geschädigt ...“ Frau Rapoport fügt hinzu: „Crush-Syndrom heißt da… | |
und buchstabiert, damit es keine Missverständnisse gibt. Herr Rapoport | |
fährt fort: „Da gab’s damals so einiges. Verbrecher und Schwindler waren | |
beteiligt ... Da war einer, der hat also einen Sirup verwendet als | |
Konservierungsmittel – er war nicht mal so schlecht –, der Mann hatte die | |
Blutbank in New York geleitet und sich solche gestrandeten Existenzen aus | |
der Bowery besorgt – das war damals ein heruntergekommener Stadtteil in New | |
York, an der Spitze von Manhattan, unterhalb der Wall Street. Den armen | |
Schluckern wurde in einem städtischen Krankenhaus Blut abgezapft, sie | |
bekamen einen Drink und sind dann ungefähr innerhalb der nächsten Stunde | |
kollabiert. Daraufhin wurde ihnen eine Bluttransfusion verabreicht, die | |
teuer war und von der Stadt bezahlt werden musste. Die Armen bekamen eine | |
ganze Kleinigkeit an Geld dafür, und er verdiente an jeder Bluteinheit ... | |
ich weiß nicht wie viel ... Das ist dann aufgekommen.“ | |
Er schweigt für einen Moment und betrachtet sinnend seine Hände. Die | |
schwarze Katze liegt nun am Rande des Goldfischbeckens mit erhobenem Kopf. | |
„Na ja“, sagt Herr Rapoport, „am Ende jedenfalls wurde meine Methode, die | |
ACD-Solution, in den USA eingeführt und durchgesetzt mit Hilfe von | |
Inspektoren – oft gegen den Willen vieler Chirurgen. Das Verfahren wurde | |
standardisiert. Und übrigens – und das ist vielleicht wirklich | |
erwähnenswert – nicht patentiert ... genauso wenig wie 1921 die | |
Insulinentdeckung. Das wäre vollkommen undenkbar gewesen, nach den | |
Auffassungen dieser Zeit. Es gab so ein Ethos, medizinischer Fortschritt | |
wurde nicht patentiert. Aber anerkannt wurde er natürlich schon, von der | |
Fachwelt ... Rapoport war Experte für rote Blutkörperchen!“ Er lacht, denn | |
meine Definition des Experten ist ihm ein Dorn im Auge (womit er, was ihn | |
betrifft, nur zu Recht hat). Frau Rapoport meldet sich energisch zu Wort: | |
„Es war ja nicht nur so, dass du die Anerkennung der Fachwelt hattest, du | |
wurdest ja auch ausgezeichnet“, und an uns gewandt erklärt sie, „er wurde | |
dann geehrt – denn durch diese revolutionäre Neuerung konnten ja tausende | |
von verwundeten Soldaten lebensrettende Blutkonserven zur Verfügung | |
gestellt werden. Es war eine Ehrung mit allem militärischen Pomp, und er | |
bekam das Certificate of Merit von Präsident Truman im Jahr 1947. Und dabei | |
war kurz zuvor ein Dossier über die politischen Aktivitäten meines Mannes | |
überprüft worden. Aber da war man in Washington offenbar noch nicht so | |
vernetzt ..., sonst wäre es zu dieser Auszeichnung vielleicht gar nicht | |
gekommen.“ | |
Nicht nur die Beschäftigung mit dem Blut und den roten Blutkörperchen zieht | |
sich wie ein roter Faden durch Herrn Rapoports mäandernden Lebenslauf, auch | |
eine damit zusammenhängende seltsame Verknüpfung von Personen und | |
Ereignissen fällt auf. Er bekam das President Certificate zusammen mit | |
Georg Guest, jenem amerikanischen Professor, der ihn damals in Wien zum | |
Stipendium nach Amerika eingeladen und damit vor den Nazis gerettet hatte. | |
Und was die Verbesserung der Blutkonservierung angeht, so wäre sie kaum | |
denkbar gewesen ohne die biochemische Erforschung des Stoffwechsels der | |
Zellen bzw. ohne das Wissen um die Schlüsselsubstanz ATP, das Karl Lohmann | |
zu verdanken ist, der es als Erster isoliert hat. Knapp zehn Jahre, nachdem | |
Herr Rapoport die neue Blutkonservierungsmethode gefunden hatte, übernahm | |
er an der Berliner Humboldt-Universität das Institut von Karl Lohmann – und | |
das gezwungenermaßen. Nur deshalb, weil McCarthys Kommunistenjagd ihn aus | |
dem Gleis gehebelt hatte. | |
In der DDR befasste sich Herr Rapoport dann weiterhin mit dem roten | |
Blutkörperchen, und zwar, wenn ich es richtig verstanden habe, mit der | |
Erforschung des Untergangs von Zellstrukturen im Reticulozyten, dem | |
Verschwinden seiner „Organe“ im Umwandlungsprozess zum Erythrozyten und | |
schließlich dessen Todesumstände. Er widmete sich seinen Studenten, er | |
veranstaltete in Berlin internationale Symposien über die roten | |
Blutkörperchen. Alle drei Jahre einmal. Herr Rapoport erinnert sich: „... | |
bei einer solchen Gelegenheit tauchte dann ein Oberst Valery auf, | |
Spezialist für Blutkonservierung bei der amerikanischen Marine. Er trug | |
Gala-Uniform! Na, das war vielleicht ein Aufsehen, sofort forschte die | |
Staatssicherheit nach, was denn da los ist bei uns – das ganze wurde vom | |
Ministerium für Gesundheitswesen unterstützt, und es war natürlich zu | |
befürchten, dass wenn es Probleme gibt ... Na gut, wir haben es überlebt | |
...“ Er lächelt und sagt nach einer kleinen Pause. „Die Wissenschaft | |
verändert sich in großer Geschwindigkeit. Es gibt jetzt übrigens eine | |
umfangreiche Forschung zum Selbstmord von Zellen, da spielen die weißen | |
Blutkörperchen eine große Rolle, man weiß jetzt, dass es mindestens zehn | |
verschiedene Wege gibt.“ Elisabeth fragt: „Wie stellt man sich das vor als | |
Laie, es muss ja irgendwo im Körper eine Instanz ...“, er verneint sofort, | |
„... die entscheidet, wer stirbt jetzt wo ab?“ Herr Rapoport sagt erst | |
ernst und dann amüsiert: „Es ist eine Verflechtung, eine Demokratie ... | |
Wenn Sie so wollen, demokratischer Zentralismus.“ Dann wird er wieder ernst | |
und fährt fort: „Ich war gerade in Boston auf einem Kongress. Schön, ich | |
verstehe akustisch nichts und sehen kann ich schon gar nicht, aber das war | |
nicht der Grund ... Was vorgetragen wird, hat sich derart komprimiert, dass | |
man im Nu veraltet – auch bereits in jüngeren Jahren selbstverständlich. | |
Heute kennt man etwa 100-mal so viele Eiweiße wie zu der Zeit, als ich | |
aktiv war. Man benutzt die verrücktesten Abkürzungen, die selbst mein Sohn | |
Schwierigkeiten hat zu verstehen. Und da entsteht wirklich die Frage, die | |
große Frage nach der Zersplitterung der Wissenschaft, das ist eine große | |
Gefahr ... Aber lassen wir das, das ist wieder ein anderes Thema.“ | |
Die schwarze Katze kommt hereinspaziert, so als wüsste sie, dass beide | |
Gäste im Aufbruch sind. Sie lässt sich streicheln, schnurrt und schmiegt | |
sich eng an die Beine des Hausherrn, dann springt sie auf den Schoß ihrer | |
Herrin. Unser Gastgeber lächelt sanft zur Katze hin. Ein freundlicher alter | |
Herr. Er lebte als Kind sieben Jahre in Russland, 18 Jahre in Wien, 13 | |
Jahre in Amerika, zwei Jahre in Wien, 39 Jahre in der DDR und nun, zum | |
Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes, fast elf Jahre in Deutschland; | |
in das er und seine Frau eigentlich nie hatten zurückkehren wollen. | |
31 Jul 2000 | |
## AUTOREN | |
GABRIELE GOETTLE | |
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