# taz.de -- „Dschungel“ bei Calais: Eine zweite Reihe mit Türstehern | |
> Vor einem Jahr wurde das Camp plattgemacht. Die Menschen kommen trotzdem. | |
> Doch die EU mauert mit massiven Abwehrmaßnahmen. | |
Bild: Geflüchtete aus Äthiopien auf dem Weg nach Großbritannien | |
BRÜSSEL taz | Vor einem Jahr wurde das „Dschungel“ genannte inoffizielle | |
Flüchtlingscamp bei Calais an Frankreichs Ärmelkanalküste geräumt. Eine | |
seiner größten Bewohnergruppen waren Eritreer, die seit Jahren zahlreich am | |
Kanal vertreten sind, um von dort nach Großbritannien zu gelangen. Doch die | |
Frage der Transitmigranten in der Hafenstadt ist mit der Rodung des | |
„Dschungels“ keinesfalls gelöst. Seit Jahresbeginn nehmen ihre Zahlen | |
wieder zu. Aktuell sind rund 800 vor Ort. Noch immer kommt ein erheblicher | |
Teil aus Eritrea, und noch immer befinden sich darunter viele | |
Minderjährige. | |
Orte wie Calais belegen für zahlreiche Migrationspolitiker der EU | |
Handlungsbedarf. Und natürlich die Häfen Süditaliens, vor allem Siziliens, | |
wo afrikanische Flüchtlinge in den letzten Jahren in immer größerer Zahl | |
ankamen. Laut UNHCR waren darunter allein im Jahr 2015 40.000 Eritreer. Mit | |
den Versuchen zur Schließung der Mittelmeerroute hat diese Zahl etwas | |
abgenommen. Unverändert dagegen verlassen nach Angaben des | |
UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR monatlich nach wie vor 5.800 Eritreer das | |
fünf Millionen Einwohner zählende, diktatorisch regierte Land am Roten | |
Meer, wo nach Angaben von Sheila B. Keetharuth, UN-Sonderbeauftragte zur | |
Menschenrechtslage in Eritrea, willkürliche Verhaftungen ohne | |
Gerichtsverfahren, unbegrenzte Haft unter miserablen Bedingungen und | |
außergerichtliche Hinrichtungen an der Tagesordnung bleiben. „Wir haben | |
gute Gründe anzunehmen, dass dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit | |
stattfinden“, sagte sie vorige Woche bei einer hochkarätig besetzten | |
Konferenz zur Situation eritreischer Geflüchteter in Europa. | |
Zentraler Punkt, der die Menschen in die Flucht treibt, bleibt demnach der | |
berüchtigte unbegrenzte Militärdienst in Eritrea. Filmon Debru, ein | |
inzwischen in Deutschland lebender Geflüchteter, nennt ihn eine „Ausrede, | |
die Bevölkerung zu versklaven“. Gaim Kibreab, Professor der London South | |
Bank University und Buchautor zum Thema, betont: „Ein Kommandeur hat | |
sämtliche Macht, mit den Rekruten zu machen, was er will.“ | |
Die Zahl der Auswanderer aus Eritrea bleibt konstant – aber die Zahl derer, | |
die Europa erreichen, sinkt. Grund dafür ist der sogenannte | |
Khartum-Prozess, benannt nach Sudans Hauptstadt, wo er beschlossen wurde: | |
ein Abkommen zwischen 58 europäischen und afrikanischen Staaten, darunter | |
Eritrea, initiiert vor knapp drei Jahren in Rom, um „irreguläre Migration“ | |
aus den Krisenländern am Horn von Afrika zu begrenzen. Der damalige | |
deutsche Innenminister Thomas de Maizière sagte, man wolle Fluchtursachen | |
bekämpfen und illegale Migration durch Transitländer nicht stattfinden | |
lassen. | |
## Regimequellen als Berichterstatter | |
Wie wichtig Eritrea in diesem Konzept ist, belegen die hohen | |
Anerkennungsquoten für von dort Geflüchtete. 2016 lag sie in Europa bei | |
durchschnittlich 92 Prozent, in Ländern wie Deutschland (97,6 Prozent) oder | |
Norwegen (98 Prozent) deutlich höher. Umstritten ist in diesem Zusammenhang | |
eine fact finding mission des schweizerischen Staatssekretariats für | |
Migration nach Eritrea 2015. In ihren Bericht flossen neben Einschätzungen | |
von Menschenrechtsorganisationen und ausländischen Diplomaten in der | |
eritreischen Hauptstadt Asmara auch Regimequellen ein, obwohl das | |
eritreische Regime international geächtet ist. | |
Teilnehmer der Brüsseler Konferenz befürchten, entsprechende Länderberichte | |
könnten von der EU als Basis einer repressiven Asylpraxis herangezogen | |
werden. Anzeichen dafür sind deutlich: So basierte der Eritrea-Report des | |
European Asylum Support Office (EASO) 2016 auf dem Schweizer Dokument. „Ein | |
sehr drastischer neuer Ansatz“, kommentiert der Anwalt Daniel Mekonnen, | |
Mitglied der in Genf ansässigen Eritrean Law Society. | |
Bernd Mesovic, rechtspolitischer Sprecher von Pro Asyl, kritisiert den | |
Khartum-Prozess als Versuch, die Flüchtlingsabwehr aus Nordafrika noch | |
weiter nach Süden zu verlagern und „hinter der ersten Reihe Türsteher eine | |
zweite zu errichten“. | |
Welche Dimension das annimmt, zeigt sich zurzeit in Brüssel. Seit Wochen | |
schlafen dort Transitmigranten, die nach England wollen, wild in einem Park | |
am Nordbahnhof. Ende September wurden 43 Personen, die bei einer Razzia | |
festgenommen worden waren, in Zusammenarbeit mit einer Delegation der | |
Regierung Sudans als Sudanesen identifiziert und in Abschiebehaft genommen. | |
Nach heftigen Protesten von Menschenrechtsgruppen hat ein Gericht in | |
Lüttich die Abschiebungen ausgesetzt. | |
24 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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