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# taz.de -- Drama über idealistischen Lehrer auf Crack: Im Hebelgriff des Syst…
> Teil des Systems sein und dennoch dagegen wirken? Lehrer Dan versucht es
> in "Half Nelson" jeden Tag aufs Neue. Die Widersprüche seines Lebens
> erträgt er nur noch im Dauerrausch.
Bild: Beide wissen ziemlich gut, was Crack ist: Schülerin und Lehrer in "Half …
Dan (Ryan Gosling) ist Lehrer aus Überzeugung. Weiß, knapp dreißig Jahre
jung, unterrichtet er mit Charisma und legeren Umgangsformen eine Klasse
überwiegend afroamerikanischer Teenager in Brooklyn. Dass er sich
vorsätzlich in diesen Bezirk hat versetzen lassen, steht außer Zweifel. Der
Idealismus, den er seiner Klasse predigt, ist Antrieb auch seiner
Entscheidungen. Jedenfalls meistens. Denn außerhalb des Klassenzimmers
braucht Dan seine tägliche Dosis Crack, um noch weitermachen zu können.
Freunde hat er keine, und seine Exfreundin, die zwischendurch als
Möglichkeit wieder auftaucht, trägt schon den Ring eines anderen am Finger.
Dan unterrichtet Sport und Geschichte. Eine passende Kombination: Eine
Karriere im Profisport ist für die meisten seiner Schutzbefohlenen immer
noch die aussichtsreichste Option, um dem Viertel, seinen Drogen und seiner
Armut zu entkommen. Trotzdem gut, die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung
zu kennen - wenn sie auch an den gesellschaftlichen Dominanzen, wie die
Schüler sie täglich erleben dürfen, offensichtlich hat wenig ändern können.
Und so, wie Dan Geschichte lehrt, sind das individuelle und das kollektive
Leben ohnehin nichts anderes als ein permanenter Kampf einander
entgegengesetzter Kräfte um die Vorherrschaft.
Im sportlichen Ringkampf ist ein "Halbnelson" ein Hebelgriff, um den Gegner
auf den Boden zu zwingen. Wovon Dan zu Boden gedrückt wird, ist nicht
leicht auszumachen: Dass die Wirklichkeit seinem Idealismus tagtäglich Hohn
spricht, weiß er längst. Dass er als Angestellter der Regierung ein Teil
des Systems ist, das die Ungerechtigkeiten ignoriert oder gar produziert,
sowieso. So durchzieht das Filmdebüt von Ryan Fleck (Regie) und Anna Boden
(Drehbuch) ein unbestimmtes, aber umso brennenderes Gefühl der Mut- und
Ratlosigkeit als Momentaufnahme des gelähmten Zustandes des linksliberalen
Amerika heute: Wie konnte es heute so weit kommen? Und vor allem: Wie
konnten wir das, was wir durch Opfer erreicht hatten, wieder aufgeben?
In dokumentarisch eingefügten Szenen erzählen Schüler vor der Klasse die
Geschichte der Kämpfe der vorigen Generation: Straßenkämpfe,
Demonstrationen, Polizeieinsätze. Einmal fällt der Darsteller eines jungen
Schülers nach seinem Bericht über die (Nicht-)Verurteilung des Mörders von
Harvey Milk für einen Moment aus der Rolle. Ungläubig fragt er in die
Kamera: "Ist das alles wahr?"
Vor der Klasse lehrt Dan, Widersprüche als produktives Moment der
Geschichte zu verstehen. Die Widersprüche seines eigenen Lebens kann er nur
noch im Dauerrausch ertragen. Eines Tages entdeckt ausgerechnet seine
begabteste Schülerin Drey (Shareeka Epps) den völlig zugedröhnten Lehrer
auf der Mädchentoilette der High School. Der Skandal bleibt aus, weil Drey
besser weiß, als ihr lieb ist, wie Drogen einen Menschen zerstören können:
Ihr Bruder sitzt im Knast, weil er Jobs für den lokalen Crackdealer Frank
erledigt und diesen nicht verpfiffen hatte. Stattdessen entwickelt sich
zwischen Lehrer und Schülerin ein fragiles Verhältnis der Freundschaft und
des Vertrauens - immer unter der Gefahr, von der Außenwelt missverstanden
zu werden.
"Half Nelson" ist auf spektakuläre Weise unspektakulär. Ein kleiner,
stiller Film, der die großen Themen - Menschenrechte, Rassismus, Krieg,
soziale Diskriminierung - im Blick behält und auf der alltäglichen Ebene
individueller Erfahrungen wirksam werden lässt. Der von Entmutigung handelt
und davon, wie Menschen, ob sie wollen oder nicht, mit jedem Handeln oder
Nichthandeln eine Entscheidung treffen - für sich und für andere. Wie Teil
des Systems sein und dennoch dagegen wirken?
Dan, selbst Crack-abhängig, versucht Drey vor einer Karriere als
Drogenkurierin für Frank zu bewahren. Die braucht das Geld, um ihre Familie
zu unterstützen. Während Drey Kokain für den Straßenverkauf abpackt,
schwärmen Dans Eltern, Ex-Hippies und heute Mittelschichts-Intelligenz, bei
teurem Rotwein von den goldenen Zeiten, als sie noch gegen den Vietnamkrieg
auf die Straße gingen. So ist das mit der Dialektik: Manche Widersprüche
werden nie gelöst. Sie lassen sich aber benennen.
27 Mar 2008
## AUTOREN
Dietmar Kammerer
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