# taz.de -- Doku: "Explosive Mischung" | |
> In der Anja Salomonowitz ' Doku "Kurz davor ist es passiert" erzählen | |
> verkaufte Frauen auf ihrem Leben. | |
Bild: "Die Orte sind alle authentisch", sagt Anja Salomonowitz | |
taz: Frau Salomonowitz, in "Kurz davor ist es passiert" werden die | |
Leidensberichte von Frauen, die zu Opfern von Menschenhandel wurden, von | |
Personen gesprochen, die mit den Geschichten nur sehr indirekt zu tun | |
haben. Das zeugt vor allem einmal von Skepsis gegenüber herkömmlichen | |
Darstellungsweisen. Wie ist die Idee dazu entstanden? | |
Anja Salomonowitz: Die Idee stammt eigentlich aus meinem letzten Film "Das | |
wirst du nie verstehen", in dem es um meine Großmütter geht. Ich habe mit | |
meiner jüdischen Großmutter ausgemacht, dass sie darin nicht über Auschwitz | |
sprechen muss. Ganz am Ende des Drehs wollte ich sie noch einmal aufnehmen, | |
da wollte sie aber nicht mehr, also habe ich sie angerufen und mich dabei | |
gefilmt. Ich dachte mir, es sei eine gute Möglichkeit, Überlebende des | |
Holocaust aufzunehmen, wenn man dabei das Gesicht eines anderen sieht. Die | |
Emotionen laufen über ein anderes Gesicht, aber die Geschichte wird | |
trotzdem festgehalten. | |
Wäre es überhaupt möglich gewesen, die Frauen für "Kurz davor ist es | |
passiert" zu filmen? Oder ging es Ihnen von Anfang an um diese Strategie | |
der Verfremdung? | |
Ich hätte nicht filmen dürfen. Aber selbst wenn man mir das angeboten | |
hätte, hätte ich abgelehnt. Das würde mich nicht interessieren. Ich wollte | |
die Gegner der Frauen, deren Geschichten sprechen lassen. Der Zöllner, der | |
Kellner, die Nachbarin - sie sind den Frauen nicht verbunden. Es ging um | |
die Spannung, dass da jemand spricht, dem die Geschichte auf keinen Fall | |
passieren kann. Der sogar Gegner ist und dem ich zumute, sich mit | |
Trafficking beschäftigen zu müssen. Diese Mischung finde ich explosiv. | |
Außerdem wollte ich über Machtverhältnisse sprechen. Weil die Protagonisten | |
niemals in eine vergleichbare Situation wie die Frauen kommen können, | |
treten die Machtverhältnisse umso klarer hervor. | |
Nach welchen Kriterien wurden die Figuren ausgewählt? Ging es um | |
Schlüsselpositionen? | |
Wichtig war, dass die Figuren in den Geschichten immer selbst vorkommen. | |
Wenn es einen Zöllner gibt, hab ich nach einem Zöllner gesucht. Weil es nun | |
ein wirklicher Zöllner ist, kann es theoretisch passieren, dass in dem | |
Moment, in dem er seinen Text sagt, ein Auto vorbeifährt, in dem eine Frau | |
geschmuggelt wird. Oder er sich das auch nur so denkt. Oder wenn der | |
Kellner sagt, er tanze jede Nacht auf diesen Tischen, dann könnte das genau | |
der Tisch der Frau aus seiner Geschichte sein. Dieses Aufeinanderprallen | |
gefiel mir. Aber der Film ist immer ein wenig mehr als die Summe seiner | |
Teile. Es gibt auch ein Geheimnis dieses Zusammenwirkens, das ich gar nicht | |
klar benennen kann. Die Personen bleiben vollkommen in ihren Alltag | |
integriert, in dem sie sich dann gleichsam selbst spielen. | |
Wenn die Personen zu sprechen beginnen, ist das wie ein Riss in der | |
Illusion des Films. Verstehen sie diese Momente als Interventionen? | |
Ich wollte, dass es aus den Leuten herausbricht. Dass es einen Schnitt | |
gibt, und ein zweiter Film entsteht. Sodass man auch immer zwei Geschichten | |
gleichzeitig sieht. Auch die Fehler, wenn sich der Kellner den Kopf stößt | |
oder der Zöllner vertippt, sind solche Störmomente, die ich bewusst gesetzt | |
habe. Die sind in der Recherche auch passiert, also nicht erfunden. | |
Aus den Fällen ist dagegen fast jede Singularität getilgt worden. Liegt für | |
Sie das überzeugendere Argument in der Allgemeinheit einer Aussage? | |
Es ist mir schon öfters passiert, dass jemand zu mir gesagt hat, diese | |
Geschichten kenne man doch schon alle. Genau das gefällt mir aber so gut | |
daran. Das ist genauso, wie wenn man sagt: "Schon wieder ein Film über die | |
Nazizeit." Diese Geschichten sind ja nur fürchterlich. Ich will keine | |
hervorheben, die etwas Besonderes hat. Ich will sie nur anders zeigen, | |
damit man sie anders sehen kann. | |
Die Geschichten anders zu zeigen, heißt dann also, strukturelle | |
Zusammenhänge aufzuzeigen, gegenläufig zu herkömmlichen dokumentarischen | |
Methoden? | |
Viele Filme, die von vergleichbaren Fällen erzählen, erschöpfen sich darin, | |
Empathie hervorzurufen. Die bringt den Frauen aber nichts. Sie brauchen | |
Rechte. Es geht also um die Bedingungen und Mechanismen, die dazu führen, | |
dass solche Geschichten überhaupt erst entstehen. Das Muster, nach dem die | |
Geschichten ablaufen, ist stark mit der Gesetzeslage verknüpft. Zum | |
Beispiel erzählt der Kellner von einer Frau, die ein Tänzerinnenvisum | |
bekommt. Die Beamten, die dieses Visum ausgestellt haben, wissen genau, | |
dass die Frauen nicht als Tänzerinnen arbeiten. Ich wollte einen Film über | |
strukturelle Gewalt machen, der einen trotzdem emotional mitnehmen kann. | |
Die Orte des Films - die Grenze, die Dorfstraße, das Bordell - werden wie | |
Tatorte inszeniert. Manchmal mit Handkamera, wie in einer Szene aus einem | |
Horrorfilm. Sehen Sie das auch so? | |
Das Wichtigste sind eigentlich die Orte, sie sind alle authentisch. Es sind | |
lauter Orte, an denen Menschen festgehalten werden können. Der Film | |
funktioniert nur mit Originalschauplätzen. Die Horrorfilm-Elemente hab ich | |
benützt, um das Gefühl zu evozieren, dass ständig etwas passieren könnte. | |
Die Geschichten der Frauen schwirren herum, sind aber eigentlich nicht zu | |
sehen. Deswegen schleicht die Kamera so herum. Das Böse ist da, aber es | |
bleibt unsichtbar. | |
Die starren Einstellungen sind hingegen sehr streng komponiert, sodass der | |
Raum recht hermetisch wirkt. | |
Ich hab den Film mit Jo Molitoris gedreht, einem Kameramann, der aus der | |
Werbung kommt. Mir war wichtig, dass die Bilder etwas Gelacktes haben. | |
Seine Idee war dann, den ganzen Film mit zwei Kameras zu drehen, so als | |
würde man alles mit zwei Augen beobachten. Die Menschen, die die Texte | |
sagen, würden dann sozusagen unter Beobachtung stehen. Das hat mit sehr gut | |
gefallen, hat aber beim Schnitt dann anders ausgesehen. Ich wollte immer, | |
dass man zwei Filme gleichzeitig sieht. Den auf der Leinwand, mit den | |
Personen, die die Texte sprechen, und gleichzeitig den, der gleichsam vor | |
der Leinwand ist und den man sich nur vorstellen kann. Wie wenn man ein | |
Buch vorgelesen bekommt. | |
18 May 2007 | |
## AUTOREN | |
Dominik Kamalzadeh | |
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