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# taz.de -- Die alte Widerspenstigkeit ist wieder gefragt
> ■ Die Initiative »W.B.A. — Wir bleiben alle« ist über die Grenzen des
> Prenzlauer Berges hinaus aktiv/ Die zweite Mietendemonstration zieht
> heute zum Wittenbergplatz/ Vertretung der eigenen Interessen schon zu
> DDR-Zeiten geübt
»Dann hat mich die Polizei gefragt, mit wieviel Teilnehmern ich rechne. Ich
also: zehntausend. Darauf die Beamten: ‘Wir können das besser einschätzen:
dreihundert!‚« Man merkt es Bernd Holtfreter an, daß er diese Anekdote
gerne erzählt. Die Mietendemonstration vom 8.Juli dieses Jahres war die
erste Kundgebung, die der ehemalige Basis- Druck-Gründer im vereinten
Berlin angemeldet hatte. Die Bürgerinitiative »W.B.A. — Wir bleiben alle«
rief auf, 60 Initiativen und Organisationen schlossen sich an und es kamen
tatsächlich zehntausend.
»Wir haben uns gedacht, was wir im Herbst 89 geschafft haben, kann doch
jetzt nicht unmöglich sein.« Holtfreter weiß, wovon er spricht. Der
Wohnbezirksausschuß (WBA) um die Oderberger Straße, dessen Vorsitzender er
war, galt als der einzig oppositionelle der DDR. Seinerzeit, es war 1985,
suchten die MacherInnen des alternativen Kulturprojekts Hirschhof einen
Träger, um nicht jede Veranstaltung durch Polizei und Partei genehmigen
lassen zu müssen. Erfahren im Dschungel der Bürokratie, machten sich
Holtfreter und Co. daran, den personell schwachen WBA in der Oderberger
Straße zu unterwandern. 1986 war die »Eroberung« abgeschlossen. »Nun waren
wir Bestandteil der Nationalen Front«, lacht Holtfreter, »mit dem
Unterschied, daß nicht wie üblich die Kreisleitung der SED die Zügel in der
Hand hatte, sondern die Opposition«. Der erste Schritt: die sonst
unvermeidliche Kommission »Sicherheit und Ordnung« wurde durch eine neu
geschaffene Kulturkommission ersetzt. Den ersten Erfolg gab es zwei Jahre
später. Die SED mußte ihre Pläne, die gesamte Oderberger Straße zur
»Platte« zu machen, angesichts des Widerstands im Kiez zurückziehen.
Der Oppositions-WBA war inzwischen auf 50 Mitglieder angewachsen. Die
Zerreißprobe ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Laut DDR-Verfassung
oblag dem WBA die Durchführung der Kommunalwahlen. »Das war eine
Gratwanderung«, erinnert sich Holtfreter. Während man abends, durchaus
nicht gewöhnlich, zu öffentlichen Wahlveranstaltungen lud, ging man des
nachts Plakate kleben. Darauf zu sehen: ein Affe, der sich Augen und Ohren
zuhält, am Revers ein Parteiabzeichen. Die Einschätzung der Stasi war
ähnlich eindeutig: »Feindlichen, negativen Kräften ist der Einzug in
gesellschaftliche Organisationen gelungen.«
Bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 stimmten lediglich 40 Prozent im
Wahlkreis mit »ja«. Davon wiederum gaben die meisten dem nicht von der SED,
sondern vom WBA vorgeschlagenen Kandidaten die Stimme: Matthias Klipp,
heute für das Bündnis 90 Baustadtrat im Prenzlauer Berg. Matthias Klipp war
es auch, der die erste Aktion der nunmehr ironisch mit Punkten versehenen
W.B.A. nach der Wende tatkräftig unterstützte. Die Kollwitzstraße89 wurde
vergangenen Mai symbolisch besetzt. Statt dem von den Besitzern geplanten
Hotelumbau wollte man im Kiez eine schnelle Vermietung der leerstehenden
Wohnungen durchsetzen. »Letzteres ist uns zwar nicht gelungen«, resümiert
Wolfram Kempe, der die Erfahrungen des Prenzelberger BesetzerInnenrats in
die Initiative einbrachte, »aber die Öffentlichkeit wurde wachgerüttelt.«
Für ihn und die mittlerweile 30 Leute, die sich jeden Montag im Kiezladen
in der Oderberger Straße treffen, ist das das Wesentliche: »Durch
Aktivitäten Handlungsdruck schaffen und den Menschen im Kiez zeigen, daß
man etwas bewegen kann.« Kempe verbreitet nicht den im Westen bekannten
Aktionismus, wenn er sagt: »Widerstand muß allerdings auch Spaß machen«, um
Sekunden später hinzuzufügen: »Wir können unsere Geschichte schließlich
nicht verleugnen, sondern müssen sie mit neuem Inhalt füllen.«
Es scheint, als hätte das einstige Alternativ-Mekka der DDR zu seiner
Widerspenstigkeit zurückgefunden. Die Szene vom Prenzlauer Berg — nicht
mehr introvertierte Dichter und Stasi-Opfer bestimmen sie, sondern
Bürgerinitiativen, deren Ziel es ist, dem befürchteten
Umstrukturierungsprozeß ihren Widerstand entgegenzusetzen. Anders als in
Kreuzberg versucht man Fraktionierungen zu vermeiden. Man redet
miteinander. Die Besetzung der Kollwitzstraße war tatsächlich
Gesprächsthema im Kiez, nicht zuletzt dank der Prenzelberger
Gewerbetreibenden, für die der Erhalt der Kiezstruktur zur Überlebensfrage
geworden ist. Sie haben sich zu einem Verein mit über 200 Mitgliedern
zusammengeschlossen, eine Art Industrie- und Handwerkskammer von unten. Die
Unterschriftensammlung zu seiner Gründung wurde im Dezember 1991 von der
W.B.A. organisiert.
Zur Zeit sind im Prenzlauer Berg, wie überall in Ost-Berlin, die zum
1.Januar geplanten Mieterhöhungen Thema Nummer eins. Heute wird wieder
demonstriert. »Wenn wir heute nicht auf die Straße gehen, sitzen wir morgen
auf der Straße«, heißt es im kurzen und knappen Aufruf, der mittlerweile
auch von der HBV und den Jusos unterschrieben wurde. Auf der Rednerliste
haben Parteien und Organisationen freilich keinen Platz. Zu Wort kommen
sollen Betroffene. »Wenn wir es schaffen, daß sich in den verschiedenen
Kiezen die Menschen zusammenschließen, haben wir schon viel erreicht«, sagt
Holtfreter. Ein erster Schritt ist getan: im Stadtbezirk Friedrichshain
wurde vorige Woche auf einer mit 200 MieterInnen besuchten Kiezversammlung
ebenfalls verkündet: »Wir bleiben alle!« Uwe Rada
Die Demonstration unter dem Motto »Mietenstopp« beginnt heute um 17.30 Uhr
am Roten Rathaus und endet am Wittenbergplatz.
9 Sep 1992
## AUTOREN
uwe rada
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