# taz.de -- Die Stadt am Guadalquivir | |
> Zwischen Zukunftstechnologie und Arbeitslosigkeit: Sevilla, die Stadt der | |
> Expo 92, sucht nach Möglichkeiten, lokale Identität und Globalität zu | |
> verbinden ■ Von Ulrike Fokken | |
Trompetenstöße gellen über den schwarz glänzenden Guadalquivir. | |
Trommelschläge hallen aus der Dunkelheit hinter der Brücke, wo die Lichter | |
der Stadt nicht mehr hin scheinen. Die Trommler geben für kurze Zeit den | |
Takt der Melodie, der die Trompeten schrill folgen, dann jedoch immer an | |
derselben Stellen umkippen, sich nur mehr durch die Nacht quälen und | |
schließlich das ganze Orchester zum Erliegen bringen. Unverzagt beginnen | |
sie von neuem, denn in der Semana Santa, der Heiligen Woche vor Ostern, | |
müssen sie das Stück flüssig spielen. Sonst kommen ihre Brüder der Cofradía | |
unter der tonnenschweren Last einer der zahlreichen Marienstatuen aus einer | |
der Kirchen Sevillas ins Schwanken. Die Melodie wird den Trägern den Takt | |
angeben, sie einlullen und in Trance versetzen, um das Gewicht der Heiligen | |
Jungfrau im Nacken zu ertragen. | |
Die Winternacht schluckt das Orchester der Bruderschaft. Ungreifbar, wie | |
die religiöse Verzückung der Sevillanos in der Semana Santa, spielt es | |
seine mittelalterliche Melodie hinüber in die Zukunft. Hinüber zur Insel | |
Cartuja, auf der hell, klar und metallen Sevilla Tecnópolis strotzt. Unter | |
diesem Namen hat die Vermarktungsgesellschaft „Cartuja 93“ die Gebäude, | |
Wasserfontänen und Sonnensegel der Weltausstellung von 1992 | |
zusammengefasst. In den Pavillons der Expo 92, in denen sich einst die Welt | |
vorstellte, präsentiert sich die Hauptstadt Andalusiens der Welt des 21. | |
Jahrhunderts. Im chilenischen Pavillon werden neue Energiequellen | |
erforscht, im italienischen Haus der Weg ins Internet gesucht und | |
Werbekampagnen geplant, im Pavillon Neuseelands wird die Umwelt geschützt | |
und bei den Österreichern steigert der US-Konzern Compaq seinen spanischen | |
Absatz. | |
## Einzug der Modernemit den Expo-Pavillons | |
„Wir sind das neue Sevilla“, sagt Ricardo Leon, Sprecher von „Cartuja 93�… | |
und deutet mit einer ausladenden Armbewegung über das Architekturmodell von | |
Sevilla zu beiden Seiten des Flusses. „Hier ist die Moderne, hier ist der | |
Wandel“, sagt Leon und breitet nun beide Arme wie zu einem Kreuze aus. | |
Unter ihm liegt im Verhältnis 1:5.000 das Weltkulturerbe: die gotische | |
Kathedrale mit der Giralda, der maurische Alcázar, das Judenviertel Santa | |
Cruz, der Goldturm. Der Guadalquivir trennt das Sevilla der Mythen und der | |
üppigen Orangenbäume von der zur Weltausstellung von 1992 künstlich | |
entworfenen Isla de la Cartuja. | |
Vor der Expo lag das Land brach und nur die Ruinen der Karthause Santa | |
María de las Cuevas erinnerten an die vergangene Größe der Stadt. In der | |
Klause hatte Christoph Kolumbus vor 500 Jahren den Weg in die Neue Welt | |
berechnet. Die Karthause (span. Cartuja) gab der Insel zwischen dem | |
landeinwärts gelegenen Kanal des Guadalquivir und dem für die Expo um zehn | |
Kilometer verlängerten früheren Flusslauf durch die Stadt ihren Namen. Vor | |
der Expo endete der mutmaßliche Fluss mitten in der Stadt an einer Mauer | |
und moderte in den heißen Sommermonaten vor sich hin. Seit 1992 fließt er | |
wieder und hat das Lebensgefühl der jungen Sevillanos entscheidend | |
verändert. Sie nutzen selbst wieder die alte Lebensader Sevillas, und die | |
optimalen Sportbedingungen auf und am Guadalquivir ziehen die Welt an. | |
Rund 8.000 Menschen haben auf der Cartuja nach der Weltausstellung in neuen | |
Unternehmen, der erweiterten Universität, einem Vergnügungspark, dem | |
Sportzentrum und der umgesiedelten Provinzverwaltung Arbeit gefunden. Doch | |
wenn sie am Nachmittag die Cartuja verlassen, zieht nur noch der Wind der | |
Sierra Norte durch die Straßen. „Das wirkliche Potenzial von Cartuja | |
konnten wir der Gesellschaft drüben nicht vermitteln“, sagt Ricardo Leon | |
und lässt die Arme sinken. | |
„Wir lieben eben unsere Traditionen“, sagt Alicia Dominguez, Beauftragte | |
der Stadt zur Erschließung neuer Arbeitsmöglichkeiten und eine von 389.000 | |
zugezogenen Sevillanos, die die Stadt ebenso glühend verehren wie die | |
316.000 Gebürtigen. „Das Leben ist hier“, und die energisch | |
zusammengebrachten Fingerspitzen der rechten Hand, die sie dynamisch von | |
der Höhe ihrer Schulter herunterzieht, lassen keinen Zweifel daran. Die | |
Sevillanos essen, reden, tanzen, kaufen, lieben und sterben wie seit den | |
Zeiten der Mauren in den Vierteln Triana und La Macarena, El Arenal und | |
Santa Cruz. In den verwinkelten Gassen der Stadt, die Römer, Juden, Araber | |
und später die Spanier anlegten und ausbauten, lebt Sevilla. | |
Wie jeden Mittag ab zwei Uhr auf der Plaza del Salvador, wenn sich an die | |
300 Menschen vor den unscheinbaren Bars unter den Arkaden drängeln, Bier | |
trinken und für eine gute Stunde mit Freunden reden. Es ist nichts | |
Besonderes an dem Platz in der Innenstadt, außer vielleicht, dass er auch | |
im Winter von der Sonne beschienen ist und die reifen Orangen dann | |
besonders leuchten. Die Tapas in den Bars sind durchschnittlich, sitzen | |
kann man nur auf den Stufen der Kirche El Salvador, und die Gitanos haben | |
hier viel Platz, um ihren Karren mit der Orgel aufzustellen und Paso Dobles | |
zu spielen. Eigentlich nerven sie die Sevillanos, aber dennoch geben sie | |
ihnen Münzen. „Alle müssen leben“, meint Alicia Dominguez. | |
Andalusien ist ein Ort der Anarchie, die sich zwar selten politisch | |
entlädt, aber täglich in einem entspannten Miteinander ausdrückt. Ein | |
Beispiel für die politische Entschlossenheit lieferten im Dezember die | |
Werftarbeiter im nahen Cádiz, als sie tagelang streikten, eine Autobahn | |
besetzten und schließlich die einzige Brücke in die Stadt in Brand | |
steckten, ohne dass die Polizei eingegriffen hätte. | |
In Sevilla treffen Anarchie und Lebensfreude, Toleranz und tiefe | |
Religiosität, Improvisation und Strategie aufeinander und verschmelzen zu | |
einem Amalgam, dem sich weder Besucher noch Bewohner entziehen können. | |
Diese Kultur des freudigen Durchwurschtelns will Emilio Carrillo, Sozialist | |
und seit den Wahlen vom Juli 1999 zweiter Bürgermeister von Sevilla, für | |
die Stadt nutzen. Die Hochtechnologie da drüben auf der anderen Flussseite, | |
so sagt der jugendliche Politiker, hat doch nichts mit der Realität hier zu | |
tun. „Sie warten“, und seine manikürte Hand wedelt Richtung Flussufer, „… | |
eine fliegende Untertasse – aber die landet nicht.“ Sevilla müsse sich auf | |
seine eigene Kraft und seine Qualitäten besinnen. „Sevilla es una ciudad | |
mundial, pero no global“, sagt der Ökonom Carrillo, der für die | |
wirtschaftliche Entwicklung der Stadt zuständig ist. Die ganze Welt kenne | |
die Stadt der Carmen und des Don Juan, aber in Zeiten der Globalisierung | |
nützen doch die Mythen wenig. Die jährlich 2,6 Millionen Besucher aus aller | |
Welt, die eben auch diesen steingewordenen Mythos suchen, sichern zwar | |
zwölf Prozent der Einnahmen und knapp 24.000 Arbeitsplätze, doch das ist | |
Carrillo zu wenig. „Wir waren eine der ersten Weltstädte in einer | |
globalisierten Wirtschaft“, sagt er, „auch wenn das schon 400 Jahre | |
zurückliegt.“ Damals musste laut königlichem Befehl der gesamte Handel | |
zwischen Spanien und den amerikanischen Kolonien über Sevilla abgewickelt | |
werden. Somit war die Stadt zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert die | |
wichtigste Verbindung zwischen Europa und der Neuen Welt. Das Privileg | |
bescherte Sevilla einen ungeheuren Reichtum und lockte Entrepreneure und | |
Gesindel aus ganz Europa an. | |
Bis 2010 will Carrillo die globale Bedeutung für Sevilla wieder herstellen. | |
„Wir wollen einen atlantischen Bogen zwischen Nordafrika, Europa und | |
Lateinamerika schlagen und wieder zur Avantgarde gehören“, sagt Carrillo | |
und kommt ohne große Gesten bei der Erläuterung seines Planes aus. Bei | |
einer Arbeitslosenrate von rund 29 Prozent in Sevilla ist es keine leichte | |
Aufgabe, eine positive Zukunft zu entwerfen. Carrillo setzt seine Hoffnung | |
auf die Kraft der Stadt und glaubt nicht an das Europa der Regionen. Und | |
Städte mit einer Identität wie Sevilla haben genau die richtige Größe, um | |
global zu bestehen. | |
Dafür müssen die Viertel der Stadt jedoch zunächst alle zu einer | |
prosperierenden Identität finden. Mit finanzieller Unterstützung der | |
Europäischen Union hat sich die Stadtverwaltung daher einen der vergessenen | |
Stadtteile vorgenommen. Alameda heißt das Viertel, das direkt hinter dem | |
Zentrum beginnt und das dennoch wie durch einen unsichtbaren Vorhang von | |
der turbulenten Innenstadt abgeschnitten ist. Außer den Bewohnern verirrt | |
sich zumindest tagsüber kaum ein Sevillano oder gar Besucher in die | |
Alameda, in diese „zum Schweigen gebrachte Stadt“. | |
## Warten auf Kundschaft im historischen Viertel | |
Zum Schweigen gebracht wurde das historische Viertel in den | |
Sechzigerjahren, als die bürgerliche Mittelschicht von der Alameda in | |
luxuriösere Stadtteile zog. Wer blieb oder dazukam, war arm und wartet | |
seither täglich auf sein Auskommen. | |
Eine Prostituierte wartet in ihrem Hauseingang auf Kundschaft und nutzt die | |
Zeit zum Sonnen. Die auf die Hüften gestützten Hände halten die | |
aufgeknöpfte Bluse zurück, und sie streckt den üppig gefüllten silbernen BH | |
gen Himmel. Ihr Nachbar, der Drogendealer, wartet auch, ebenso wie die | |
Frau, die in einer umgebauten Garage Kartoffelchips und Literflaschen | |
Cruzcampo-Bier verkauft. Ein paar Straßen weiter, im noch immer | |
bürgerlichen Teil der Alameda, warten die Händler von Kurzwaren, Miedern, | |
Kolonialwaren und Devotionalien, die Buchbinder, Schnitzer und | |
Gitarrenbauer. | |
Für die kleinen Familienunternehmen hat sich Dominguez Kurse in | |
Schaufenstergestaltung ausgedacht, damit überhaupt erst mal mehr Kunden | |
angezogen werden. Wenn die Ware attraktiver präsentiert wird, kommt | |
vielleicht doch mal Laufkundschaft in die Läden. Sieben ehemalige | |
Prostituierte haben dank der Initiative von Dominguez eine eigene | |
Nähwerkstatt aufgezogen, und immerhin 60 arbeitslose Jugendliche sind in | |
einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme untergekommen, die zugleich den | |
Kunsthandwerkern der Alameda ein Einkommen und Arbeit sichert. Sie | |
restaurieren in einer renovierten Singer-Nähmaschinenfabrik die | |
Kachelbilder und Tonlaternen der Plaza de España. Auf über 100 Wandbildern | |
sind dort seit der iberoamerikanischen Ausstellung von 1929 historische | |
Szenen der spanischen Provinzen und Städte auf bemalten Kacheln in | |
eindrucksvoller Weise dargestellt. | |
Die Plaza de España ist eine der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten der | |
Stadt, doch konnten die Besucher in den vergangenen Jahren manche Glanztat | |
der spanischen Vergangenheit nur mehr erahnen. Die Jugendlichen in der | |
alten Nähmaschinenfabrik lernen nun, Gipsformen herzustellen, Keramiken zu | |
formen und Kacheln zu bemalen. Sie setzen damit die traditionelle | |
Handwerkskunst Sevillas fort und tragen gleichsam zum attraktiven | |
Fortbestand ihrer Stadt bei. „Das ist unsere Zukunft“, sagt Emilio | |
Carrillo. | |
Die Traditionen fortsetzen und mit der Zukunft verbinden. Im Grunde | |
genommen also die Strategie, die auch die Betreiber der Catuja verfolgen. | |
Nur ein bisschen kleiner und mit schrillen Zwischentönen. So wie das | |
Orchester der Bruderschaft, das es irgendwann am Abend doch schafft, die | |
Melodie durchzuspielen. Obwohl die Trompete knapp den Ton verfehlt. | |
5 Feb 2000 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Fokken | |
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