# taz.de -- Die Prophetin und der Komapatient | |
> AFGHANISTAN Mit „Stein der Geduld“ verfilmt Atiq Rahimi seinen eigenen | |
> gleichnamigen Roman. Die Alltagsgeschichte in einem von Krieg zerrütteten | |
> Land hält die Balance in der Abbildung gesellschaftlicher Verhältnisse | |
> und einer allegorischen Erzählweise | |
VON BERT REBHANDL | |
Ein Mullah klopft an die Tür einer jungen Frau in Afghanistan. Er möchte | |
ihr helfen, denn ihr Mann liegt mit einer Schusswunde im Koma. Doch das | |
einzige Mittel, das ihm zu Gebot steht, ist Beten. Darauf kann die Frau, | |
deren Namen wir in Atiq Rahimis Film „Stein der Geduld“ nicht erfahren, | |
verzichten. Sie schützt vor, ihre Tage zu haben. Der Geistliche lässt sie | |
daraufhin in Ruhe. Das Thema Unreinheit zieht sich wie ein roter Faden | |
durch diese Geschichte, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse in | |
Afghanistan sehr stark durch sexuelle Motive bestimmt sind. | |
## Marodierende Milizen | |
Milizen kämpfen sich von Haus zu Haus und nehmen dabei ganz buchstäblich | |
die Menschen des Landes als Beute. Der bewusstlose Mann wird als Held | |
bezeichnet, vermutlich kämpfte er als Partisan noch gegen die Sowjetunion. | |
Nun ist er Opfer von Fraktionskämpfen geworden, und seine junge Frau mit | |
ihren zwei Kindern ist in einer nahezu aussichtslosen Lage: Sie muss ihren | |
Mann pflegen und sie muss sich um ihre zwei Kinder kümmern, und | |
währenddessen marodieren die Milizen mit Panzern durch das Viertel, immer | |
wieder schlagen Granaten ein, eines Tages findet sie Nachbarn verstümmelt | |
im Hof vor. | |
Die einzige Unterstützung bekommt sie von ihrer Tante, zu der sie immer | |
wieder geht und bei der sie schließlich auch die Kinder lässt. Sie betritt | |
dort eine andere Welt, in der Sexualität kein Tabu ist, sondern in der es | |
Lösungen für die schweren Probleme gibt, die den Umgang von Männern und | |
Frauen in Afghanistan erschweren. | |
Atiq Rahimi hat diese Geschichte zuerst als Buch veröffentlicht und damit | |
in Frankreich den Prix Goncourt gewonnen. Nun lässt er selbst eine | |
Verfilmung folgen, wobei Jean-Claude Carriére am Drehbuch mitgearbeitet | |
hat. Der „Stein der Geduld“, auf den der Titel verweist, entstammt einer | |
persischen Geschichte, in der eine Frau all ihre Sorgen symbolisch einem | |
Stein auflädt, der schließlich zerspringt – ein ambivalentes Bild, in dem | |
man die Hoffnung auf ein Umschlagen aller Verhältnisse ebenso erkennen kann | |
wie ein Plädoyer für das Ausharren in großen Schwierigkeiten. | |
In dem Moment, in dem eine Frau von diesem „Stein der Geduld“ erzählt, ist | |
natürlich sofort klar, dass im Film damit der leblose Mann gemeint ist. Und | |
tatsächlich ist die eigentliche Geschichte denn auch ein langes, immer neu | |
ansetzendes Gespräch, das die junge Frau mit ihrem Ehemann führt; die | |
Tatsache, dass er nicht antworten kann, schenkt ihr die Freiheit, all das | |
auszusprechen, was er bei Bewusstsein niemals verkraftet hätte oder was sie | |
ihm bewusst zumutet, wenn er es vielleicht doch versteht (zum Ausgleich | |
umsorgt sie ihn zärtlich). Es kommt allerlei zutage in diesen | |
Geständnissen, vor allem wird auch deutlich, wie sehr die arrangierte Ehe | |
von Beginn an von Unwissen und Unvermögen in sexueller Hinsicht geprägt | |
war. | |
Der Charakter der jungen Frau, die von der Iranerin Golshifteh Farahani | |
gespielt wird, verändert sich dabei zunehmend und fast schon ein wenig zu | |
programmatisch: Denn Rahimi will auf nicht weniger als eine Gegenprophetie | |
zu der des einzigen (und klarerweise männlichen) Propheten hinaus. Die | |
Stimme, zu der sich die Frau durch den „Stein der Geduld“ ermächtigt fühl… | |
erhebt sich nicht gegen den muslimischen Glauben, aber sie ergänzt ihn um | |
eine verdrängte, weibliche Dimension des Wissens um Lust, um Berührungen, | |
um Begehren und um Fehlbarkeit. Durchaus vergleichbar mit Salman Rushdie, | |
der in den „Satanischen Versen“ den Monotheismus Mohammeds synkretistisch | |
gesprengt hatte, indem er mekkanische weibliche Gottheiten prominent | |
vorkommen ließ, zielt Rahimi auf das Innerste der islamischen Moralität: | |
auf die Angst vor der weiblichen Sexualität. | |
Erst die auch wieder stark symbolhafte, hilflose Erstarrung des Mannes | |
räumt der Frau die Möglichkeit ein, sich selbst zu entdecken. In ihrer | |
Tante findet sie eine Pädagogin des Eros, die mit viel Geschick die | |
Blockaden löst. Auch ein „Wunderheiler“, der sich auf das drängende Probl… | |
weiblicher Unfruchtbarkeit spezialisiert hat, kommt mit verblüffend | |
therapeutischen Mitteln ins Spiel. | |
Bei alldem hält Rahimi in seiner französisch-afghanischen Koproduktion, in | |
der auch deutsches Geld steckt, gut die Balance zwischen den konkreten | |
sozialen Verhältnissen (wenn die Frau sich die Burka überwirft, um auf die | |
Straße zu gehen, wirkt sie beinahe, als ziehe sie in den Krieg) und einer | |
immer wieder ins Allegorische tendierenden Erzählweise, die in dem | |
absehbaren Schlussbild eine vor allem ästhetische Erfüllung findet. | |
■ „Stein der Geduld“. Regie: Atiq Rahimi. Mit Golshifteh Farahani, Massi | |
Mrowat u. a. Frankreich/Deutschland/Afghanistan 2012, 103 Min. | |
10 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
BERT REBHANDL | |
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