# taz.de -- Die Mütter mit Vorbildcharakter | |
> MIGRATION Mit den Stadtteilmüttern hat Neukölln vor zehn Jahren ein | |
> Modell entwickelt, das mittlerweile auch in andere Bezirke exportiert | |
> wird. Allerdings trüben finanzielle Probleme die Feierstimmung | |
Nuriye S. ist für viele Familien der rettende Fels in der Brandung. Sie | |
hilft, wenn überforderte Eltern nicht mehr weiter wissen, wenn die | |
Sprachbarriere unüberwindbar scheint – wenn Integration zu scheitern droht. | |
Nuryie S, klein, agil, buntes Kopftuch, leuchtend roter Schal, ist | |
„Stadtteilmutter“ in Neukölln. Die Frage ist allerdings, wie lange noch. | |
2004 startete das Quartiersmanagement Schillerkiez das Projekt | |
„Stadtteilmütter in Berlin“. „Wir wollten Familien erreichen, die für | |
öffentliche Angebote unerreichbar blieben“, erklärt Projektleiterin Maria | |
Macher das Programm für Frauen mit Migrationshintergrund. Ein Neuköllner | |
Modell, das mittlerweile auch in anderen Bezirken praktiziert wird. Anfang | |
der Woche wurde das zehnjährige Jubiläum im Interkulturellen Zentrum | |
Genezareth im Schillerkiez gefeiert. | |
Doch das mehrfach ausgezeichnete Projekt kämpft mit bürokratischen und | |
finanziellen Problemen. Da die über „Bürgerarbeit“ finanzierten Stellen a… | |
drei Jahre befristet seien und bald ausliefen, verliere die Organisation | |
zum 1. November etwa die Hälfte ihrer aktiven Mitarbeiterinnen, nämlich 57 | |
von 110, klagt Maria Macher. Es seien zwar schon neue Frauen in der | |
Qualifizierung; diese könnten aber erst im Frühling nächsten Jahres | |
anfangen. „Bis dahin haben wir einen Engpass.“ Zwar steht eine Ausweitung | |
der Förderung von Arbeitsverhältnissen (FAV) im Raum, doch scheitere diese | |
an bürokratischen Problemen: „Für eine FAV muss man sechs Monate auf | |
Arbeitssuche sein. Auf unsere Frauen trifft das aber nicht zu“, sagt | |
Macher. Die Folge sei weniger Beratung und Hilfe für die Familien. | |
Mütter informieren Mütter, „auf Augenhöhe und in der Muttersprache“, das | |
sei die Grundidee des Projekts, erklärt Macher. In einem sechsmonatigen | |
Kurs werden die zukünftigen Stadtteilmütter ausgebildet. Auf dem | |
Stundenplan stehen Themen wie gewaltfreie Erziehung, gesunde Ernährung und | |
Sprachentwicklung. Nach der Ausbildung geht es in die Familien. In Treffen | |
werden die dringlichsten Probleme analysiert, gemeinsam wird auch nach | |
Lösungen gesucht. Immer dabei: der rote Schal, das Erkennungszeichen der | |
Stadtteilmütter. | |
2005 nahmen die ersten 23 Frauen ihre Arbeit als Stadtteilmutter auf. | |
Mittlerweile hätten mehr als 300 Frauen die Ausbildung zur Stadteilmutter | |
absolviert, erzählt Maria Macher. „Seit 2004 haben unsere Frauen mehr als | |
8.000 Familien in Problemlagen beraten und unterstützt.“ Etwa 1.100 Euro | |
verdienen Neuköllns Stadtteilmütter heute im Monat. Finanziert wird das | |
Projekt durch das Jobcenter Neukölln, das Bezirksamt Neukölln und den | |
Senat. Träger ist das Diakoniewerk Simeon gGmbH. | |
Seit 40 Jahren lebt Nuriye S. im Schillerkiez, seit zehn Jahren arbeitet | |
sie als Stadtteilmutter und ist damit von Anfang an dabei. Eigentlich sei | |
sie gelernte Erzieherin, erzählt sie etwas außer Atem. Gerade hat sie noch | |
mit anderen Stadtteilmüttern ein Lied anlässlich des | |
Geburtstagsfeierlichkeiten des Projektes vorgetragen. Um sie herum ein | |
Gewühl aus Gratulanten, stolzen Stadtteilmüttern und Verwandten, das sich | |
auf dem Vorplatz der Genezareth-Kirche drängt. „Nach der Erziehungspause | |
für meine drei Kinder hatte ich keine Chance mehr auf dem ersten | |
Arbeitsmarkt“, berichtet die 50-Jährige. Bei jedem Bewerbungsgespräch habe | |
sie das Gleiche gehört: zu wenig Arbeitserfahrung, zu unflexibel. Auch das | |
Kopftuch habe einige potenzielle Arbeitgeber abgeschreckt. | |
Weil der Wiedereinstieg in ihren Beruf nicht gelingt, vermittelte das | |
Jobcenter Weiterbildungsmaßnahmen. Nach ein paar Dutzend Computer- und | |
Bewerbungskursen habe sie genug gehabt, erzählt die Stadtteilmutter: „Ich | |
wusste, wie man eine Bewerbung schreibt. Was mir fehlte, war eine | |
vernünftige Arbeit.“ In einer Zeitungsannonce entdeckte sie die Anzeige der | |
Stadtteilmütter und bewarb sich. „Ich war begeistert von der Idee“, | |
erinnert sich Nuriye S. Die Möglichkeit, anderen Menschen zu helfen und | |
sich dabei selber weiterzubilden, das habe ihr gefallen. | |
## Viel Mundpropaganda | |
Die Probleme, mit denen sie als Stadtteilmutter zu tun hat, erreichen sie | |
per Telefon oder per „Mundpropaganda“. Oft gehe es um Erziehungsfragen, | |
Probleme in der Schule oder einen fehlenden Kitaplatz, erzählt Nuriye S. | |
Natürlich sei der Job nicht immer leicht. Oft hapere es bei der Umsetzung | |
der gefundenen Lösungsansätze. Dann helfe nur Geduld, sagt sie und lacht. | |
Es gäbe aber auch sehr schöne Erlebnisse, sagt die 50-Jährige und erzählt | |
von ihrem jüngsten Treffen: „Ich habe die Frau gefragt, was ihr am besten | |
gefallen habe. Sie hat gesagt: dass wir in den Stadtteilmüttern jemanden | |
gefunden haben, der uns unterstützt. Auf den wir uns verlassen können.“ | |
Schaut Nuriye S. auf die vergangenen zehn Jahre zurück, ist sie zufrieden. | |
„Durch die Stadtteilmütter haben sich immer wieder neue Türen für mich | |
geöffnet.“ Seit Dezember vergangenen Jahres arbeitet sie als | |
Integrationslotsin und hat es damit auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft, | |
wenn auch erst einmal auf ein Jahr befristet – gemeinsam mit neun weiteren | |
Stadtteilmüttern. Lediglich 10 von 358 ausgebildeten Stadtteilmüttern, das | |
sei nicht genug, erklärt Projektleiterin Maria Macher: „Langfristig sollte | |
es gelingen, alle Frauen auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln und | |
gerecht zu bezahlen.“ Dabei sieht sie auch den rot-schwarzen Senat in der | |
Pflicht. | |
Nuriye S. weiß noch nicht, wie es weitergeht, wenn ihr Vertrag im Dezember | |
ausläuft. Trotzdem hofft sie, dass „ich auch das nächste große Jubiläum d… | |
Projektes als Stadtteilmutter feien kann“. GESA STEEGER | |
2 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
GESA STEEGER | |
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