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# taz.de -- Die Juden von Sarajevo
> Noch leben 680 Juden in der bosnischen Metropole, einst blühendes Zentrum
> der Sefarden. Von fünf Synagogen dient nur noch eine als Tempel, der
> Friedhof ist von Schützengräben durchzogen  ■ Aus Sarajevo Thomas Sch…
Europa schaut weg. Europa schaut zu. Europa tut nichts, läßt uns krepieren.
Die Menschen in Sarajevo haben ihre Hoffnungen längst begraben. Die
Hoffnung, daß das zivilisierte Europa der Barbarei Einhalt gebietet, die
Hoffnung, daß die mörderischen Haubitzen und Mörser, aus denen die
belagerte Stadt täglich beschossen wird, zum Schweigen gebracht werden,
schlicht: die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben. Die langen Reihen
schweigender Menschen mit Plastikeimern vor den Wasserstellen, die kaum
versorgten Kranken in ungeheizten Räumen, die apathischen Kinder mit dem
verstörten Blick, die jungen Frauen mit ergrautem Haar, die klapprigen
Alten mit dem grauen Teint, lauter stumme Anklagen.
Manchmal klagen sie auch laut: „Wären wir nicht Muslime, so würde Europa
etwas unternehmen.“ Als ob es um den ewigen Konflikt zwischen Christentum
und Islam ginge, zwischen Abendland und Morgenland. Nein, so einfach ist es
gewiß nicht. „Europa“ hat auch zugeschaut, als das katholische Kroatien von
den orthodoxen Serben überfallen wurde. Was aber wäre eigentlich, wenn
heute nicht Muslime hinter Stacheldraht in Lager gesperrt würden, sondern
Juden? Was wäre, wenn in Sarajevo seit 19 Monaten nicht vor allem Muslime,
sondern Juden eingeschlossen wären, frieren würden, durchschnittlich
innerhalb eines Jahres 18 Kilogramm Körpergewicht verloren hätten, wenn
2.000 jüdische Kinder von Heckenschützen getötet oder von Granaten zerfetzt
worden wären? Würde Europa dann auch weg- oder zuschauen?
Die provokante Frage wurde in Deutschland wiederholt aufgeworfen – von
Daniel Cohn-Bendit. Das hat sich auch unter den Juden Sarajevos
durchgesprochen. Ihnen geht es so dreckig wie den 300.000 Muslimen, wie den
etwa 60.000 Serben und den einigen tausend Kroaten auch. Sie alle haben nun
schon wieder seit bald einem Monat kein fließendes Wasser, keinen Strom,
kaum etwas zu essen, sie alle frieren, hungern und wissen nicht, wie sie
diesen Winter überleben.
Und trotzdem: In einem Punkt sind die Juden Sarajevos aufgrund dessen, was
ihrem Volk in diesem Jahrhundert angetan worden ist, privilegiert. Sie
haben bessere Chancen, ausreisen zu dürfen. In 14 Konvois, die die jüdische
Gemeinde seit Kriegsbeginn organisiert hat, sind 800 Juden und zusammen mit
ihnen 2.700 Kranke, Verletzte und Pflegebedürftige der übrigen Volksgruppen
der Hölle Sarajevos entflohen. „Im letzten Konvoi, am 21. August“, sagt
Danilo Nikolić mit sarkastischem Unterton, „ließ die bosnische Regierung
allerdings nur noch ethnisch reine Juden ausreisen, die jünger als 15 oder
älter als 65 waren.“ Ethnisch reine Juden, also keine „Halb-“, „Vierte…
„Achtel-“, „Sechzehnteljuden“. Der Vizevorsteher der jüdischen Gemeind…
der die Zeit der deutschen Besetzung in einem montenegrinischen Dörfchen
überlebt hat, zieht bei dieser Vorstellung ein Gesicht, das weitere Fragen
überflüssig macht.
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten 14.000 Juden in Sarajevo. Es gab vier
sefardische und eine aschkenasische Synagoge in der Stadt. Nach dem Krieg
sind gerade noch zwischen 2.500 und 3.000 zurückgekehrt – aus Verstecken,
Konzentrationslagern und Einheiten von Titos Partisanen. Zu Beginn der
Belagerung im Frühling des vergangenen Jahres lebten noch 1.200 in der
bosnischen Hauptstadt. Trotz der Evakuierung von 800 Juden zählt die
Gemeinde heute 680 Mitglieder. Seit Jugoslawien mit Serbien-Montenegro
identisch ist, haben viele Juden, die sich früher schlicht als Jugoslawen
deklarierten, ihre Volkszugehörigkeit entdeckt. „In diesen schrecklichen
Zeiten sehnen sich eben viele nach einer Gemeinschaft, die ihnen Schutz
bietet“, vermutet Nikolić.
Andere wiederum haben eher aus pragmatischen Erwägungen den Weg zur
jüdischen Gemeinde gefunden. Neben der muslimischen Hilfsorganisation
Merhamet, der katholischen Caritas und der orthodoxen Dobrotvor gibt es
nämlich auch die jüdische Benevolencija. Ihren Sitz hat sie in einem
Nebengebäude der großen aschkenasischen Synagoge, der einzigen in Sarajevo,
die heute noch als Gotteshaus dient. Den 1902 in pseudomaurischem Stil
erbauten Tempel erreicht man von der Altstadt her kommend über eine Brücke,
die heute nur noch als Gerippe vorhanden ist. Die Fahrbahn gibt es nicht
mehr. Fuß vor Fuß setzend, tastet man sich auf einem der beiden schmalen
Stahlträger ans andere Ufer der Miljacka.
Die Benevolencija ist eine altehrwürdige Einrichtung. Vor hundert Jahren
gegründet, versorgte sie vor allem die armen Juden der Stadt und bot ihnen
eine schulische und handwerkliche Ausbildung. Von der faschistischen
Ustascha- Republik Kroatien wurde sie 1941 aufgelöst, existierte nach dem
Krieg zunächst unter anderem Namen weiter, bis Tito 1956 alle nationalen
und religiösen Vereine verbot. Erst 1991, kurz vor Kriegsbeginn, wurde sie
neugegründet. Täglich verteilt sie nun Hilfsgüter, die sie von der UNO
zugewiesen bekommt oder von jüdischen Gemeinden, aber auch christlichen
Organisationen erhält.
Der Stolz der Benevolencija aber ist ihre Apotheke. „Durchschnittlich
kommen 1.500 Menschen pro Tag, um sich Medikamente abzuholen oder beraten
zu lassen“, erzählt Igor Goan, in der jüdischen Gemeinde zuständig fürs
Gesundheitswesen, „jüngst haben wir den einmillionsten Besucher seit
Kriegsausbruch gehabt.“ Goan, dessen Familie bis auf zwei Mitglieder den
Holocaust nicht überlebt hat, will auf jeden Fall in Sarajevo ausharren.
Sein Sohn hingegen ist, wie so viele jüngere Juden Sarajevos, nach Israel
ausgewandert. Dort bietet ihm der Staat wie allen jüdischen Flüchtlingen
aus Bosnien für die ersten sechs Monate kostenlose Unterkunft und
Ausbildung.
Die Arbeit der Benevolencija wird vor allen von Frauen getragen, und
innerhalb der Wohltätigkeitsinstitution gibt es denn auch eine eigene
Frauensektion. Sie nennt sich Bohoreta, das ist in der sefardischen
Tradition die Bezeichnung für die erstgeborene Tochter. Laura Papo-Bohoreta
heißt aber auch die jüdische Schriftstellerin aus Sarajevo, die sich um die
Bildung jüdischer Arbeiterinnen bemühte und 1942 im KZ ermordet wurde. „Sie
hat sich für Leute wie mich eingesetzt“, sagt Sonja Elazar, die Präsidentin
von Bohoreta. Sie selber ist Flüchtling. Ihre Wohnung ist knapp fünfhundert
Meter entfernt, auf serbisch besetztem Gebiet.
Werke von Laura Papo-Bohoreta findet man ein Stockwerk höher. David Kamhi,
der am Konservatorium doziert, setzt die Kipa auf seine Glatze und
verschwindet in der Bibliothek der Gemeinde. Schließlich kommt er wieder
mit einer Anthologie des „romancero judeo-español“, des jüdisch-spanischen
Romans, erschienen 1987 in Belgrad. Der Professor spricht fließend
spanisch. Es ist schließlich seine Muttersprache. In seiner Familie wurde
immer nur spanisch gesprochen. Und auch mit seinen Kindern spricht er nur
ladino, wie hier diese etwas seltsame, aber dem Spanischkundigen mühelos
verständliche Sprache genannt wird, die als „judenspanisch“ in die
linguistische Fachliteratur eingegangen ist.
Unten in der Suppenküche, wo Benevolencija täglich 350 Personen – Juden und
Nichtjuden – verköstigt, gibt es heute, es ist Sabbat, in einer Brühe
verkochte Ravioli. An gewöhnlichen Tagen ist das Essen einfacher. Auch hier
sprechen viele Alte spanisch, obwohl sie nie in Spanien, geschweige in
Lateinamerika waren. Ihre Vorfahren waren nach dem Fall von Granada vor
fast einem halben Jahrtausend aus der iberischen Halbinsel eingewandert.
Viele der vom katholischen Spanien vertriebenen Juden fanden im Osmanischen
Reich ein neues Zuhause. Auf dem Balkan stießen sie auf die Romanioten,
Juden, die schon seit Jahrhunderten in diesem Raum siedelten. Schon bald
aber dominierten die neu zugewanderten Sefarden die jüdische Kultur in der
Region.
Sarajevo wurde neben Istanbul und Saloniki zu einem der bedeutendsten
Zentren der sefardischen Juden. Ihre Präsenz in der Stadt ist seit 1566
aktenkundig. Und noch im 16. Jahrhundert bauten sie ihr erstes Gotteshaus.
Doch die alte sefardische Synagoge im türkisch geprägten Marktviertel, die
im Zweiten Weltkrieg als Gefängnis und danach als Magazin diente, bis in
den 60er Jahren schließlich das jüdische Museum in ihr untergebracht wurde,
ist heute geschlossen. Zwar hat sie den Krieg bislang noch relativ
unbeschädigt überstanden, aber die kostbaren Museumsstücke wurden erst mal
in Sicherheit gebracht.
Drei weitere sefardische Synagogen wurden in den folgenden Jahrhunderten in
Sarajevo gebaut, unter ihnen die größte des Balkans überhaupt, die die
Gemeinde 1966 aber der Stadt als Kulturzentrum überließ. Nach dem Berliner
Kongreß von 1878, der den Österreichern erlaubte, Bosnien zu okkupieren,
siedelten sich nun auch viele aschkenasische Juden in Sarajevo an. Danach
war zeitweise ein Viertel der Stadtbevölkerung jüdisch. Doch seit Titos
Zeiten sind Sefarden und Aschkenasen in einer und derselben Gemeinde.
„Vor dem Zweiten Weltkrieg bedeutete es einen Skandal, wenn ein Sefarde mit
einer Aschkenasin Arm in Arm ging“, erinnert sich Kamhi, „heute verstehen
die Juden unter einer gemischten Ehe nicht mehr ein
sefardisch-aschkenasisches Paar, sondern ein jüdisch-muslimisches,
jüdisch-katholisches oder jüdisch-orthodoxes.“ Im letzten Jahrhundert noch
mußte der Oberrabbiner von Istanbul sein Plazet geben, wenn eine Sefardin
einen Aschkenasen ehelichen wollte, heute hat über die Hälfte der
verheirateten Juden den Ehebund mit einem Angehörigen anderer
Religionsgemeinschaften geschlossen. In Sarajevo, einst Sitz einer
bekannten Rabbiner-Schule, die so berühmte Leute wie Moritz Levi,
Oberrabbiner von Amsterdam, und Gaon, inzwischen in London pensionierter
Oberrabbiner für das Commonwealth, hervorgebracht hat, gibt es keinen Rabbi
mehr, seit Menhem Romano 1968 gestorben ist.
Mag sein, daß die jüdische Gemeinde schon bald wieder einen Rabbiner hat,
sie hofft auf einen jungen Mann, der sich zur Zeit in Israel ausbilden
läßt. Mag aber auch sein, daß der Krieg weiter geht und auch noch die
letzten 680 Juden ihr Heil in einem jüdischen Altersheim in Zagreb oder
Belgrad, in einem Flüchtlingshotel an der Adria oder im gelobten Land
Israel suchen. Es ist nicht einmal sicher, ob der schöne jüdische
Kovačići-Friedhof mit Gräbern aus dem frühen 17. Jahrhundert diese elenden
Zeiten überstehen wird. Das einzigartige Kulturgut mit den Grabmälern in
Form sitzender Löwen liegt zwanzig Fußminuten von der Synagoge mit ihrer
Bibliothek, Apotheke und Suppenküche entfernt auf serbisch besetztem Gebiet
und ist von Schützengräben durchzogen. Schon oft ist in diesem Krieg, der
mit modernen Mitteln und eigentümlich archaischem Bewußtsein geführt wird,
der Ausrottung der Menschen die Zerstörung ihrer Stätten kollektiver
Erinnerung gefolgt.
16 Nov 1993
## AUTOREN
thomas schmid
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