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# taz.de -- debatte: Die Feinde der Demokratie
> Vor 50 Jahre wurde der Radikalenerlass verabschiedet. Er war der
> Gegenpart zu Brandts Reformpolitik. Heute kämpfen Betroffene um ihre
> Rehabilitierung
Am 28. Januar 1972 fassten die Ministerpräsidenten der Länder einen
folgenreichen Beschluss, der unter dem Namen Radikalenerlass in die
Geschichte eingehen sollte. In den folgenden Jahren wurden 3,5 Millionen
Bewerberinnen und Bewerber für Berufe im öffentlichen Dienst überprüft. Der
Inlandsgeheimdienst erhielt im Zuge der „Regelüberprüfung“ die Aufgabe zu
beurteilen, wer als Staatsfeind zu gelten habe. Personen, die „nicht die
Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung
einzutreten“, wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt oder gar nicht
erst eingestellt. Die Überprüfungen führten nach Zählung der Initiative
„Weg mit den Berufsverboten“ bundesweit zu etwa 11.000
Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.256 Ablehnungen von
Bewerbungen und 265 Entlassungen.
Ob Willy Brandt den Radikalenerlass später als seinen größten politischen
Fehler bezeichnet hat oder ob es sich bei diesem nicht belegten Zitat um
den Versuch handelt, das sozialdemokratische Heiligenbild von dunklen
Flecken zu reinigen, kann dahingestellt bleiben. Fest steht, dass die
Politik der Berufsverbote das konsequente Gegenstück zu „mehr Demokratie
wagen“, neuer Ostpolitik und zur 1970 erlassenen Amnestie für
Demonstrationsdelikte im Rahmen von APO-Aktivitäten war. Eine aus dem Ruder
zu laufen drohende Generation erhielt die Einladung, wieder mitzuspielen,
bekam aber gleichzeitig deutlich gezeigt, in welchem Rahmen sich
oppositionelle Politik zu bewegen hat. Die damit verbundene Hexenjagd gegen
alles, was irgendwie links schien, stieß seinerzeit auf große
gesellschaftliche Gegenwehr und führte in anderen Ländern Europas zu
Besorgnis. Der Begriff „Berufsverbot“ fand als Fremdwort Eingang in
französische und englische Lexika. Offensichtlich war, dass hier die
postnazistische BRD Jagd auf altbekannte Feindbilder machte.
Fünfzig Jahre später fordern Betroffene nun die Aufarbeitung des
Radikalenerlasses und eine Rehabilitierung derjenigen, deren Existenzen
damals nicht nur beruflich beschädigt, sondern regelrecht zerstört wurden.
Dazu gibt es bislang nur in einzelnen Bundesländern – wie in Niedersachsen
– zaghafte Versuche. In Baden-Württemberg werden seit 2018 an der
Universität Heidelberg Berufsverbote erforscht. Das Ergebnis lässt sich aus
dem Zwischenbericht erahnen: Ungeachtet der akribischen Aktenauswertungen
und Fallschilderungen durch die beteiligten Wissenschaftlerinnen dekretiert
Professor Edgar Wolfrum, der das Projekt leitet, wie der Radikalenerlass
einzuordnen sei. Er sei nötig gewesen, weil „gegen Extremisten von rechts
und links die ‚wehrhafte‘ bzw. ‚streitbare‘ Demokratie in Stellung gebr…
werden musste“. Das hat mit der tatsächlichen Geschichte des
Radikalenerlasses wenig zu tun. Es gab nur fünf Fälle, in denen
Berufsverbotsverfahren gegen Rechte im öffentlichen Dienst eingeleitet
wurden.
Viel Zeit bleibt den Betroffenen nicht mehr. Die meisten von ihnen gehen
auf die 80 zu. Man sollte meinen, eine Geste des Bedauerns zum 50.
Jahrestag sollte nicht allzu viel Überwindung kosten. Selbst wenn sie in
einzelnen Härtefällen zu Entschädigungszahlungen führen sollte, könnten die
Bundesländer das aus der Portokasse begleichen. Dass es der Initiative
dennoch schwer fällt, eine größere Öffentlichkeit oder gar politische
Gremien für ihr Anliegen zu mobilisieren, hat mehrere Gründe.
Zum einen ist nicht ganz klar, was genau unter dem Begriff Radikalenerlass
zu verstehen ist: Tatsächlich handelte es sich ja lediglich um
Durchführungsbestimmungen für die Anwendung eines Gesetzes, dessen
„Gewährbieteklausel“ aus dem NS-„Gesetz zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums“ übernommen ist. Dieses Gesetz wurde schon vor 1972 gegen
Kommunisten (etwa im Zuge des KPD-Verbotes 1956) angewandt und wurde auch
später gegen Linke in Stellung gebracht, wenn auch nie wieder in den
Dimensionen der 1970er Jahre. Meist reicht es dabei aus, präventiv mit der
Anwendung der entsprechenden Rechtsvorschriften zu drohen.
Die Zeiten, in denen es nötig erschien, tausendfach Berufsverbote
auszusprechen, scheinen vorbei zu sein. Wer heute in Erwägung zieht, eine
Stelle im öffentlichen Dienst anzutreten, hat in aller Regel verinnerlicht,
dass eine allzu kritische politische Positionierung die Zerstörung der
beruflichen Existenz zur Folge haben kann. Dazu ist es nicht einmal
notwendig, die Praxis des Radikalenerlasses zu kennen. Dass von Beamten
politische Konformität erwartet wird, ist im kollektiven Bewusstsein so
tief verankert, dass BerufsanfängerInnen sich meist überhaupt nicht
vorstellen können, dass es Zeiten gab, in denen es nicht selbstverständlich
schien, sich dieser staatlichen Erwartung zu beugen.
Hinzu kommen immer neue politische Vorstöße, einen neuen Radikalenerlass zu
etablieren, der sich – selbstverständlich – „gegen Rechts wie Links“
richten soll. Wie genau eine solche Neuauflage aussehen sollte, ist unklar.
Der Verfassungsschutz ist personell und logistisch so aufgestellt, dass er
eine formelle „Regelanfrage“ kaum noch benötigen dürfte, um aktiv zu
werden. Begründet werden solche Vorschläge für Neuregelungen in der Regel
mit immer wieder öffentlich gewordenen Neonazis in Polizei, Bundeswehr und
Justiz. Warum die bestehenden gesetzlichen Regelungen in diesen Fällen so
gut wie nie angewandt wurden, wird dabei nicht thematisiert. Von einem
Berufsverbotsverfahren gegen den Gymnasiallehrer Björn Höcke ist bislang
nichts bekannt. Disziplinarrechtlich vorgegangen wurde gegen Rechte nur
gelegentlich im Fall massiver Straftaten.
In diesem gesellschaftlichen Klima eine Aufarbeitung des staatlichen
Unrechts einzufordern, das mit den Berufsverboten verbunden war und ist,
ist ein gelinde gesagt ehrgeiziges Unterfangen. Es wäre den Betroffenen zu
wünschen, dass sie nicht damit alleingelassen werden.
5 Aug 2021
## AUTOREN
Michael Csaszkóczy
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