# taz.de -- Die Erlösungsdiktatur | |
> „Big Brother“ ist kein purer Voyerismus, sondern dramatisierter | |
> Lebenskampf – und ein Abschießspiel. In einer Talkshow ohne Talkmaster | |
> darf jeder ein wenig Aufsehen erregen | |
Heute beginnt die nächste Folge von „Big Brother“. Sechs Frauen und sechs | |
Männer werden vom Privatsender RTL 2 für hundert Tage in eine Baracke | |
eingesperrt und Tag und Nacht von Kameras beobachtet. | |
An „Big Brother“ interessiert das sportliche Wettspiel: Es geht darum, die | |
Überlebenschancen der Handelnden abzuschätzen und Prognosen aufzustellen, | |
wer mehr, wer weniger Chancen hat. Solche Spiele werden überall gespielt, | |
im Actionfilm, beim Fußball. Natürlich hat das seinen Reiz, und es ist | |
falsch, das Angucken derartiger Spiele „Voyeurismus“ zu nennen. Denn | |
„Voyeurismus“ ist ein Begriff, den man auf das Enthüllen und Betrachten des | |
Verborgenen, Geheimen anwenden sollte, auf das Betrachten von Intimität. | |
Das ist jedoch nicht das Thema von „Big Brother“. | |
Erste These: In „Big Brother“ werden die Teilnehmer erniedrigt, aber nicht | |
so weit, dass das Wort „Voyeurismus“ notwendig wäre, sondern nur so weit, | |
wie es notwendig ist, um „Lebenskampf“ zu dramatisieren. Der Große Bruder | |
ist überall. Er zeigt die Leute im Schlafzimmer, beim Duschen und auch beim | |
Kloputzen – immer in der Überwacherperspektive. Das ist erniedrigend. Aber | |
hier ist das Betrachten von Erniedrigung nur ein Element unter vielen. | |
Genauso häufig wird auch Glück gezeigt: Die Leute tanzen, sie freuen sich, | |
wenn eine Aufgabe gelingt, sie liegen in der Sonne, streicheln die | |
Barackenkatze. Aber ein gewisses Maß an Erniedrigung ist dramaturgisch | |
notwendig, schließlich sollen die Beteiligten nicht nur in der Sonne | |
liegen, sie sollen als Überlebenskämpfer inszeniert werden. | |
Deswegen müssen sie auch back to basics: mit knappem Warmwasser und | |
Brennholz auskommen, sparsam haushalten, Brot selbst backen, Hühnereier | |
direkt bei den irritierten Hühnern einsammeln, die in einem Verschlag | |
leben. Außerdem haben die Überlebenskämpfer an Problemen zu arbeiten: Der | |
arbeitslose Zimmermann John hatte eine schwere Kindheit, der ebenfalls | |
arbeitslose Arbeiter Zlatko gierte nach den 250.000 Mark Siegerprämie, | |
während alle anderen beteuerten, dass sie ganz und gar nicht ans Geld | |
denken. Sabrina, die Dachdeckerin, hatte Schulden und keinen Freund. Alex, | |
der Edelkneipenbesitzer, und Kerstin, die Schauspielschülerin, suchten | |
„Herausforderungen“. Jürgen, der Facharbeiter, wollte seiner kleinen | |
Tochter zeigen, dass er durchhält. Andrea, die Freischaffende ohne | |
Karriereglück, ertrug keinen Gruppendruck, nahm aber „ihr Schicksal in der | |
Gruppe auf sich“. Deswegen ist es auch falsch, in „Big Brother“ eine gro�… | |
Puppenstube zu sehen. In Puppenstuben gibt es nur artige Rollen. Hier aber | |
gab es Erniedrigte, Probleme, Lebenskampf. Man betrachtet eine Regie mit | |
klar herausgearbeiteten Charakteren und Handlungslinien. | |
Die Eingesperrten machten viel Alltagskonversation. Meistens ging es um die | |
eigenen Gefühlchen und Befindlichkeiten. Die Beobachteten durften etwas zur | |
Schau stellen, was im kommerziellen Fernsehen längst akzeptiert ist: | |
Narzissmus. Ungenierte Selbstdarstellung ist gesellschaftlich gestattet. | |
Jeder darf in Talkshows sein Inneres veröffentlichen. Jeder darf ein wenig | |
Aufsehen erregen – solange er nicht mehr präsentiert als seine eigene | |
persönliche Deformation. Indem sie alles Problematische ausklammern, | |
erhoffen sich die Erniedrigten das Überleben. | |
Zweite These: Für die Zuschauer ist „Big Brother“ ein Abschießspiel. Wir | |
dürfen abschätzen, wer im Lebenskampf stark und wer schwach ist, und wir | |
dürfen die Schwachen rauskicken. Dritte These: Die „Big Brother“-Shows tun | |
so, als gehörten sie zum Format der Seifenopern – Doku-Soaps. In | |
Wirklichkeit sind es Talkshows – ohne Talkmaster. Kein Talkmaster sorgt als | |
Instanz der ausgleichenden Gerechtigkeit dafür, dass alle Beteiligten die | |
gleichen Chancen haben. Jetzt gibt es nur noch Kameras, die das freie Spiel | |
der Kräfte beobachten, Starke und Schwache. Darin ist „Big Brother“ ein | |
Modell des Postfordismus, des Neoliberalismus. | |
Abgeschossen werden die Schwachen. Das sind die Unbeholfenen, die ständig | |
jammern; schwach sind aber auch die Unbescheidenen und Größenwahnsinnigen. | |
Zlatko flog raus, weil er unbescheiden wurde, Jürgen siegte nicht, weil er | |
größenwahnsinnig geworden war. Als Zuschauer schätzen wir ab, wer angepasst | |
genug ist, um zu überleben. Oder wie John, der Sieger, es sagte: „Positiv | |
denken, sonst kann man das nicht durchziehen.“ Und bescheiden sein. John | |
machte sich nützlich und hielt das Maul. Der Mitläufer hat gesiegt. | |
Vierte These: „Big Brother“ fasziniert, weil darin ein populistischer | |
Diktator falsche Hoffnungen macht. In Orwells Roman „1984“ war der Große | |
Bruder ein Schreckensbild der Diktatur. Jetzt maskiert er sich. Er wird als | |
Helfer inszeniert, er „lässt einen nicht allein“, er „ist immer da“. A… | |
in einer Zeit, in der die Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen | |
„Freisetzung“ oder „Abrundung“ genannt wird, kann man diesem Großen He… | |
nicht trauen. Und sieht man genauer hin, ist dieser Big Brother nichts | |
anderes als das typische Leben im Zeitalter der Globalisierung: Er ist | |
immer da – als Bedrohung von Ruhe, Sicherheit, Zufriedenheit und | |
Karrierehoffnung. Er schafft immer neue Aufgaben und Hindernisse, die zu | |
bewältigen sind, wenn man Erfolg haben will. Wenn die Teilnehmer bei einer | |
Aufgabe versagen, kriegen sie weniger Haushaltsgeld. Die Aufgaben, die er | |
schafft, werden als willkürlich empfunden. | |
In der ersten Staffel hatten die Überlebenskämpfer den Überwacher und | |
Diktator ständig zu besingen: Sie sangen: „Big Brother“ ist okay. | |
Vielleicht wollten die Veranstalter sehen, wie weit sie gehen können, was | |
Menschen, die nach Erfolg gieren, alles schlucken. Keiner der Eingesperrten | |
widersetzte sich. Insofern sind die Eingesperrten Testkaninchen, | |
Experimentierratten. „Wir machen ja alles mit“, sagten sie danach, und man | |
spürte, dass es ihnen auf die Nerven ging. | |
Fünfte These: Weil „Big Brother“ größenwahnsinnige Fantasien anspricht, | |
wird ihm eine gewaltige Marketingmacht unterstellt. Erstaunlich ist der | |
Glaube in der Öffentlichkeit an das Raffinierte der Vermarktungstechniken | |
der Fernsehfirmen Endemol und RTL 2. Der Erfolg des Arbeiters Zlatko, der | |
mit seinem „Ich vermiss dich wie die Hölle“-Song angeblich Millionen | |
gemacht hat, scheint das zu bestätigen. In den Monaten danach standen | |
Zlatko und Jürgen mit dem Song „Du bist mein Großer Bruder“ auf Platz eins | |
der Hitliste. Die Schnellverwertung löst bei vielen von Arbeitslosigkeit | |
Bedrohten Erlösungsfantasien aus. Der Diktator gibt seinen Untertanen | |
Hoffnung: Er lässt sie glauben, sie könnten allein durch ihn superreich und | |
berühmt werden. Mittels Vermarktung scheint alles möglich, und das auch | |
noch ohne Anstrengung, ohne Qualifikation. Die Erlösungshoffnungen wurden | |
in den nachbereitenden Sendungen in Einkaufsfantasien kanalisiert. Kaum aus | |
dem Container raus, gehen die frisch gemachten Stars in die Boutiquen: | |
„Endlich ein paar geile Klamotten!“ So schafft RTL 2 das freundliche Umfeld | |
für Werbung, bereit für Werbeaufträge, ausgerichtet auf die Zielgruppe der | |
Konsumfreudigen. | |
Und wir, die Zuschauer und Objekt dieser Akquisitionsstrategie, erhalten | |
den Ratschlag: „Leb, ja, leb, wie du dich fühlst, ja, ja.“ So lautete der | |
Titelsong von „Big Brother“. Das war ein Lied der Gegenreform: Verlass dich | |
nicht auf deinen Verstand. Sei voll Gefühl. | |
Ein Diktator als Helfer in der Not, Medienkonzerne mit unbegrenzter | |
Marketingmacht und viel Zuschauergefühl: das ist die schöne neue | |
Fantasiewelt. | |
Sechste These: „Big Brother“ fasziniert auch, weil es darin freiheitliche | |
Momente gibt – die Suche nach dem Glück im Hier und Jetzt. Wir, die | |
Zuschauer, sind nicht nur brutale Moorhuhnabknaller und Zocker. Wir sehen | |
immerhin fasziniert zu, wie Menschen durch taktische Kommunikationsarbeit | |
etwas aus sich machen wollen. | |
Manche lehnen „Big Brother“ als „kulturlos“ ab, solchen Mist sehen sie … | |
nicht an: Ablehnung wird zum Intelligenznachweis. Demgegenüber halte ich | |
die Zuschauer, die den „Trash“ ansehen, für die Intelligenteren: Das ist | |
nicht mehr das Publikum von „Dallas“ und „Denver Clan“, das die Leiden … | |
göttergleichen Reichen und Schönen beobachtete und sich daran erfreute, | |
dass es Göttern dreckig geht. Wenn Fernsehzuschauer, selbst vom Leben | |
geplagt, keine leidenden göttlichen Stars mehr brauchen, wenn die | |
Stellvertreter ihrer Leiden jetzt reale Menschen sind – ist das nicht ein | |
Fortschritt? | |
Dass dieser Fortschritt nicht tadellos und sauber zu haben ist, also ohne | |
die reaktionären Fantasien vom erlösenden Marketingdiktator – das liegt | |
daran, dass Fantasien so sind wie die Gesellschaft, aus der sie | |
hervorgehen. DIETER PROKOP | |
Hinweise:Die Kameras beobachten das freie Spiel der Kräfte, Starke und | |
Schwache. Ein Modell des Neoliberalismus.Immer schön bescheiden sein: John | |
machte sich nützlich und hielt das Maul. Der Mitläufer hat gesiegt. | |
16 Sep 2000 | |
## AUTOREN | |
DIETER PROKOP | |
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