# taz.de -- Die Erfindung Kreuzbergs | |
> Wie alles anfing, dann aber nicht mehr so recht weiterging: Rio Reiser | |
> hat seine Memoiren geschrieben ■ Von Thomas Groß | |
Wenn die Musik vorbei ist, mach das Licht aus. Dann gut' Nacht. Solange sie | |
aber spielt, bist du am Drücker, vor allem, wenn du der Sänger bist. Dann | |
kannst du dich sogar in die finsteren Bezirke vorwagen, dorthin, wo die | |
Leute wohnen, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben: „Alte | |
Vorstadtregel: Wer gut singt, braucht nicht zu befürchten, eins auf die Nuß | |
zu kriegen.“ | |
Und so sang er denn immer, so schön er konnte: Rio Reiser, „König von | |
Deutschland“, in besseren Tagen einmal Komponist und Sänger der | |
gefürchteten Frontstadt- Kampfkapelle Ton Steine Scherben. Das vorneweg: | |
Die Erinnerungen eines Helden sind es wirklich nicht geworden, die er mit | |
ein wenig Hilfe des Journalisten Hannes Eyber zusammengetragen hat. Eher | |
schüchterne Bekenntnisse einer Wahl-Kreuzberger Nachtigall, durchsetzt mit | |
Kiffertips, Bluesrezepten und allerhand Weisheiten von der Straße – was | |
aber der Wahrheitsfindung insgesamt zugute kommt. Statt eine weitere | |
Legende um das Kreuzberg der wilden Jahre herum zu stricken, erzählt Reiser | |
die Geschichte haarklein: wie alles anfing, dann aber nicht mehr so recht | |
weiterging. | |
## Möbius-Schleifen | |
Schon der Name ist ein Ding für sich. Möbius: klingt nicht schlecht für | |
eine Karriere als Künstler, sollte man meinen – Möbius- Schleife und so | |
weiter. Vielleicht war aber die Befürchtung, als „ernsthafter“ Musiker | |
elektronische Avantgarde oder ähnlich Bläßliches produzieren zu müssen, zu | |
groß. Jedenfalls entschied Ralph Möbius, der jüngste dreier berlinstämmiger | |
Möbius-Brüder, sich, nachdem die Beatles ihn endgültig fürs Establishment | |
verdorben hatten, ausgerechnet nach einem „psychologischen Roman“ aus dem | |
ausgehenden 18. Jahrhundert zu benennen: Karl Philipp Moritz' „Anton | |
Reiser“ berichtet die Geschichte eines Kleinbürgerssohns, der zu einem | |
Hutmacher in die Lehre geht, wo er manch' Düsterkeit des Lebens zu spüren | |
bekommt; schließlich versucht er, seinen bedrückenden Verhältnissen zu | |
entkommen, indem er sich einer Horde von Schauspielern, anschließt, im | |
Roman hochauthentisch „Sp...sche Truppe“ genannt. | |
So gesehen ist Reiser dann doch wieder ein sprechender Name. Er paßt zu den | |
häufigen Umzügen der Familie Möbius, deren Ernährer mit wechselhaftem Glück | |
von Bayern über Franken und das Schwabenland bis rauf nach Hessen im | |
Verpackungswesen tätig war; er paßt zu den drei Brüdern, die sich zusammen | |
mit anderen Versprengten als „Hoffmanns Comic Teater“ eine | |
romantisch-bohemistische Existenz zurechtzuzimmern versuchten; und er paßt | |
zur Suche nach der Geschlechtsidentität des jüngsten Möbius, die sich mit | |
dem schönen alten Freudschen Wort „Triebschicksal“ noch immer am besten | |
bezeichnen läßt. Obwohl der nachmalige Rio Reiser mit den von Natur aus | |
dunklen Rändern um die Augen schon auf einem Kinderfoto stark an den Lou | |
Reed der Transformer-Phase erinnert, sollte es bis zur Gründung von Ton | |
Steine Scherben (und auch dann noch Jahre) dauern, bis er zum ersten Mal | |
einen Jungen ins Bett kriegte. Bis dahin mußte die Musik das alles | |
ausdrücken und -halten. | |
## Berliner Ökonomie | |
Die Gebrüder Möbius müssen als Gruppe ähnlich funktioniert haben wie die | |
Bee Gees: einer für die Geschäfte, einer für die Repräsentation nach außen, | |
einer, der musikalisch was drauf hat und gut singen kann; dann und wann | |
gab's Streit, aber immer nur kurz, the family that plays together ... Was | |
diese Truppe allerdings nach Berlin verschlug, scheint weniger mit | |
verblichenen Frontstadt-Mythen oder gar Sehnsucht nach der alten | |
Verwandtschaft zu tun gehabt haben als mit dem, was Fachleute die „Berliner | |
Ökonomie“ nennen. Berlin, so das Grundaxiom, habe schon immer Verlierer und | |
Versager aus der ganzen Republik angezogen. | |
Wenig attraktiv klingt tatsächlich, was Reiser über die Aktivitäten des | |
„Hoffmann Comic Teater“ (gewagt damals: ohne h!) zu berichten weiß. Eine | |
Beat-Oper namens „Robinson 2000“ mit fantastisch-futuristischer | |
Weltraumhandlung und David „Mrs. Appleby“ Garrick, Hans Hass jr., Peter | |
Horton sowie der Schlagersängerin Marion in tragenden Rollen gerät zur | |
Lachnummer, ein „Fernsehmusical“ namens „Drehorgelwalzenwelthit“ zum | |
Superflop (immerhin fand das ×uvre zahlende Abnehmer beim ZDF). „Berlin war | |
für mich eine Stadt wie Offenbach“, notiert Reiser nostalgiefrei für die | |
späten Sechziger. Von den ersten Aktionen an den Hochschulen dringt kaum | |
etwas in die dauerhaft mittellose Welt der Möbius Brothers („mit den | |
Studenten hatte ich Probleme“), und fast sieht es so aus, als würde „68“ | |
spurlos an ihnen vorüberziehen. Nichts, aber auch gar nichts weist auf die | |
historische Großtat von Ton Steine Scherben voraus: die Erfindung | |
Kreuzbergs. | |
Ich weiß nicht, ob als bekannt vorausgesetzt werden darf, daß Kreuzberg, | |
der Berliner Bezirk, dessen Niedergang heute durch keine noch so | |
entschlossene Kiezbeschwörung mehr zu kaschieren ist, damals ein | |
No-Name-Artikel war, ein weißer Fleck auf der Stadtkarte, von dem die | |
meisten nicht einmal den Namen wußten. Alles, was für die sogenannte | |
Studentenbewegung relevant war, spielte sich in der Dahlemer FU, im | |
südlichen Zipfel von Moabit oder in Kudammnähe ab, vor allem in der Gegend | |
um Bismarckstraße und Savigny-Platz. Dort vernetzten sich die als | |
„Schahbesuch“ historisch gewordenen Daten, dort fanden die entscheidenden | |
Demos statt, dort auch wurde Benno Ohnesorg in einem Hinterhof der Krumme | |
Straße vom rotsehenden Polizeioberwachtmeister Kurras erschossen. | |
## Proleten aus Broschüren | |
Nach Kreuzberg zu gehen, hieß Neuland betreten, wofür ein bekanntermaßen | |
banaler Grund existierte: Die Fabriketage, heute unerschwingliches | |
Traumobjekt versunkener Jahre, war damals im spekulationsnotorischen | |
Zonenrandbezirk SO 36 der billigste Wohnraum wo jibt – ein Inselchen für | |
Rio und seine an Produktionsmitteln armen Genossen. Außerdem „ging das | |
Gerücht, daß es in Kreuzberg noch echte Jungproleten gäbe, wie sie in den | |
Broschüren vorkamen“ – ein zusätzlicher Anreiz für die frischgegründeten | |
Ton Steine Scherben, die neuerdings schwer auf Lehrlingsagitrock machten. | |
Und doch: Zwingend war das alles nicht. So wie das historische Kreuzberg im | |
Grunde kein „organischer“, „gewachsener“ Stadtteil ist, sondern eine | |
Retortenstadt, zu Anfang des Jahrhunderts aus dem Boden gestampft, so ist | |
auch das Kreuzberger Gefühl der Sechziger und frühen Siebziger, an dessen | |
Formulierung Rio Reiser als Stimme von Ton Steine Scherben entscheidenen | |
Anteil hatte, keine „natürliche“ Angelegenheit, sondern etwas durchaus | |
Gewaltsames, Konstruiertes, ich möchte sagen: Bei der Erfindung Kreuzbergs | |
handelt es sich um eine Art Kunst im sozialen Raum. In ihr kreuzen sich die | |
vorgefundenen Bedingungen eines randständigen Viertels mit diversen | |
Gestimmtheiten zur Revolte und – nicht zuletzt – den Wunschvorstellungen | |
eines Reisenden, der endlich ankommen will. „Komm, schlaf bei mir“ heißt | |
das letzte Stück auf der LP „Keine Macht für niemand“. Wenige, für die es | |
zu einer Art abendlichen Hymne auf das heterosexuelle Hochbett wurde, | |
wußten, daß sie da einem schwulen Sehnsuchtgesang lauschten; und Reiser | |
wird es keinem auf die Nase gebunden haben: „Schwulsein war bei den Linken | |
nicht ,en vogue‘“. | |
## David Volksmund | |
Doch gerade das Moment von Umweg, Metapher, (notgedrungener) Politisierung | |
des Privaten sorgte eben auch für den Pop-Instinkt, die sloganhafte | |
Allgemeingültigkeit und bundesweite Strahlkraft der Scherben-Songs. Nicht | |
umsonst reimt sich in ihren Liedern „Saarbrücken“ auf „unterdrücken“,… | |
umsonst auch trug ihr selbstgegründetes Label den Namen „David Volksmund“ | |
(und hatte als Emblem eine Hand mit Zwille). Rio Reiser war der | |
unwahrscheinliche Mund einer fake- proletarischen Revolte, wie die Ästhetik | |
von Ton Steine Scherben überhaupt auf einer allgemein ersehnten | |
Erotisierung des Kollektivs beruhte. „Das Mikrophon ist der geile Schwanz | |
des Publikums, der befriedigt werden will“, heißt es auf Seite 271 des | |
Erinnerungswerks blumig. Und im nachhinein ist es ja auch aus (fast) jedem | |
Scherben-Song herauszuhören, dieses Tasten, Zögern und erst dann | |
Sich-Trauen, diese schüchterne Coolness der Frühe, dieses rauhe und oft | |
ungelenke deutsche Reden in Stones-liken Zungen, ein Stöhnen und Flehen, | |
ein ständiges Werben am Denkmal irgendeines unbekannten David: „Du hörst | |
mich singen/Aber du kennst mich nicht/Du weißt nicht, für wen ich | |
singe/Aber ich sing für dich/Wer wird die neue Welt baun/Wenn nicht du und | |
ich/Und wenn du mich jetzt versteh'n willst/Dann verstehst du mich“ | |
(„Schritt für Schritt ins Paradies“). | |
Mit traditioneller Agitation des Jungproletariats hat das, trotz | |
gegenteiliger Behauptungen, zum Glück wenig zu tun. Zwar kommt auch die | |
Sprache von Ton Steine Scherben nicht um gewisse Anlei | |
Fortsetzung Seite 16 | |
Fortsetzung von Seite 15 | |
hen beim Zille- und Zwille-Milljöh herum, und die schwächeren Songs wie | |
„Paul Panzers Blues“ hauen derb auf die Wir-hier-unten-Ihr- da-oben-Pauke | |
(„Ich geh zum Chef aufs Büro ... ich schrei: Du Drecksau/Gehst jetzt | |
arbeiten für meinen Lohn...“ usw.), doch in den überlieferten | |
Sekundärtugenden klassenbewußter Genossen geht das beileibe nicht auf. Der | |
Scherben-Sound ist vielmehr ein Kunstprodukt aus der Seele eines ziemlich | |
umherschweifenden Stammes. A Tribe Called Quest. Selbst die beinharte | |
Django-zahlt-heut- nicht-Mentalität des BVG-Songs („Hey, hey, hey, eher | |
brennt die BVG“) hat mehr mit Volksfeststimmung zu tun als mit echter | |
Reallohnsenkungsverbitterung. | |
Abwesenheit von Arbeit, Neuverteilung von Sex und Genußgütern, der Lockruf | |
eines gerade erst spruchreif gewordenen Miniaturdionysos – all das liegt | |
drin in diesem Kreuzberger Nölen, und es spricht nicht gegen Reiser, daß | |
aus seinem Gesang über diverse Verfallsstufen von ganz fern auch ein | |
bettelndes „Ey, haste mal ne Mark“ herauszuhören ist. | |
## Saturnalien der Linken | |
Dann natürlich Hausbesetzungen. Sie gehören zum Kreuzberger | |
Gründungsmythos, und auch Reiser widmet ihnen gar manche Seite. Ich will | |
nicht behaupten, daß die Geschichte des Besetzertums nach der Lektüre | |
dieser Memoiren neu geschrieben werden muß, aber sie halten doch fest, was | |
die Ursprungsintention dieser Form von Mikropolitik war. Keinesfalls | |
nämlich Besitzsicherung oder Sozialreformertum, sondern Okkupation von | |
Räumen für „Saturnalien der Linken“, etwas Kultisches, Kreuzberger | |
Karneval, das situationistische Erbe: „Der Mariannenplatz war blau, soviel | |
Bullen waren da ...“ Gerade der „Rauch-Haus- Song“, ein Stück Berliner | |
Boogie- Folklore, in dem die Scherben diversen ansonsten längst | |
bedeutungslos gewordenen Lokalpolitikern ein Denkmal gesetzt haben, macht | |
klar, daß Kreuzberg im Grunde eine antimodern verfaßte Stadt in der Stadt | |
war/ist, ein Traumbezirk, der sich in unübersichtlicher werdenden Zeiten an | |
gewisse Sinnlichkeiten klammert: „schmeißt doch endlich Schmidt und Press | |
und Mosch aus Kreuzberg raus“. | |
Ein bißchen ist hier natürlich auch die spätere Kiezpolizei präfiguriert, | |
wie bei kleineren Gemeinwesen, wo mancher manchen kennt, ja überhaupt die | |
Libertinage nur allzuleicht in Saubermannmentalität umkippt. Zumindest bis | |
ins erste Drittel der Siebziger halten die Scherben allerdings das | |
egalitäre Prinzip des Kreuzberger Gefühls hoch, sie wollten die Welt und | |
sie wollten sie jetzt: „Gemeinsam essen und keiner nimmt dem anderen die | |
Butter vom Brot. Frieden“ – ein neu etablierter Sozialstandard, der fast | |
unverändert auch in die Songs übernommen wurde. „Kommt zusammen, | |
Leute/Lernt Euch kennen/Du bist nicht besser als der neben dir/Keiner hat | |
das Recht/Menschen zu regieren“, singt Rio Reiser, Jahre vor der deutschen | |
Ankunft Foucaults, in „Keine Macht für niemand“, im übrigen eine | |
Auftragsproduktion für die Rote Armee Fraktion. Man kann sich denken, daß | |
und warum das von der RAF dann nicht so positiv aufgenommen wurde. | |
Dabei gehört zu den vielen Unterhaltsamkeiten des Reiser-Textes die | |
glaubhafte Erinnerung daran, wie sehr alles im Fluß war, wie nichts sich | |
wirklich auszuschließen schien in diesen antiautoritären Gründerjahren: RAF | |
und Kifferblues, Küchentisch und Straßenfest, Orgasmusschwierigkeiten und | |
Produktionsverhältnisse, Karl May und Karl Marx, selbst Agit-Lyrik und | |
wohlverstandenes Christentum: „Ich bin tausendmal verblutet/Und sie haben | |
mich vergessen/Ich bin tausendmal verhungert/Und sie war'n vollgefressen“ – | |
das ist natürlich volle Kanne Leiden Christi. Aus der Feder seines | |
irdischen Nachfolgers Rio Reiser. Ganz innen drin im Saturnalien-Gebäude | |
des Kreuzberger Kampfsterns Ton Steine Scherben kauert stets die | |
unterdrückte Sohnesgestalt, die das Gewicht der Welt von sich abwälzt, | |
indem sie sich allround-solidarisch zeigt. | |
## Pharisäer und Schriftgelehrte | |
Lange hielt diese hochdialektisch gespannte Einheit feinfaserigster | |
Widersprüche, auf der eine ganze Weile gut tanzen war, bekanntlich nicht | |
zusammen. „Anfang 1974 drehte sich der Wind. Auf der einen Seite sammelten | |
sich Pharisäer und Schriftgelehrte in immer neuen Buchstabenkürzeln und | |
-kombinationen ...“ Die orthodoxe Wende der antiautoritären Bewegung war | |
auch der Beginn einer Krankheit zum Tode für die Kreuzberger | |
Lokalkosmopoliten Ton Steine Scherben – deren mähliches Siechtum uns der | |
Autor gnädig erspart. Als hätte er bereits genug erzählt, ist er ganz | |
undramatisch, von einer Seite auf die andere, plötzlich im Jahr 1985 | |
angelangt, wo die Scherben ihre gemeinsame Karriere beendeten, nicht ohne | |
einen Schuldenberg von einer halben Million zu hinterlassen. | |
Wenn die Musik vorbei ist, mach das Licht aus: Am Ende des Texts steht eine | |
schwule Genre- Szene, in der der Held von einem baumlangen Schwarzen mit | |
Drinks und guten Reden bedient wird. Besser hätte der letzte Satz aus dem | |
„Anton Reiser“ gepaßt: „Die Sp...sche Truppe war also nun eine zerstreue… | |
Herde“. | |
Rio Reiser/Hannes Eyber: „König von Deutschland“. Kiepenheuer & Witsch, 300 | |
Seiten, 29,80 DM | |
8 Apr 1994 | |
## AUTOREN | |
thomas groß | |
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