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# taz.de -- Die Echokammer des Ich
> Die einzige Installation des Komponisten Terry Riley ist nach mehr als
> drei Jahrzehnten rekonstruiert worden
Hier gibt es kein Entrinnen vor dem Selbst. Wohin man auch blickt, man
sieht den eigenen Körper. Das leiseste Geräusch wird von zahllosen, sich
überlagernden Echos aus verschiedenen Richtungen reflektiert. So sehe ich
also aus, so klinge ich. Die Installation „Time-Lag Accumulator“ von Terry
Riley ist eine Echokammer des Ich.
Der minimalistische Komponist hatte dieses Werk 1968 für die Ausstellung
„Magic Theater Show“ in Kansas City entwickelt, und seither ist es nie
wieder gezeigt worden. Es ist die einzige derartige Arbeit von Riley, der
eigentlich als einer Begründer der Minimal Music und als Komponist von
Werken aus streng repetitiven Patterns bekannt geworden ist. Nun ist in
Lille, einer der beiden diesjährigen europäischen Kulturhauptstädte, mehr
als dreißig Jahre später, in der Ausstellung „Les Microfolies“ zum ersten
Mal eine neue Version des „Time-Lag Accumulators“ zu sehen.
Damit ist ein in Vergessenheit geratenes Schlüsselwerk der postmodernen
Kunst wieder zu entdecken. Der „Zeitverzögerungs-Akkumulator“ war nicht nur
die Blaupause für die Videoinstallationen, mit denen Künstler wie Dan
Graham oder Bruce Nauman Anfang der Siebzigerjahre ihre Karriere begonnen
haben. Er bringt auch wie keine andere Arbeit aus dieser Zeit die
Moment-Fixiertheit und die Abkehr von den Großen Erzählungen der Moderne in
den Sechzigerjahren auf den Punkt.
Von außen erinnert der achteckige Pavillon mit seinen Wellblechwänden an
ein Wachhaus oder eins der historischen Berliner Straßenpissoirs. Wenn man
durch die einzige Tür eingetreten ist, findet man sich in einer von acht
Kammern wieder, deren Wände mit Spiegelfolie bezogen sind. Unter der Decke
hängen Mikrofone, die jedes Geräusch aufzeichnen und mit leichter
Verzögerung (eben mit „time-lag“) in einer anderen Kammer wiedergeben.
Mehrmals hört man die eigene Stimme aus verschiedenen Richtungen. Wenn man
laut genug geschrien hat, überlagern sich diese Echos zu einer erst
anschwellenden, dann langsam absterbenden Wall of Sound. Die Wiederholungen
bügeln etwaige Unvollkommenheiten der eigenen Stimme aus, und schließlich
bleibt von dem, was man gesagt hat, statt Bedeutung nur ein waberndes
Rauschen übrig. Der „Time-Lag Accumulator“ ist eine Art Dub-Stück zum
Durchwandern. Kaum zu glauben, dass die Originalversion mit einer Reihe von
Tape-Loops auf Tonband-Maschinen lief; mit denen Riley zu der Zeit auch die
wildesten Kompositionen seiner Laufbahn herstellte. Nun produziert das
Computerprogramm MAX die künstlichen Echos.
Plötzlich klingt es, als ob eine 100-köpfige Schulklasse in den Raum
eingedrungen ist: Kichern, Kreischen, Türenschlagen donnern durch das
Achteck, aber dann rennen nur zwei Kinder an einem vorbei. Noch lange,
nachdem sie wieder weg sind, klingen ihre Rufe nach, und ihre leiser
werdenden Echos erinnern an die Geräusche eines entfernten Freibads oder
eines Rummelplatzes. Dann ist man wieder allein mit dem eigenen Bild und
dem eigenen Sound und kann mit sich selbst einen mehrstimmigen Kanon
singen. Interessanterweise führt die Konfrontation mit dem eigenen Ich
rasch zu einer Dezentrierung der eigenen Wahrnehmung bei gleichzeitigen
Anwandlungen von ozeanischen Gefühlen.
Der „Time-Lag Accumulator“ erinnert an die „philosophischen Spielzeuge“…
18. und 19. Jahrhunderts. Geräte wie das „Lebensrad“ oder die „Laterna
Magica“ popularisierten damals die neuesten naturwissenschaftlichen
Erkenntnisse in einer leicht nachvollziehbaren Form. Die Installation ist
ein lupenreines Feedback-System, wie es die damals populäre Kybernetik in
ihren Weltmodellen beschrieb. Gleichzeitig macht es einige der Ideen über
die menschliche Wahrnehmung physisch nachvollziehbar, die der in den
Sechzigerjahren sehr populäre französische Phänomenologe Maurice
Merleau-Ponty beschrieben hat.
Doch vor allem ist er das Monument der „Now-Generation“ der Sechzigerjahre
mit ihrer Feier des Hier und Jetzt. Der „Time-Lag Accumulator“ lässt den
schönen Augenblick verweilen; er verleiht dem Moment Dauer, wenn er ihm
schon keine Ewigkeit geben kann. Indem er den Betrachter ganz auf sich
selbst zurückwirft, ist er zugleich eine Absage an jede Art von Aussage
oder Intentionalität in der Kunst. Der „Time-Lag Accumulator“ ist der
Höhepunkt einer Kunst, die wie Minimal Art oder die frühe Konzeptkunst auf
Bedeutung verzichtet, und den Betrachter stattdessen mit sich selbst
konfrontiert. Das bist du, mehr ist nicht da. TILMAN BAUMGÄRTEL
Die Ausstellung „Microfolies“ ist noch bis zum 8. August in Lille zu sehen.
[1][www.lille2004.com]
2 Aug 2004
## LINKS
[1] http://www.lille2004.com
## AUTOREN
TILMAN BAUMGÄRTEL
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