# taz.de -- Die Ansichten des José Martí | |
> Fotografie Kuba wird derzeit große Aufmerksamkeit in der Fotoszene zuteil | |
> – der Künstler Alfredo Sarabia Fajardo jr. widmet sich Büsten eines | |
> großen Nationaldichters | |
Bild: Aufnahme aus Alfredo Sarabia Fajardo jrs. Serie „Essay über das Gleich… | |
VON Damian Zimmermann | |
Denkt man an Kuba, Nationalhelden und Freiheitskämpfer, landet man wohl | |
automatisch bei Che Guevara und Fidel Castro. Doch der wohl wichtigste | |
Nationalheld des Inselstaats war der Poet und Schriftsteller José Martí. Er | |
kämpfte gegen die Kolonialmacht Spanien und für die Unabhängigkeit seines | |
Landes – und starb auch dabei. Auf dem Friedhof Cementerio Santa Ifigenia | |
in Santiago de Cuba steht sein 24 Meter hohes Mausoleum aus weißem | |
Kalkstein, und auch im alltäglichen Leben ist Martí noch immer | |
allgegenwärtig: Sein Gesicht ziert den Ein-Peso-Schein und eine Büste | |
Martís steht in allen Schulen und auf vielen Plätzen. | |
## Die Saat der Gedanken | |
Mit dieser Omnipräsenz hat sich der junge kubanische Fotograf Alfredo | |
Sarabia Fajardo jr. (Jahrgang 1986) in seiner Serie „Essay über das | |
Gleichnis des Sämanns“ beschäftigt. Er ist durch ganz Kuba gereist und hat | |
Martí-Büsten fotografiert. Überall spürte er sie auf, und jede porträtierte | |
er anders: mal klar und majestätisch vor einem dunklen Himmel oder in einem | |
Innenhof, dann von Rosendornen umgeben, in extremer Unteransicht, als | |
Spiegelung in einer Wasserpfütze oder bereits halb verwittert. Sarabia | |
interessiert sich für die Beziehungen, die man mit der Statue eingeht – im | |
Sinne der Saat der Gedanken, die auf der gesamten Insel verstreut sind und | |
gedeihen oder auch nicht. Ein wenig erinnert Sarabias Serie an die „36 | |
Ansichten des Bergs Fuji“ des japanischen Farbholzschnittkünstlers Hokusai: | |
Auf allen Abbildungen ist der heilige Berg zu sehen, oft allerdings nur als | |
Detail im Hintergrund wie in dem bekanntesten Bild „Die große Welle vor | |
Kanagawa“. | |
Gerade war die Serie in der Ausstellung „Cuba im Blick“ in der Michael | |
Horbach Stiftung in Köln zu sehen – gemeinsam mit zwei Dutzend anderen | |
Positionen, die sich mit dem Karibikstaat seit der Revolution in den 1960er | |
Jahren bis heute beschäftigen und dabei die gängigen Klischees komplett | |
vermeiden. Das passt sehr gut zum neu erwachten Interesse an dem | |
sozialistischen Inselstaat – in Kunstausstellungen und auf Messen sieht | |
man vermehrt Kunst aus Kuba, und im Pariser Centre Pompidou läuft aktuell | |
eine Ausstellung mit Fotografien der Nouvelle-Vague-Regisseurin und | |
Fotografin Agnès Varda. | |
Möglicherweise hängt dieses Interesse mit der Annäherung zwischen Kuba und | |
den USA und der damit verbundenen Befürchtung vieler zusammen, das | |
historische Kuba in Kürze drohe zu verschwinden. Für die Horbach-Stiftung | |
ist Kuba zusammen mit Südamerika allerdings schon seit Jahren ein | |
Schwerpunktthema, fünf der bislang acht Preisträger des Fotopreises der | |
Stiftung stammen aus Ländern Südamerikas. Und auch sein Atelier-Stipendium | |
hat er bereits an Künstler aus dieser Region vergeben – zuletzt eben an den | |
29-jährigen Alfredo Sarabia Fajardo jr., der drei Monate in der Domstadt | |
gelebt und gearbeitet hat. | |
## „Ich bin hier“ | |
Während dieses Aufenthaltes hat Sarabia seine Serie über die Büste des | |
kubanischen Nationalhelden in gewisser Weise neu interpretiert – und vor | |
Ort die fünfteilige Arbeit „Ich bin hier“ realisiert. Dieses Mal steht das | |
Kölner Wahrzeichen, der gotische Dom, im Mittelpunkt. „Er war immer mein | |
Referenzpunkt bei jedem Spaziergang, auf jeder Strecke, die ich durchlief. | |
Er ist ein Symbol für das Spirituelle und gleichzeitig für die Geschichte | |
dieser Stadt“, erklärt Sarabia und zeigt auf seinen Fotografien immer nur | |
die Domspitzen, die hinter Treppenaufgängen, Erd- und Schutthaufen wie eine | |
Landmarke erscheinen. | |
Überhaupt sind Landmarken, also wiederkehrende Motive, in Sarabias | |
Fotografien eine der zentralen Komponenten. In „Esperanza“ ist es etwa der | |
Schienenstrang, der ein Dorf mit dem restlichen Land verbindet und dem er | |
gefolgt ist. Für seine stärkste Serie hat er den Cementerio Cristóbal Colón | |
in Havanna fotografiert. Genauer: die Außenmauer des riesigen, | |
denkmalgeschützten Friedhofs. | |
Sie teilt Sarabias Fotos jeweils in zwei Hälften. So sehen wir | |
beispielsweise auf der einen Seite einen jungen Mann, der ein Kreuz hinter | |
sich herschleift, auf der anderen Seiten sehen wir eine menschenleere, | |
staubige Straße und eine heruntergekommene Häuserzeile. Woanders versucht | |
eine durch die Langzeitbelichtung verwackelte Person, die fast wie ein | |
Geist wirkt, über die Mauer zu klettern – nicht, um den Friedhof zu | |
verlassen, sondern im Gegenteil, um ihn zu erreichen. Der liegt bereits im | |
Schatten, den Mauer und Zaun wegen der tiefstehenden Sonne werfen, und | |
wirkt alles andere als einladend. Auf einem weiteren Foto sehen wir zwei | |
Hauptstraßen – die eine relativ belebt und mit einem vorbeifahrenden | |
Lastwagen, die andere – für die Besucher des Friedhofs gedacht – | |
menschenleer. Mauer und Zaun trennen auch hier beide Welten, jedoch wirken | |
die Gräber genauso akkurat, ordentlich und sauber wie die Häuser auf der | |
anderen Seite. | |
Mit seinen Schwarz-Weiß-Fotos teilt Sarabia, der trotz seines jungen Alters | |
bereits Professor an der Universität der Künste in Havanna ist, die Stadt | |
der Lebenden von der Stadt der Toten und nimmt uns mit auf seiner Wanderung | |
auf diesem sehr schmalen Pfad. Eine formal strengere Herangehensweise hätte | |
der Sequenz sicherlich gutgetan, aber dennoch: Der Ort nimmt den Betrachter | |
gefangen, auch ohne ihn selbst besucht zu haben. | |
Agnès Varda im Centre Pompidou, Paris, bis 1. Februar | |
15 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Damian Zimmermann | |
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