| # taz.de -- Diäten oder Hartz IV: "Das schmerzt schon" | |
| > Er ist mit Leib und Seele Politiker und verlor sein Mandat auf | |
| > unappetitliche Weise. Der 36-Jährige ist das prominenteste Opfer der | |
| > Streitereien in Hamburgs SPD. Die muss ihre Fehler aufarbeiten, um wieder | |
| > erhobenen Hauptes auftreten zu können - und Niels Annen will nach 24 | |
| > Semestern den Bachelor machen. | |
| Bild: Abschied vom Bundestag: Die Fraktionskollegen Olaf Scholz, im Fleece-Pull… | |
| taz: Herr Annen, seit Samstag sind Sie nicht mehr Bundestagsabgeordneter. | |
| Haben Sie das schon realisiert? | |
| Niels Annen: Ja, klar, ich hatte fast ein Jahr Zeit, mich darauf | |
| vorzubereiten, nachdem ich im vorigen November nicht wieder aufgestellt | |
| worden bin. Viele meiner Kollegen haben ja erst am Wahlabend erfahren, dass | |
| sie nicht wieder dabei sind. Insofern gab es bei mir keinen Schock. | |
| Sind denn Ihre Wunden verheilt nach den heftigen und langwierigen | |
| Auseinandersetzungen mit ihrem Konkurrenten Danial Ilkhanipour um die | |
| Kandidatur im Wahlkreis? | |
| Ich war mit Leib und Seele Abgeordneter und hätte gerne weitergemacht. Und | |
| ich glaube in aller Bescheidenheit sagen zu dürfen, ich war nicht ganz | |
| erfolglos. Insofern schmerzt es mich, dass ich nicht mehr | |
| Bundestagsabgeordneter bin. Aber ich habe schon im vorigen November bei der | |
| Nominierung im SPD-Kreisverband meine Niederlage akzeptiert und Herrn | |
| Ilkhanipour gratuliert … | |
| Herrn Ilkhanipour? | |
| Ja, er hatte eine Stimme mehr als ich, 46 zu 45. | |
| Sind sie per Sie? | |
| Nein. Siezen gilt ja in der SPD fast als Beleidigung. | |
| Eben. | |
| Ok, ich habe also Danial gratuliert. | |
| Der aber hat das Direktmandat am 27. September krachend an die CDU | |
| verloren. | |
| Das ist eine katastrophale Niederlage für die SPD. Jahrzehntelang war | |
| Eimsbüttel eine Hochburg für uns, und jetzt dieser Erdrutsch. | |
| Ilkhanipour hat nur etwa halb so viele Stimmen bekommen wie Sie vier Jahre | |
| zuvor. Denkt man da nicht: "Seht ihr, ich wäre der bessere Kandidat | |
| gewesen"? | |
| Ich war geschockt, ganz klar. Damit hatte ich nicht gerechnet. Aber das ist | |
| kein Grund für billigen Triumph. Der Wahlkreis ist weg, und meine Partei | |
| muss einen Scherbenhaufen kitten. Da müssen persönliche Befindlichkeiten | |
| hintenanstehen. | |
| Stichwort Scherbenhaufen: Wie könnte die Hamburger SPD es wieder schaffen, | |
| zumindest mal über die 30-Prozent-Marke zu blinzeln, von größeren Zielen | |
| ganz zu schweigen? | |
| Wir müssen zunächst unsere parteiinternen Probleme aufarbeiten. Dazu zählt | |
| der Stimmzettelklau 2007. Das war eine kriminelle Tat, die tiefe Wunden | |
| geschlagen und der ganzen Partei ein schlimmes Glaubwürdigkeitsproblem | |
| beschert hat. Das ist noch nicht überwunden. Auch die Auseinandersetzungen | |
| um die Art und Weise, wie hier in Eimsbüttel Danial Ilkhanipour zu seiner | |
| Kandidatur gekommen ist, haben der SPD weit über Hamburg hinaus geschadet. | |
| Wir müssen darüber nachdenken, wie wir miteinander umgegangen sind. Die | |
| Methoden, mit denen einige hier Mehrheiten organisieren, schrecken die | |
| Menschen ab. Alle, die die SPD mit Solidarität in Verbindung bringen, | |
| mussten sich abgestoßen fühlen. | |
| Es war zeitweise schlicht unappetitlich. | |
| So kann man es auch ausdrücken. Und das alles müssen wir glaubhaft | |
| aufarbeiten, damit wir wieder erhobenen Hauptes vor die Menschen treten | |
| können. Aber angesichts der Probleme in Hamburg können wir jetzt auch nicht | |
| jahrelang in Gruppentherapie gehen. Die Krise um die Nordbank oder die | |
| wachsende soziale Kluft zeigten: Die Stadt bracht eine starke SPD. Ich | |
| glaube, Olaf Scholz ist genau der Richtige, um diesen Prozess zu steuern. | |
| Er hat die Akzeptanz und das Standing in der Partei. | |
| Darfs vielleicht auch noch eine programmatische Erneuerung sein? | |
| Wir müssen auch an einigen Stellen inhaltliche Punkte klären, keine Frage. | |
| Vor allem in der Schulpolitik, was nicht einfach sein wird. Wir müssen | |
| unsere Hausaufgaben machen und weiterhin gute Oppositionsarbeit machen. | |
| Dann werden wir auch wieder die Chance bekommen, in Hamburg zu regieren. | |
| Das wird knapp. In gut zwei Jahren, im Februar 2012, ist schon wieder | |
| Bürgerschaftswahl. | |
| Das ist ein volles Programm, keine Frage. Aber es gibt dazu keine | |
| Alternative. Wir müssen das machen. | |
| Um sich im Frühjahr 2011, etwa ein Dreivierteljahr vor der Wahl, mit | |
| glänzendem Programm und einem glänzenden Spitzenkandidaten als wieder | |
| wählbar zu präsentieren? | |
| Ihr Spott in allen Ehren: Ja. Die Botschaft der WählerInnen an uns ist | |
| angekommen. Wir haben sie verstanden, jetzt müssen wir das aufarbeiten und | |
| umsetzen. Ich habe keine Angst vor dem ambitionierten Zeitplan, sondern vor | |
| einer resignativen Haltung des "Es wird schon irgendwie werden". Das wird | |
| es nämlich nicht. | |
| Sind diese Aussagen ein Warmlaufen für die Hamburger Spitzenkandidatur | |
| 2012? | |
| Um Himmels Willen, nein. Darüber mache mir ganz ehrlich keine Gedanken. Ich | |
| bin gerade aus dem Bundestag geflogen, das ist kaum eine Empfehlung für | |
| höhere Ämter, oder? Und Personaldebatten werden wir in der SPD ganz gewiss | |
| als Letztes führen. | |
| Wie geht es dann persönlich und politisch weiter mit Niels Annen? Wollen | |
| Sie vielleicht Ihr Studium doch noch abschließen? | |
| Ja, so eine Niederlage ist ja auch immer eine Chance. Ich mache im Moment | |
| in der Tat mein Studium der Geschichte zu Ende an der Humboldt-Universität | |
| in Berlin. | |
| Welchen Abschluss? | |
| Bachelor. | |
| Ein Bachelor mit 36 Jahren und 24 Semestern ist kein Ruhmesblatt. | |
| Ich bin stolz auf das, was ich erreicht habe. Ich war drei Jahre | |
| Bundesvorsitzender der Jusos, ich bin seit Jahren im SPD-Bundesvorstand und | |
| habe vier Jahre als direkt gewählter Abgeordneter meinen Wahlkreis in | |
| Berlin vertreten … | |
| Mitte 30, ohne Studienabschluss, noch nie richtig gearbeitet - das könnte | |
| man auch als gescheiterte Existenz bezeichnen. | |
| Jüngere Politiker kriegen oft den Spruch "Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal" | |
| zu hören - das muss man auch bei einer 70-Stunden-Woche ertragen können. | |
| Lebenswege sind nun mal unterschiedlich. Ich stehe zu meinem. Jetzt freue | |
| ich mich darauf, mein Studium zu beenden. | |
| Viel Erfolg. | |
| Kein Grund zur Häme. Ich gehöre zu der auch in der SPD immer seltener | |
| werdenden Spezies der Arbeiterkinder. Meine Eltern haben | |
| Volksschulabschlüsse, mein Vater war Elektriker. Ich konnte als Erster in | |
| der Familie das Abitur machen und auf die Universität gehen. Ich betrachte | |
| es als Privileg, Mitglied des Bundestages gewesen zu sein. Und vielleicht | |
| komme ich ja einmal wieder, so alt bin ich ja noch nicht. | |
| Und bis dahin? Bekommen Sie einen Job in der Partei oder beantragen sie | |
| Hartz IV? | |
| Im Frühjahr nächsten Jahres gehe ich als Senior Fellow des German Marshall | |
| Funds - eine amerikanische Stiftung, die sich um transatlantische | |
| Beziehungen bemüht - für ein halbes Jahr nach Washington und werde dort | |
| weiter zu Fragen der Außenpolitik arbeiten. Zuvor kandidiere ich Mitte | |
| November auf dem Bundesparteitag in Dresden wieder für den Bundesvorstand | |
| und werde, wenn die Delegierten mich wählen, weiter ehrenamtlich Politik in | |
| der SPD machen. | |
| Muss man zum Politikmachen eigentlich geboren sein oder kann man das | |
| lernen? Ist ja kein Ausbildungsberuf. | |
| Das ist wie mit dem Fußball-Nationaltrainer - viele Leute glauben, das | |
| könnten sie auch oder besser. | |
| In erster Linie glauben viele, dass man als Politiker vor allem im | |
| Hinterzimmer kungeln können muss. | |
| Dann bin ich offenbar ungeeignet. Sonst wäre ich ja wohl noch im Bundestag. | |
| 1 Nov 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| Sven-Michael Veit | |
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