| # taz.de -- „Deutschland braucht neue Erzählungen des Holocausts“, sagt Vi… | |
| > Die deutsche Gesellschaft muss die Erinnerungsformen an die NS-Geschichte | |
| > für die Kinder der Migranten öffnen | |
| taz: Frau Georgi, Sie haben das Bild des Holocausts bei Kindern von | |
| Migranten untersucht. Spielt der Holocaust für das Selbstverständnis etwa | |
| türkischstämmiger Jugendlicher eine Rolle? | |
| Viola B. Georgi: Ja, durchaus. Sehr plastisch hat dies ein türkischer | |
| Jugendlicher beschrieben, der freiwillig an einer Fahrt zu einer | |
| KZ-Gedenkstätte in Tschechien teilgenommen hat. Dort, sagt er, hat er sich | |
| zum ersten Mal wirklich als Deutscher gefühlt. | |
| Warum? | |
| Weil die tschechische Bevölkerung zwischen ihm und den deutschen Schülern | |
| keinen Unterschied gemacht hat. Er hatte das Gefühl, im Ausland als | |
| Repräsentant der deutschen Gesellschaft und der deutschen Schuld adressiert | |
| zu werden. | |
| Ist das eine typische Erfahrung von Migrantenkindern? | |
| Ja, doch. Es gibt viele Jugendliche mit Migrationshintergrund, die an | |
| solchen Schulfahrten zu Gedenkstätten teilnehmen. Man könnte vermuten, dass | |
| sie sagen: „Das ist nicht mein Problem, mein Groß- und Urgroßvater hatte | |
| damit ja nichts zu tun.“ Aber genau das passiert eher nicht. Denn offenbar | |
| ist der Holocaust für die Frage ihrer eigenen Zugehörigkeit zur deutschen | |
| Gesellschaft zentral. Sie wollen als Mitglied dieser Gesellschaft | |
| akzeptiert werden, deshalb machen sie sich auch deren Geschichte zu Eigen. | |
| Also gibt es zwischen deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen in dieser | |
| Frage keinen wesentlichen Unterschied? | |
| Doch natürlich. Den vorherrschenden Erinnerungstypus bei Migrantenkindern | |
| kann man postnational oder postethnisch nennen – und ich habe Zweifel, ob | |
| dies bei deutschen Jugendlichen auch so ist. Diese postnationale Erinnerung | |
| hat keine national-kulturellen Bezüge. Kurzum: Für viele Migrantenkinder | |
| ist es unwichtig, dass die Täter deutsch und die Opfer jüdisch waren. Der | |
| Referenzpunkt ist die Menschheit. Die Täter waren Menschen, die den Opfern | |
| unermessliches Leid angetan haben – und deshalb interessiert es sie als | |
| Mensch, was damals geschah. | |
| Das passt zu der globalen Tendenz, den Holocaust als Parameter anderer | |
| Genozide zu verstehen – und als universelles Symbol für politische | |
| Verbrechen. Sind die Migrantenjugendlichen also eine Art | |
| Erinnerungs-Avantgarde? | |
| Ja, das kann man so sehen. Die Begriffe dafür hat der israelische Philosoph | |
| Avishai Margalit entwickelt: Margalit unterscheidet die ethnisch gekoppelte | |
| Erinnerung einer exklusiven Schicksalsgemeinschaft von der, wie er es | |
| nennt, „moralischen Erinnerungsgemeinschaft“. Die Migrantenkinder | |
| repräsentieren eher diesen zweiten moralisch-universellen Erinnerungstypus. | |
| Viele vergleichen den Holocaust dabei mit aktuellen | |
| Menschenrechtsverletzungen. Der Kontext ist für sie nicht die nationale | |
| Vergangenheit, sondern die internationale Gegenwart. | |
| Das klingt erfreulich. Aber steckt darin nicht die Gefahr, dass der | |
| Holocaust zu einer unverbindlichen Chiffre, zu pädagogischem | |
| Anschauungsmaterial wird? Und damit in die Ferne rückt – wie der Erste | |
| Weltkrieg oder die Conquista? | |
| Ja, diese Gefahren – Relativierung und auch die Trivialisierung – gibt es. | |
| Wenn man den Holocaust vergleicht, droht dessen Einzigartigkeit in | |
| Vergessenheit zu geraten. Das stimmt. Man kann Jugendlichen diese | |
| Vergleiche aber nicht verbieten. Man sollte es auch nicht – denn es sind ja | |
| vor allem Versuche, eine Brücke von der Vergangenheit zu ihrer eigenen | |
| Gegenwart zu schlagen. Im Übrigen kann man die Singularität des Holocausts | |
| nur auf dem Wege des Vergleichs herausfinden. Dass die aktuellen Bezüge, | |
| der Zeitabstand und der Generationswechsel zu einer Historisierung führen, | |
| halte ich für unaufhaltsam. | |
| Wie sollte sich die deutsche Erinnerungskultur verändern, um Migranten mehr | |
| Zugänge zu ermöglichen? | |
| Wir brauchen neue Ideen etwa für die Gedenkstätten, wie sie den Blick von | |
| Migranten aufnehmen können. Das Bewusstsein, dass hier etwas fehlt, | |
| existiert, allerdings gibt es noch keine schlüssigen Konzepte. Wichtig | |
| scheint mir, dass die Biografien der Migranten, etwa Geschichten von | |
| Verfolgung und Asyl, einen Platz im deutschen Erinnerungsdiskurs finden. | |
| Warum? | |
| Weil sich daran zeigt, ob diese Migranten hierzulande anerkannt sind – oder | |
| eben nicht. Das ist übrigens auch ein Grund, warum viele | |
| Migrantenjugendliche ihre Leidensgeschichten bzw. die ihrer Eltern oder | |
| nationalen Kultur auf der Folie des Holocausts erzählen. Je näher sie ihre | |
| Erzählungen an Auschwitz rücken, desto eher hört man ihnen zu. Wir brauchen | |
| also einen Dialog, in dem die kollektiven Leidensgeschichten von | |
| Minderheiten anerkannt werden. | |
| Es ist derzeit viel von antijüdischen Ressentiments bei muslimischen | |
| Jugendlichen die Rede, etwa in Frankreich. Glauben Sie, dass die | |
| Beschäftigung mit dem Holocaust als Immunisierung vor Antisemitismus wirkt? | |
| Nicht per se. Die Idee, dass es reicht, Jugendliche durch Gedenkstätten zu | |
| schleusen, hat schon bei rechtsextremen Jugendlichen nicht funktioniert. | |
| Wichtig ist eine zeitgemäße Geschichtsverarbeitung, die sich interkulturell | |
| versteht und aktuelle Bezüge nicht scheut. Der Holocaust wird so auch zu | |
| einem Lernfeld der Menchenrechtsbildung. An ihm wird sichtbar, wohin die | |
| Missachtung von Menschenrechten führen kann. | |
| INTERVIEW: STEFAN REINECKE | |
| 13 Feb 2004 | |
| ## AUTOREN | |
| STEFAN REINECKE | |
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