| # taz.de -- Der letzte Transit – nach Wessi-Land getrampt | |
| > ■ Am Kontrollpunkt Dreilinden stehen nicht nur Autos, sondern auch | |
| > Anhalter Schlange: mit prima Aussichten auf einen Lift nach | |
| > Westdeutschland. Nur die DDR-Grenzer machen einige Probleme | |
| Das Herz schlägt links – auf der Deutschlandkarte folglich mitten im | |
| Ruhrgebiet, dort, wo die Feundin wohnt. Doch das ist für einen nicht gerade | |
| begüterten Studenten im Westberlin der zu Ende gehenden 80er-Jahre kein | |
| Problem. Am Grenzübergang Dreilinden befindet sich schließlich der beste | |
| Tramper-Bahnhof des ganzen Landes. | |
| Wer sich hier an einem gewöhnlichen Freitagmittag unter die 50 bis 100 | |
| Anhalter einreiht und sein Pappschild mit dem Reisezeil unmittelbar am Rand | |
| der letzten Meter Westautobahn in den Wind hält, wartet nicht lange auf den | |
| passenden Lift. | |
| Nur dieses Mal dauert es ein wenig länger. Denn ich habe mich entschieden, | |
| die freitägliche Vorlesung in Kommunikationstheorie ausfallen zu lassen und | |
| schon am Donnerstagnachmittag gen Westen zu ziehen. Erst nach etwa einer | |
| halben Stunde lädt mich der Fahrer eines Miet-Lkw auf den Beifahrersitz. | |
| Die Ladefläche ist randvoll mit Möbeln. „Ich mache den Umzug für einen | |
| Freund, der hat die Schnauze voll vom eingemauerten Berlin“, erklärt der | |
| etwa 30-jährige Fahrer, als wir uns am Kontrollpunkt Drewitz, schon auf dem | |
| Boden der DDR, in eine der zahlreichen und schier endlosen Schlangen | |
| einreihen. | |
| Eine halbe Stunde später, etwa die Hälfte der Strecke ist im Schritttempo | |
| zurückgelegt, raunzt uns ein DDR-Grenzer an. Das sei ja wohl ein | |
| Lieferfahrzeug, meint er nicht ganz zu Unrecht. Wir aber stünden in der | |
| Schlange für Pkw. Gegen diese Beamtenmentalität ist kein Kraut gewachsen. | |
| Wir kratzen die Kurve, um uns erneut ans Ende einer Schlange zu stellen – | |
| diesmal die für Gütertransporte. | |
| Nach langer Wartezeit droht unser Transitbegehren endgültig an der Mauer zu | |
| scheitern. Der Amateurtransporter hat natürlich keinen Begleitschein für | |
| die Güter auf der Ladefläche. Ohne diese dürften wir nur bei der | |
| Abfertigung für Pkw passieren, erklärt uns der nächste Grenzer – ohne die | |
| Möbel, versteht sich. Erst nach langer Diskussion drückt uns der | |
| Transit-Kontrolleur die Passierstempel in die Pässe und winkt uns mit | |
| abfälliger Geste durch. „Hier wird sich nie was ändern“, stöhnt mein | |
| Fahrer. | |
| Kaum zwei Stunden später, nach gemütlichem Tempo-100-Gezuckel und einem | |
| Zwischenstopp am Intershop bei Magdeburg, wo wir uns mit Zigaretten und | |
| Toblerone eingedeckt haben, erreichen wir Marienborn, oder Helmstedt, wie | |
| der Westler zu sagen pflegt. Erneut quälen wir uns durch die Warteschlange. | |
| Immerhin legt der Grenzer hier keinen Wert auf irgendwelche Güterpapiere. | |
| Während er sich mit einem kritischen Vergleich unserer Passbilder mit den | |
| real müden Gesichtern beschäftigt, läuft im Radio eine Eilmeldung. | |
| „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – | |
| Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die | |
| Genehmigungen werden kurzfristig erteilt“, nuschelt DDR-Politbüromitglied | |
| Günter Schabowski über den Sender. | |
| „Kurzfristig“, zischelt mein Fahrer, ohne eine Mine zu verziehen, den Blick | |
| auf den immer noch unsere Gesichter begutachtenden Beamten gerichtet. „Wenn | |
| ich richtig informiert bin“, ergänzt Schabowski im Radio, „nach meiner | |
| Meinung ist das sofort, unverzüglich.“ Der Beamte reicht uns die Pässe, die | |
| Ampel schaltet auf Grün, wir dürfen durch, wir sind wieder im Westen. Der | |
| graue Osten liegt hinter uns, wir ersetzen das Radioprogramm durch Musik | |
| vom Band. | |
| „Was machst du denn hier?“, begrüßen mich Stunden später entsetzt meine | |
| Eltern. „Die Mauer“, ruft meine Mutter. „Berlin“, stammelt mein Vater, … | |
| mit den Armen in Richtung Fernseher herumfuchtelt. Ich lasse mich ins Sofa | |
| fallen und verbringe das Wochende vor dem Bildschirm. | |
| Am Sonntag ist alles anders. Die Mauer ist offen. Vor Helmstedt steht ein | |
| 40 Kilometer langer Stau aus Trabis. Auf den Brücken über der Autobahn | |
| hängen winkende Westler. Die grimmigen Grenzer sind nicht wiederzuerkennen | |
| und winken jeden in Sektlaune durch. | |
| Berlin wirkt zu Mitternacht gespenstisch leer. Nur Tonnen von Altglas und | |
| sonstigem Partymüll überall auf den Straßen zeugen davon, dass hier | |
| irgendjemand gefeiert haben muss. Gereon Asmuth | |
| 6 Nov 1999 | |
| ## AUTOREN | |
| Gereon Asmuth | |
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