# taz.de -- Der längste Alptraum des FBI | |
Über knapp zwei Jahrzehnte hielt der „Unabomber“ mit seinen Brief- und | |
Paketbombenattentaten die US-amerikanische Bundespolizei auf Trab. Der Mann | |
tötete drei Menschen und verletzte 23 Personen zum Teil schwer. Das war | |
sein fanatischer Kampf gegen das „industriell-technische System“. Am | |
kommenden Mittwoch beginnt im kalifornischen Sacramento der Prozeß gegen | |
Ted Kaczynski Von Andrea Böhm | |
Eigentlich hört Evelyn Vanderlaan mit ihren 78 Jahren bei den | |
Fernsehnachrichten nicht mehr richtig zu. Aber als am 3. April 1996 gleich | |
in der ersten Meldung der Name Ted Kaczynski auftauchte, wußte sie sofort, | |
um wen es ging. Das konnte nur Teddy sein, der ältere Sohn von Theodore und | |
Wanda, ihren ehemaligen Nachbarn. Und sie dachte an David, den jüngeren | |
hochbegabten Sohn der Familie, der immer im Schatten von Teddy stand, dem | |
verschrobenen, menschenscheuen Wunderkind, das im Schulorchester Posaune | |
spielte und mit 16 Jahren an der Harvard University zum Mathematikstudium | |
zugelassen wurde. Die ganze Nachbarschaft in Evergreen Park, einem | |
Arbeitervorort von Chicago, war stolz auf ihn gewesen. Jetzt kam er im | |
Fernsehen. „Hat er doch noch den Nobelpreis gewonnen“, dachte Evelyn | |
Vanderlaan. | |
Der alten Dame blieb an diesem Abend verborgen, daß Teddy Kaczynski mit | |
einer ganz anderen, höchst grausamen und bizarren Leistung in die | |
Schlagzeilen gekommen war: Er steht unter dem angesichts der Beweislage | |
erdrückenden Verdacht, über einen Zeitraum von 18 Jahren in einem | |
selbsterklärten Krieg gegen die Industriegesellschaft drei Menschen durch | |
Paketbomben getötet und 23 weitere zum Teil schwer verletzt zu haben. So | |
lange wie kein anderer narrte er das FBI, das über fast zwei Jahrzehnte | |
nicht mehr zustande gebracht hatte als ein Phantombild und einen Spitznamen | |
für den Gesuchten. „Unabomber“ wurde er genannt, weil sich seine Anschläge | |
häufig gegen Vertreter von Universitäten und Fluggesellschaften (Airlines) | |
richteten. Und es gelang ihm, nicht nur in die Kriminal-, sondern auch in | |
die Mediengeschichte einzugehen, als er die New York Times und die | |
Washington Post im September 1995 dazu brachte, auf acht Seiten ein | |
„Manifest“ abzudrucken, in dem er die Revolution gegen das | |
„industriell-technologische System“ propagierte. Sollte das Pamphlet nicht | |
veröffentlicht werden, so seine Drohung, werde er „weitere Anschläge mit | |
tödlichem Ausgang“ verüben. Den Nobelpreis – so viel war klar – hatte | |
Teddy, der Wunderknabe aus Evergreen Park, nie gewollt. Wissenschaftler mit | |
und ohne Nobelpreis-Ambitionen in die Luft zu sprengen war eines seiner | |
erklärten Ziele. | |
An diesem Mittwoch im April 1996 war Ted Kaczynski in seiner primitiven | |
Blockhütte in den Rocky Mountains durch ein Großaufgebot von | |
Scharfschützen, Bombenexperten und FBI-Ermittlern verhaftet worden. In der | |
Hütte fanden die Polizisten eine fertige Bombe, Chemikalien für den Bau | |
weiterer Sprengsätze, eine Liste von Firmenchefs in den USA, zahlreiche | |
Werke von Shakespeare und Thackeray, eine Schreibmaschine sowie ein | |
Tagebuch mit chiffrierten Eintragungen. Den Einwohnern des benachbarten | |
Städtchens Lincoln war an dem Sonderling, der seit 25 Jahren in dieser | |
Behausung ohne Wasser, Strom und Kanalisation lebte, nichts Verdächtiges | |
aufgefallen. Er war immer mit einem roten Fahrrad unterwegs, arbeitete nie, | |
lebte von selbstgezogenem Gemüse und der Karnickeljagd, lieh sich in der | |
Bibliothek philosophische Bücher auf deutsch und spanisch aus, roch | |
schlecht und redete wenig. It's a free country, denkt man sich nicht nur in | |
Lincoln, Montana, und wer so leben will, der soll so leben können. Niemand | |
hätte sich im Traum vorstellen können, daß der Mann mit den verfilzten | |
Haaren, der sich auf der Dorfstraße gelegentlich nach dem Datum erkundigte, | |
in seiner Blockhütte akribisch Erfolg oder Mißerfolg seiner Aktionen in | |
seinem Tagebuch niederschrieb: „11.12. 1985: Habe Bombe als Holzabfall | |
getarnt und hinter Computergeschäft plaziert. Besitzer in Stücke gerissen.“ | |
Dies war sein elfter Anschlag, und der kalifornische Geschäftsinhaber Hugh | |
Scratton (38) sein erstes Todesopfer. | |
In Erwartung seines Prozesses, der am 12. November in Sacramento, | |
Kalifornien, beginnt, hat sich der 54jährige Kaczynski in allen Punkten der | |
Anklage für nicht schuldig erklärt, jede ärztliche Untersuchung seines | |
Geisteszustandes abgelehnt und vor dem Obersten Gerichtshof der USA seine | |
Freilassung gefordert, weil der Medienrummel um seine Person einer | |
Vorverurteilung gleichkäme. Die obersten Richter wiesen den Antrag | |
erwartungsgemäß zurück. Das amerikanische Geschworenensystem ist, wie man | |
nicht erst seit dem Mordprozeß gegen den Ex-Footballstar O.J. Simpson weiß, | |
für einige Überraschungen gut. Doch im Fall Kaczynski ist die Beweislast so | |
groß, daß etwas anderes als ein Schuldspruch kaum vorstellbar ist. Das | |
Tagebuch kommt einem Geständnis gleich, die gefundenen Chemikalien passen | |
ebenso in die Beweiskette wie die Aussagen von Motelbesitzern in | |
Kalifornien und Utah, die Kaczynski just zu jenem Zeitpunkt beherbergten, | |
als von diesen Orten Paketbomben losgeschickt wurden. Das Motiv ist klar: | |
Haß auf den technischen Fortschritt und seine Repräsentanten, auf | |
Naturwissenschaftler, Computerexperten, Vertreter der Holzindustrie oder | |
wen immer er für die Zerstörung der Natur verantwortlich machte. „Wenn Sie | |
nur einen Funken Verstand hätten“, schrieb der Unabomber an den | |
Computerwissenschaftler David Gelernter, „dann wüßten Sie, daß es viele | |
Menschen tief verbittert, wie die Technikfreaks die Welt verändern.“ | |
Gelernter hatte kurz zuvor, am 24.Juni 1993, eine Paketbombe erhalten. Er | |
verlor die Sehkraft auf einem Auge und drei Finger. | |
Es bleibt die Frage, die wohl auch das Gericht nicht wird beantworten | |
können: Was treibt einen hochbegabten Wissenschaftler, der mit 25 Jahren | |
promoviert und eine Assistenzprofessur an einer der renommiertesten | |
mathematischen Fakultäten, in Berkeley, angetreten hat, dazu, in die | |
Wildnis zu ziehen und Paketbomben zu verschicken? | |
Keine traumatisierenden Erfahrungen, konstatieren achselzuckend die | |
Kriminologen und Psychologen, die seine Kindheit und Jugend durchforscht | |
haben. Wanda und Theodore Senior waren fürsorgliche, sozial engagierte | |
Eltern, die ihren Söhnen abends aus Wissenschaftsmagazinen vorlasen und sie | |
übers Wochenende auf lange Wanderungen in die Natur mitnahmen. Daß der | |
Ältere sowohl an der Schule als auch an der Universität unfähig zu sozialen | |
Kontakten war, werteten sie offensichtlich als Begleiterscheinung eines | |
Genies, nicht als Problem. Selbst sein Entschluß, von der Karriere als | |
Mathematikprofessor auf die harsche Existenz als Eremit umzusteigen, fand | |
in der Familie eher Be- als Verwunderung. Auch sein Bruder David hatte sich | |
in den 80er Jahren in ein einsames Haus in Texas zurückgezogen, bevor er | |
1990 an die Ostküste zog, heiratete und eine Stelle als Sozialarbeiter in | |
einer Unterkunft für obdachlose Jugendliche übernahm. „Ich beneide Ted um | |
die Reinheit seines Lebens“, erklärte David vor Jahren einem Nachbarn. | |
Darin steckt viel amerikanische Sehnsucht nach Unberührtheit, Natur und | |
Spiritualität und eine tiefe Abneigung gegen ein ebenso amerikanisches | |
Urvertrauen in den heilbringenden technischen Fortschritt. Der | |
amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau hatte dies Mitte des | |
letzten Jahrhunderts in seinem Klassiker „Walden“ niedergeschrieben – | |
gepaart allerdings mit einem Bekenntnis zum zivilen Ungehorsam, nicht zur | |
Gewalt. Transzendentalisten nennt man die Vertreter dieser Denkrichtung. | |
Auch ihre Bücher fand das FBI in Kaczynskis Hütte in Montana. Nicht wenige, | |
die das Manifest des Unabombers in der Zeitung oder wenig später im | |
Internet gelesen hatten, fühlten sich an Thoreau erinnert. Nur manchen | |
wurde die Parodoxie bewußt, daß die lebhafteste Diskussion des Manifestes | |
im Internet stattfand – jenem Medium, das Kaczynski am liebsten wieder aus | |
der Welt gebombt hätte. | |
So reich der Fall des Unabombers an Metaphern für die amerikanische | |
Gesellschaft sein mag – am Ende ist sie vor allem die Geschichte zweier | |
Brüder. Wie Hunderttausende seiner Landsleute las auch David Kaczynski im | |
September 1995 das Manifest des Unabombers in der Zeitung. Er stutzte, las | |
es wieder und wieder, kramte zu Hause Teds Briefe hervor, verglich. Ganze | |
Passagen waren identisch. David Kaczynski sprach mit seiner Frau, ob das | |
Unmögliche möglich sein könnte, las wieder. Über einen ehemaligen FBI- | |
Mitarbeiter und Bekannten stellte er Kontakte zu Gutachtern her, die Briefe | |
und Manifest verglichen. Mit größter Wahrscheinlichkeit, so ihr Schluß, | |
stammten sie aus der Feder derselben Person. | |
Nach drei Monaten qualvollen Überlegens teilte David Kaczynski dem FBI | |
seinen Verdacht und den Aufenthaltsort seines Bruders mit. Die Ermittler | |
reagierten zuerst verdutzt, hatten doch ihre Psychologen das Täterprofil | |
eines „belesenen, naturliebenden Mittvierzigers mit höflichen Umgangsformen | |
und gutem Job“ gezeichnet. Schließlich bezogen sie ein Motel in Lincoln und | |
beobachteten den Einsiedler wochenlang. Am 3. April 1996, während | |
Hubschrauber über der Hütte schwirrten, standen sie schließlich vor seiner | |
Tür: „Hallo Ted, wir müssen mal mit Ihnen reden.“ Zu Hause in Schenectady, | |
New York, vergrub sich der Bruder und ließ durch seinen Anwalt ausrichten, | |
er wolle keinen Cent von der Million Dollar, die als Belohnung für die | |
Ergreifung des Unabombers ausgesetzt worden war. | |
David Kaczynski hat seitdem nur einmal mit der Presse gesprochen – und zwar | |
mit der Washington Post, die einst das Manifest seines Bruders | |
veröffentlicht hatte. Das Interview wurde zu einem verzweifelten Appell an | |
die Justiz, seinem Bruder die Todesstrafe zu ersparen. „Mein Anliegen war | |
es, Leben zu retten. Wenn dieser Staat darauf wie eine kalte Maschinerie | |
reagiert, dann habe ich mich in diesem System furchtbar getäuscht. Was soll | |
ein Familienmitglied in einer ähnlichen Situation denken, wenn mein Handeln | |
die Exekution meines Bruders nach sich zieht...“ | |
Die Staatsanwaltschaft kündigte wenig später an, im Prozeß gegen Ted | |
Kaczynski die Todesstrafe zu beantragen. | |
8 Nov 1997 | |
## AUTOREN | |
Andrea Böhm | |
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