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# taz.de -- Der Westen und der Volksaufstand
> ZEITGESCHICHTE Am 17. Juni 1953 kam es in der DDR zur offenen Rebellion
> gegen die SED-Führung. Ob Adenauer, Dutschke oder Biermann, die
> Ereignisse wurden oft recht bizarr interpretiert
VON ILKO-SASCHA KOWALCZUK
Sebastian Haffner schrieb am 21. Juni 1953 im britischen Observer unter dem
Eindruck der Ereignisse vom 17. Juni 1953: „Ein totalitäres Regime, fast
vier Jahre lang im vollen Besitz aller Mittel, die eine moderne Diktatur
braucht, war binnen nicht einmal zwölf Stunden zu vollkommener
Machtlosigkeit verdammt und gezwungen, hinter Panzern einer fremden Armee
Schutz zu suchen. Und so weit ist es nicht etwa durch eine innere Spaltung
oder eine bewaffnete Verschwörung in seiner Mitte gekommen, sondern durch
einen spontanen Volksaufstand im klassisch revolutionären Stil von 1789
oder 1848. Es geschah genau das, von dem wir behauptet hatten, es sei unter
den Bedingungen der modernen totalitären Gewaltherrschaft nicht möglich.“
Dieser emphatische Kommentar war keineswegs singulär. International war man
sich einig, dass der Aufstand einer schweren Niederlage der Sowjets
gleichkomme. Über die ostdeutschen Statthalter sprach man gar nicht. In der
Bundesrepublik wie den USA gingen nicht wenige davon aus, dass der
Volksaufstand vom mächtigsten ostdeutschen Kommunisten, Walter Ulbricht,
angezettelt worden sei, damit dieser sein ramponiertes Image und seine seit
dem Tod Stalins im März 1953 fragile Machtposition durch ein energisches
Eingreifen aufpolieren und zementieren könne. Diese These war am 17. Juni
1953 etwa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, im Tagesspiegel oder
später im Spiegel so oder ähnlich zu vernehmen. Der wichtigste Wirrkopf in
jenen Tagen hieß Konrad Adenauer aus Köln-Bonn, der dieser Interpretation
zunächst auch anhing. Ebenso der Gehlen-Dienst, der spätere
Bundesnachrichtendienst. Ähnlich wie das Bundesamt für Verfassungsschutz am
19. Juni 1953 hielten „Analytiker“ des Gehlen-Dienstes am 20. Juni fest:
„Der bisherige Gesamteindruck über die Vorgänge in Ost-Berlin und in der
Zone verstärkt die Auffassung, dass es sich um von östlicher Seite
inszenierte Aktionen mit dem Ziel handelt, die Wiedervereinigung im
großdeutschen Rahmen zugunsten anderer wichtiger außen- und
innerpolitischer Absichten ins Rollen zu bringen.“
## Der Publizist Arnulf Baring
Dies wurde jedoch schnell revidiert. Nur wenige Wochen nach den Ereignissen
wurde der 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Zehn Jahre später kam
die Proklamation zum nationalen Gedenktag hinzu.
In der Bundesrepublik sind die Ereignisse mehrfach umgedeutet worden. Alle
politischen Richtungen und Lager versuchten die Ereignisse zu
instrumentalisieren, und sei es, wie oftmals in den 1980er Jahren, durch
Beschweigen. Die wichtigste Umdeutung aber erfolgte bereits Ende der 1950er
Jahre, als aus dem Volksaufstand ein „bloßer“ Arbeiteraufstand wurde, als
zunehmend die Ereignisse lokal auf Ost-Berlin beschränkt wurden und den
Aufständischen ihre Forderung nach einer Einheit Deutschlands im Nachhinein
abgesprochen wurde. Der wichtigste Publizist, der diese neue Interpretation
vornahm, war der damalige Sozialdemokrat Arnulf Baring. Sein erstes Buch
endete 1957 noch hoffnungsvoll mit einem Zitat Maos, wonach nur die
Arbeiterklasse zur Revolution berufen sei.
1965 kam eine überarbeitete Neuausgabe heraus. Die Mauer stand bereits vier
Jahre. Die DDR war von einem Provisorium zu einer Dauereinrichtung
geworden. Baring schrieb nun, die sich anbahnende neue Deutschlandpolitik
flankierend: „Die Zeiten deuten auf Wandlungen, nicht auf Umwälzungen, auf
Evolution und nicht auf Revolutionen.“ Das war so ähnlich bereits 1964 in
Theo Sommers Zeit zu lesen.
Erst nach der Revolution 1989 und der Öffnung der ostdeutschen Archive
konnte eine wissenschaftliche Aufarbeitung in Angriff genommen werden.
Tatsächlich sind in den Jahren von 1991 bis 2003 zahllose Abhandlungen
erschienen, die letztlich belegen, was unmittelbar nach 1953 bereits
Allgemeinwissen war: Der Aufstand war flächendeckend, es beteiligten sich
alle sozialen Gruppen, die Ziele waren auf Freiheit und Einheit gerichtet.
Das Eingreifen der sowjetischen Truppen verhinderte die Abdankung der
ostdeutschen Kommunisten. Die sowjetischen Polizeieinsätze waren ziemlich
maßvoll, wie Winston Churchill richtig einschätzte. Doch der Aufstand hatte
nie eine Chance, da die Sowjets ihren wichtigsten geopolitischen Vorposten
in Europa nicht aufzugeben bereit waren – anders als 1989.
Die deutsche Geschichte hat nicht sonderlich viele großformatige Beiträge
zur europäischen Freiheits- und Demokratiegeschichte geleistet: 1848, 1918,
1989 und eben 1953. Die meisten haben es – 1953! – nur noch nicht gemerkt.
Dazu trug in den 1970/80er Jahren auch die undogmatische Linke bei. Wolf
Biermann sagte in seinem berühmten Kölner Konzert im November 1976: „Er war
schon ein demokratischer Arbeiteraufstand und noch eine halbe faschistische
Erhebung.“ Damit hatte er bei vielen in Ost wie West eine Interpretation
festgezurrt, die bis über den Mauerfall hielt.
Besonders stark war aber seit Ende der 1960er Jahre eine tendenzielle
Gleichsetzung östlicher und westlicher Systeme. Daniel Cohn-Bendit sah das
Erstarken der Arbeiterbewegung und den „Widerstand der Bevölkerung gegen
die verschärfte Ausbeutung, die eine totale Kriegswirtschaft mit sich
bringt“, symbolisiert im „Aufstand der Ostberliner Arbeiter“ und im
„Generalstreik vom August“ 1953 in Frankreich.
## Dutschkes Leistung
Wie sein Freund Dany war der einst aus der DDR geflüchtete Rudi Dutschke
ebenfalls kein Freund der SED. Aber die „Lunte“ für den Aufstand, so
glaubte er, sei im Westen gelegt worden: „Es besteht heute kein
historischer Zweifel mehr darüber, dass die westlichen und östlichen
Geheimdienste in den Tagen des proletarischen Aufstands eine wesentliche
Rolle zu spielen versuchten.“ Warum es „keinen Zweifel“ mehr geben könne,
dazu sagte er nichts.
Dutschkes Arbeit ist insofern interessant, weil er den realen Kommunismus
als Despotie entlarvte und weil er einer linken, auf
sozialistisch/kommunistischen Positionen fußenden Wiedervereinigungspolitik
das Wort redete. Das war alles andere als selbstverständlich. „Dutschkes
Klassenkampf-Interpretation“, resümierte Ilse Spittmann 1984, „machte den
Aufstand für die bundesdeutsche Linke diskutabel.“ Was – ganz ironiefrei
gesprochen – tatsächlich eine Leistung darstellte. Die Stellung zur Nation
erwies sich als das Hauptproblem im analytischen Umgang mit dem „17. Juni“.
Im linken Spektrum herrschte keine Einigkeit in der Interpretation. Der
Historiker Peter Brandt schrieb 1981 in einer Positionsbestimmung, „Die
Linke und die nationale Frage“: „Die Niederschlagung des in Westdeutschland
in seinen Hintergründen und Triebkräften weithin unverstandenen Aufstands
vom 17. Juni 1953 festigte die Position des bürgerlichen Blocks und
ermöglichte Adenauer die Fortsetzung seines Westintegrationskurses.“ Was
„unverstanden“ blieb, benannte er nicht. Gleichwohl besaß bei ihm der
Aufstand, was in linker Perspektive nicht üblich war, wie bei Dutschke eine
nationale Dimension, die der Freund von Robert Havemann nicht denunzierte.
Andere, wie die Trotzkisten Ernst Mandel und Benno Sarel, versuchten mit
hohem klassentheoretischen Aufwand, den Aufstand kurzerhand in eine
„sozialistische Revolution“ umzudeuten. Der frühere DKP-Bundesvorstand
Peter Schütt räumte dazu 1991 ein, „dass in den siebziger Jahren auch unter
linken und liberalen Zeithistorikern im Westen“ die Auffassung verbreitet
gewesen sei, „der 17. Juni sei im Kern ein reaktionärer, vom Westen
gesteuerter Umsturzversuch ohne Massenunterstützung gewesen“.
Insofern gab es zwei „linke“ Deutungslinien des „17. Juni“. Die eine
betonte einen „reaktionären“ Charakter, die andere hob auf seine
sozialistischen Potenziale ab. Dabei ging es weniger um die DDR als um den
Kampf gegen die „bürgerliche Demokratie“ in der Bundesrepublik. Die DDR war
ein Vehikel in den innenpolitischen Auseinandersetzungen – der „17. Juni
1953“ ein Ereignis, das fast alle bis 1989 instrumentalisierten und seiner
historischen Inhalte entkleidet hatten.
■ Ilko-Sascha Kowalczuk ist Historiker und veröffentlichte dieses Jahr im
Verlag C. H. Beck die Bücher „Stasi konkret“ und „17. Juni 1953“
15 Jun 2013
## AUTOREN
ILKO-SASCHA KOWALCZUK
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