# taz.de -- Der Subjekt-Objekt-Spalter | |
> Science ohne Fiction ist mit ihm nicht zu haben: Stanislaw Lem, der | |
> Autor, der in „Solaris“ einen intelligenten Ozean mit dem Menschen | |
> experimentieren ließ, wird heute achtzig Jahre alt | |
von DIETMAR BARTZ | |
Der Sinn des Geschehens bleibt uns verborgen. Eine solche Aussage fand im | |
sozialistischen Polen oft Zustimmung, aber verständlicherweise nur im | |
privaten Gespräch. Darüber Bücher zu veröffentlichen, hat Stanislaw Lem in | |
50 Jahren Arbeit eine Menge Gegner verschafft. Zum Beispiel die Kirche, | |
deren letzte Weisheiten er mit ebensolcher Hingabe in Frage stellte wie die | |
des Zentralkomitees. | |
Dabei hatte die Partei anfangs wenig Anlass zum Ärgern. Im | |
Nachkriegskommunismus zeigte Lem, der 1951 mit „Die Astronauten“ seinen | |
ersten fantastischen Roman veröffentlichte, noch den zeitgemäß ernsthaften | |
Glauben an den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt. Subtiler | |
werden die Bücher, die nach der Entstalinisierung im „polnischen Oktober“ | |
1956 erschienen, während zugleich die Rote Armee den ungarischen | |
Volksaufstand niederschlug. Lems durchaus parteinahe Botschaft in den | |
Romanen „Eden“ (1959), „Solaris“ (1961) und „Der Unbesiegbare“ (196… | |
lautet: Widerstand ist zwecklos, Gehen besser als Bleiben. | |
Aber Lems Skepsis gegenüber den Totalitätsansprüchen der politischen | |
Philosophie wächst. Sie sehe auch in dem einen Sinn, was außerhalb des | |
Menschen existiert, kritisiert er – als ob Natur und Kosmos zur Erfüllung | |
einer Mission da wären, die von den Menschen selbst definiert worden sei. | |
In „Solaris“ hat Lem diesen Gegensatz zwischen dem Öffentlichen und dem | |
Privaten in poetischem Pessimismus beschrieben – er lässt ein ahumanes, | |
zerstörerisches Außen auftreten, das keinen Respekt vor dem verletztlichen | |
menschlichen Innen zeigt. Der Wissenschaftler Kelvin besucht eine | |
Forschungsstation am Rand eines zähflüssigen Ozeans. Seine Kollegen und | |
schnell auch er selbst werden von Figuren überrascht – Kindern, Frauen, | |
Gegenständen, die aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins stammen und ihnen | |
allesamt voreinander und vor sich selbst entsetzlich peinlich sind. Kelvin | |
merkt, dass das intelligente ozeanische Plasma mit ihnen experimentiert. | |
Arglos, aber präzise materialisiert der Ozean ihre psychische Substanz und | |
beginnt die Menschen damit zu zerstören. Kelvin steht für das vor der | |
Diskreditierung flüchtende Individuum. Den Ozean setzt Lem für die Welt, | |
für das Äußere, Objektive, für Gott und Partei, sogar – im marxistischen | |
Sinn – für die Arbeit als Grundlage der Gesellschaftlichkeit des Menschen. | |
Viel Feind, wenig Freund; zur Kommunikation mit dem Ozean kommt es nicht, | |
Verständigung zwischem dem Besonderen und dem Allgemeinen ist – wie so oft | |
bei Lem – nicht möglich. „Als Kollektiv wagen wir uns an Taten von | |
historischem Ausmaß heran, aber diese Taten bleiben gleichsam außerhalb von | |
uns“, kommentierte der polnische Literaturwissenschaftler Jerzy Jarzebski. | |
Die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt nimmt zu – ein fundamentaler | |
philosophischer Dissens zum vulgärmarxistischen Theorem, im sozialistischen | |
Menschen sei dieser Gegensatz aufgehoben. | |
Im Grunde genommen deckt sich die Frage, wieso Lem im sozialistischen Polen | |
solche Bücher veröffentlichen konnte, mit seiner Suche danach, was | |
Menschlichkeit eigentlich ist. Schon seit den Fünfzigern schreibt Lem immer | |
wieder neue lebensgefährlichen Abenteuer von Springinsfelden und charmanten | |
Chaoten, etwa von Ijon Tichy, dem Autor der „Sterntagebücher“, oder dem | |
Piloten Pirx. | |
Diese Charaktere verlieren nach und nach ihre Lustigkeit; anfangs jung und | |
lustig, werden sie allmählich ernst und schwer. Sie ventilieren die Grenzen | |
der Naturwissenschaft, den Verfall der Sprache, die Blockade von | |
Information. Pirx oder Professor Tarantoga stellen Fragen, die zu | |
beantworten für die polnischen Parteitheoretiker entweder zu komplex oder | |
zu brisant waren – ohnehin waren sie bei der unglaublichen Produktivität | |
Lems nicht schnell genug. Oder sie stellten sich die Fragen heimlich | |
selbst. | |
Tichy, Pirx und Konsorten lösen ihre Probleme nicht nach Plan, sondern | |
intuitiv, zufällig, träumerisch. Mit der Ablehnung von Denkschablonen und | |
Spezialistentum überwindet Lem zugleich seinen Rationalismus, von hier ist | |
es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Entdeckung des Humanen: „So | |
verstanden ist die Menschlichkeit also die Summe all unserer Defekte, | |
Mängel, eben unserer Unvollkommenheit?“, fragt Lem in der Pirx-Geschichte | |
„Die Verhandlung“. | |
Am Anpassungsfähigsten sind die Flexiblen, die Imperfekten – die passende | |
Aussage von 1965 zur bioethischen Debatte von 2001 um Genmanipulation und | |
menschliche Auslese zur Perfektion des Nachwuchses. Akzeptiert die Grenzen | |
der Technik und der Biologie, so spricht es heute aus all den düsteren | |
Großromanen und heiteren Erzählungen. Akzeptiert die Unterschiedlichkeit | |
der Menschen, schlussfolgert daraus die Biophilosophie des Liberalismus – | |
und begräbt, ängstlich wie sie ist, gleich alle Utopie. | |
Doch die Science zu behalten und die Fiction zu verabschieden – das ist | |
auch mit einem 80-jährigen Lem nicht zu machen. Tatsächlich hat er das | |
Warnen nie aufgegeben – bis zum letztjährigen, bisher unübersetzten | |
Gesprächsband „Welt am Abgrund“. Aber ausdrücklich verweist Lem auf den | |
fantastischen Gehalt seiner Spekulationen. Und noch ist nicht ausgemacht, | |
wie absolut ernst es ihm damit ist, sich im Spannungsfeld zwischen Subjekt | |
und Objekt, seinem geliebten erkenntnistheoretischen Dauerproblem, erst auf | |
der einen, dann auf der andere Seite des Abendlandes wiederzufinden. | |
12 Sep 2001 | |
## AUTOREN | |
DIETMAR BARTZ | |
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