# taz.de -- Der Pflichttag | |
> Die westdeutsche Geschichte des 17. Juni ist vor allem die Geschichte | |
> seiner Abschaffung | |
von RALPH BOLLMANN | |
Zu seinem fünfzigsten Jubiläum ist der 17. Juni 1953 populärer denn je: | |
TV-Serien auf allen Kanälen, Feierstunden überall im Lande, am vorigen | |
Samstag sogar ein sechsseitiges taz-Dossier. Zu den Zeiten der alten | |
Bundesrepublik, als der Tag noch arbeitsfrei war, hätte es das nicht | |
gegeben. Zumindest im linksliberalen Milieu galt das Datum als höchst | |
suspekt. Fast vier Jahrzehnte lang versuchten westdeutsche Politiker und | |
Intellektuelle vergeblich, sich des ungeliebten Feiertags wieder zu | |
entledigen. Die Geschichte des „Tags der Deutschen Einheit“ ist vor allem | |
die Geschichte zahlreicher Versuche, ihn wieder abzuschaffen. | |
Schon Konrad Adenauer war nicht wirklich glücklich über den neuen Feiertag, | |
den ihm die Sozialdemokraten eingebrockt hatten. Allenfalls zu einem bloßen | |
„Gedenktag“ für die Opfer des Volksaufstands in der „asiatischen Steppe�… | |
wie der CDU-Kanzler die Gebiete jenseits der Elbe gern titulierte, wollte | |
sich Adenauer 1953 bereit finden. Doch der SPD-Abgeordnete Herbert Wehner, | |
damals Vorsitzender des Ausschusses für Gesamtdeutsche Fragen, drängte auf | |
einen „deutschen Nationalfeiertag“. Sein Parteifreund Willy Brandt warf dem | |
Kanzler in der Bundestagsdebatte über die Feiertagsfrage sogar Verrat am | |
Ziel der Wiedervereinigung vor. Nur der SPD, so Brandt, liege „die | |
gesamtdeutsche Haut näher als irgendein kleineuropäisches Hemd“. Die Union | |
musste einlenken und sich auf den Kompromiss einlassen, den 17. Juni fortan | |
als „Tag der Deutschen Einheit“ zu feiern. | |
Mit demonstrativer Distanz verfolgte der erste Kanzler in den Folgejahren | |
das Brimborium, das nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch die eigenen | |
CDU-Parteifreunde und mehr noch die nationalliberale FDP anlässlich des | |
neuen Feiertags veranstalteten. Dabei hatte das Datum durchaus Charme. | |
Schließlich konnten die Westdeutschen an diesem Tag die deutsche Teilung | |
wortreich beklagen, ohne über deren Ursachen reden zu müssen, sprich: über | |
die eigenen Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus. Obendrein bot | |
der Termin aber auch die Chance, sich vom Ziel der Wiedervereinigung | |
allmählich zu verabschieden und stattdessen das Freiheitsstreben der | |
Ostdeutschen in den Mittelpunkt der Ansprachen zu rücken. | |
Im Zeichen der beginnenden Entspannungspolitik verständigte sich die Große | |
Koalition 1967 dennoch auf die Abschaffung des 17. Juni. Bei der Beratung | |
im zuständigen Bundestagsausschuss tauchte das Problem auf, ob der Bund den | |
Feiertag überhaupt mit bindender Wirkung für die Länder abschaffen könne. | |
Als diese Frage endlich durch ein ausführliches Gutachten des zuständigen | |
Ministeriums geklärt war, legten sich die Gewerkschaften quer. Eine | |
ersatzlose Streichung des arbeitsfreien Tages, so hieß es schon damals, | |
greife in unzulässiger Weise in „soziale Besitzstände“ ein. | |
Parteien und Interessengruppen stritten noch immer, als die rechtsradikale | |
NPD bei der baden-württembergischen Landtagswahl im April 1968 alarmierende | |
9,8 Prozent der Stimmen bekam. Die schwarz-rote Regierung füchtete nun, die | |
politische Rechte könnte von einer Streichung des nationalen Feiertags | |
profitieren. Zur Abstimmung im Bundestag kam es nicht mehr. | |
Schon wenige Jahre später unternahmen Politiker der sozialliberalen | |
Koalition einen neuen Anlauf. Am 17. Juni 1973 jährte sich der Aufstand zum | |
20. Mal, und am 23. Mai 1974 wurde das Grundgesetz 25 Jahre alt. Anlass | |
genug, so fanden führende Sozialdemokraten und Liberale, den ungeliebten | |
Tag der Einheit endlich durch einen Verfassungstag zu ersetzen. Damit | |
konnte man nicht nur den Nationalkonservativen ein Schnippchen schlagen, | |
sondern auch der linken Kritik an der Bonner Demokratie ein starkes Symbol | |
entgegensetzen. | |
Widerstand der Gewerkschaften drohte diesmal nicht, schließlich würde der | |
Feiertag weder ersatzlos abgeschafft noch in die kalte Jahreszeit verlegt. | |
In Meinungsumfragen sprach sich erstmals eine Mehrheit der Bevölkerung | |
gegen den 17. Juni aus. Liberale Blätter wie die Süddeutsche Zeitung | |
priesen den künftigen Tag des Grundgesetzes schon im Voraus als „fröhlichen | |
Feiertag des ganzen Gemeinwesens“. | |
Das Vorhaben scheiterte am hartnäckigen Widerstand der Union, die in der | |
ungewohnten Rolle der Oppositionspartei um die Schärfung ihres | |
konservativen Profils bemüht war. Ein Teil der CDU-Ministerpräsidenten | |
blieb demonstrativ dem Staatsakt fern, den die frisch installierte | |
Schmidt-Regierung am 23. Mai 1974 veranstaltete. Mit einer Boykottdrohung | |
verhinderte die Opposition dreieinhalb Wochen später das Vorhaben, am 17. | |
Juni eine ganz normale Arbeitssitzung des Parlaments durchzuführen. | |
Damit war der Versuch endgültig gescheitert, von Regierungsseite die | |
bundesrepublikanische Feiertagskultur zu reformieren. Es waren | |
Schriftsteller, die 1979 einen neuerlichen Anlauf unternahmen. Beide | |
deutschen Staaten sollten in ungewohnter Eintracht den 18. März 1848 zum | |
gemeinsamen Feiertag erheben, verlangten 269 Unterzeichner eines Aufrufs in | |
der Frankfurter Rundschau. Nicht nur der 17. Juni sollte also verschwinden, | |
sondern nach Möglichkeit auch der DDR-Nationalfeiertag am 7. Oktober. | |
Die westdeutsche PEN-Chefin Ingeborg Drewitz wandte sich mit dem Ansinnen | |
an ihren Ost-Kollegen Henryk Keisch. Der linientreue Autor bat beim ZK der | |
SED um Entscheidungshilfe und erfuhr, es gebe „keinen Grund für ein | |
Zusammenwirken“. Also beschied er die Kollegin: „Wir haben ja keine so | |
fragwürdigen Feiertage wie den 17. Juni, an dessen Stelle ein neuer gesetzt | |
werden könnte. Ein neuer Feiertag hätte außerdem ökonomische Folgen, über | |
die wir uns nicht einfach hinwegsetzen können.“ | |
Nach dem Regierungswechsel 1982 führte der neue Kanzler Helmut Kohl die | |
jährlichen Feierstunden zum 17. Juni wieder ein. Die erwünschte Wirkung | |
blieb allerdings aus. Stattdessen herrschte, wie der Historiker Edgar | |
Wolfrum formuliert, eine „merkwürdige Sterilität des politischen | |
Abfeierns“. | |
Ende der Achtziger gingen Festredner wie Exbundespräsident Walter Scheel | |
oder der Historiker Fritz Stern auf das Ziel der Wiedervereinigung, dem der | |
Feiertag doch eigentlich dienen sollte, gar nicht mehr ausdrücklich ein. | |
Meinungsforscher fanden heraus, dass nur noch eine Minderheit überhaupt | |
wusste, warum man bei schönstem Sommerwetter an den Baggersee fahren | |
durfte. Spötter meinten, Zweck dieses Tages sei nicht mehr die „Einheit in | |
Freiheit“, sondern die „Einheit in Freizeit“. | |
Selbst konservative Geister wie der Publizist Friedrich Karl Fromme fanden | |
sich damit ab, dass der 17. Juni „ein dem Bürger zur je individuellen | |
Ausgestaltung zustehender Feiertag“ sei. Es reiche aus, so Fromme, wenn mit | |
dem Vergnügen ein „noch so flüchtiges Gedenken“ an den Anlass verbunden | |
bleibe. | |
Ausgerechnet Helmut Kohl, dem das Datum zuvor so am Herzen lag, strich den | |
17. Juni endgültig aus dem nationalen Festkalender. Ihm war es wichtiger, | |
mit dem 3. Oktober die eigenen Verdienste um die deutsche Einheit ins | |
Zentrum zu rücken. Was jahrzehntelange Debatten nicht vermocht hatten, | |
schaffte Kohl, indem er jede Debatte sorgfältig vermied: Im Alleingang | |
verfügte er die Abschaffung des 17. Juni. | |
Der Kanzler machte seinen einsamen Entschluss bei einem Treffen mit den | |
westdeutschen Ministerpräsidenten bekannt. Niemand widersprach, nur der | |
nordrhein-westfälische Regierungschef wagte einen kleinen Einwand, wie das | |
Protokoll vermerkt: „Auf Anregung von Ministerpäsident Rau kündigt der | |
Bundeskanzler an, er werde die Kirchen und Gewerkschaften zu seinem | |
Vorschlag konsultieren.“ | |
Bei der abschließenden Lesung des Einigungsvertrags am 20. September 1990 | |
waren es dann nur die Grünen, die sich im Bundestag gegen die neue | |
Feiertagsregelung wandten. Aber sie kritisierten lediglich die Einführung | |
des 3. Oktober, nicht die Abschaffung des 17. Juni. Dem „Tag der Deutschen | |
Einheit“, den Herbert Wehner 37 Jahre zuvor initiiert hatte, weinte kein | |
Abgeordneter eine Träne nach. | |
17 Jun 2003 | |
## AUTOREN | |
RALPH BOLLMANN | |
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