# taz.de -- Der Kandidat und das Gift | |
> Man sah es. Man ahnte es. Nun ist klar: Der ukrainische | |
> Präsidentschaftskandidat Juschtschenko ist Opfer eines Giftanschlags | |
AUS LWIW JURI DURKOT | |
Nun ist es offiziell: Die Ärzte der Wiener Privatklinik Rudolfinerhaus | |
erklärten am Samstag, dass der ukrainische Oppositionspolitiker und | |
Präsidentschaftskandidat Wiktor Juschtschenko vergiftet wurde. Ihm wurde | |
der Giftstoff Dioxin verabreicht, es bestünde ein „Verdacht auf | |
Fremdverschulden“, hieß es in einer Pressekonferenz in Wien. | |
Die Generalstaatsanwaltschaft in Kiew hat nun wegen dieser neuen Diagnose | |
die Ermittlungen wieder aufgenommen. Im ersten Anlauf war das Verfahren | |
eingestellt worden – die Ermittler konnten keine Vergiftung feststellen. | |
Offiziell wurde eine Herpesinfektion als Auslöser für die mysteriöse | |
Erkrankung des Oppositionspolitikers genannt. | |
Der Anfang der Geschichte liegt drei Monate zurück. Am 6. September – der | |
Wahlkampf war schon im vollen Gange – fühlte sich der | |
Präsidentschaftskandidat plötzlich schlecht. Am Vorabend hatte | |
Juschtschenko ausgerechnet mit der Spitze des ukrainischen | |
Sicherheitsdienstes zu Abend gegessen. Seine Ehefrau Katarina will bereits | |
in der Nacht einen ungewöhnlichen „metallisch-medizinischen“ Geschmack | |
festgestellt haben. Sie habe keine Zweifel gehabt, dass ihr Mann vergiftet | |
wurde, sagte sie im Interview einem US-amerikanischen Fernsehsender. | |
Schließlich habe Juschtschenko bereits vor seiner Erkrankung Drohungen | |
erhalten. | |
In den nächsten Tagen verschlechterte sich der Zustand des | |
Oppositionspolitikers weiter: Er musste ständig erbrechen und klagte über | |
starke Schmerzen im Unterleib. Die ukrainischen Ärzte waren ratlos, am 10. | |
September wurde Juschtschenko ins Wiener Rudolfinerhaus eingeliefert. Dort | |
wurde eine akute Entzündung der Bauchspeicheldrüse diagnostiziert mit | |
schweren Funktionsstörungen der Leber und anderer Organe. „Wäre er ein paar | |
Tage später zu uns gekommen, hätte er nur eine Überlebenschance von 20 | |
Prozent gehabt“, sagte später sein behandelnder Arzt, Mykola Korpan. | |
Als Juschtschenko nach einwöchiger Behandlung nach Kiew zurückkehrte und am | |
21. September im Parlament eine Rede hielt, war er von seiner Erkrankung | |
schwer gezeichnet: Sein Gesicht war halb gelähmt und von Pickeln, Pusteln | |
und Narben entstellt. Juschtschenko sprach von einem Giftanschlag. | |
Die Ärzte in Wien hatten dem Oppositionspolitiker wohl das Leben gerettet, | |
doch durch die Vergiftung war ihm im Wahlkampf wertvolle Zeit verloren | |
gegangen. Mehrere Wochen konnte er an der Wahlkampftour nicht teilnehmen | |
und musste sich sogar Anfang Oktober noch einmal in Wien wegen | |
Rückenschmerzen behandeln lassen. Ein großer Rückschlag für Juschtschenko | |
im Rennen um das Präsidentenamt, denn der direkte Dialog mit den Menschen | |
war für ihn die einzige Möglichkeit Wähler zu erreichen. Ansonsten hatte | |
die Opposition kaum Zugang zu den Medien. | |
Für die regierungstreuen Zeitungen und Fernsehsender war die Diskussion | |
über Juschtschenkos Erkrankung ein gefundenes Fressen: Der Kandidat wurde | |
als Lügner dargestellt. Auch russische Medien beteiligten sich an der | |
Verleumdungskampagne und spekulierten über eine Aids-Erkrankung des | |
Politikers. Der durch das Parlament einberufene Untersuchungsausschuss und | |
die ukrainische Staatsanwaltschaft konnten erwartungsgemäß keine Beweise | |
für einen Giftanschlag finden. | |
Noch immer ergehen sich Wahlkampfmanager und Meinungsforscher in | |
Vermutungen, ob Juschtschenkos entstelltes Gesicht ihn viele Wählerstimmen | |
gekostet habe. Bei vielen hat es eher Mitleid hervorgerufen, aber auch Wut | |
und Entschlossenheit. Auf einer Wahlkampfveranstaltung im westukrainischen | |
Lemberg, wo der Oppositionspolitiker auf dem Rückweg aus Wien nach Kiew | |
einen Zwischenstopp gemacht hatte, weinten die Menschen, als sie | |
Juschtschenko sahen. | |
Trotzdem holten im September das Regierungslager und sein Spitzenkandidat | |
Wiktor Janukowitsch in Umfragen stark auf – und dabei dürfte wohl | |
Juschtschenkos Gesundheitszustand eine Rolle gespielt haben. Aber auch die | |
populistischen Erhöhungen von Renten und Stipendien, die möglicherweise | |
durch das Anwerfen der Geldpresse finanziert wurden, brachten dem | |
Wunschkandidaten von Präsident Kutschma wichtige Punkte. | |
Nun scheint zumindest aus medizinischer Sicht den Spekulationen um | |
Juschtschenkos Krankheit ein Ende gesetzt. Freilich ist es keine Sensation | |
mehr – viele Menschen in der Ukraine haben schon lange an einen | |
Giftanschlag geglaubt. Daran, dass die Staatsanwaltschaft nun schnell und | |
unvoreingenommen ermitteln wird, gibt es jedoch berechtigte Zweifel. Zu oft | |
hat sich die Behörde in der Vergangenheit als parteiisch erwiesen, viele | |
Fälle blieben bisher unaufgeklärt – allen voran der Mord an dem | |
Journalisten Georgi Gongadse aus dem Jahr 2000. Bis heute sind weder Täter | |
noch Auftraggeber bekannt. | |
Besonders wenn die Hintermänner in den Etagen der Macht vermutet werden, | |
haben die Behörden bisher immer den Rückwärtsgang eingelegt. Nicht selten | |
hat sich die Staatsanwaltschaft aus offenbar politischen Gründen | |
eingemischt – die Opposition klagt über zahlreiche Verfahren gegen ihre | |
Anhänger. Aktuellstes Beispiel sind die Ermittlungen, die die | |
Staatsanwaltschaft nur wenige Stunden nach Beginn der Revolution in Orange | |
aufgenommen hatte. Die Anführer der Opposition wurden der „gewalttätigen | |
Einnahme“ der Universität Kiew beschuldigt. | |
Auch wenn kürzlich der umstrittene Generalstaatsanwalt Gennadi Wassiljew, | |
der wie Janukowitsch aus der Region Donezk stammt, nach den Massenprotesten | |
zurücktreten musste, bleiben Beobachter eher skeptisch. Faire Ermittlungen | |
sind heute in der Ukraine – zumindest bis zur Stichwahl am 26. Dezember – | |
kaum denkbar. | |
Doch auch das Krankenhaus in Wien hat bisher keine gute Figur gemacht und | |
oft für Verwirrung gesorgt. Immer wieder kam es zu widersprüchlichen | |
Erklärungen, die Spekulationen über starken Druck auf die Ärzte wollten | |
nicht abreißen. Warum etwa mussten drei Monate vergehen, um definitiv einen | |
Giftanschlag festzustellen? Britische Ärzte hatten bereits vor Wochen von | |
einer möglichen Dioxinvergiftung gesprochen. Noch vor einigen Tagen hat das | |
Rudolfinerhaus einen Bericht der Londoner Times dementiert. Der Journalist | |
hatte darin behauptet, Juschtschenko sei vorsätzlich vergiftet worden. | |
13 Dec 2004 | |
## AUTOREN | |
JURI DURKOT | |
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