# taz.de -- Der Gefangene seiner Haut | |
> ■ Start der Serie „The Singing Detective“ um 22.00 Uhr auf N3 | |
Deutsche Fernsehserien sind, mit einigen Ausnahmen, nach dem Prinzip | |
amerikanischer Seifenopern aufgebaut. Die Filmchen kommen mit wenigen, | |
immer wiederkehrenden Bildern aus. Mit einem bestimmten Bild, zum Beispiel | |
der „Schwarzwaldklinik“ in der Totalen, wird ein Schauplatz vorgestellt, | |
und der Zuschauer weiß sofort, das nächste Bild wird ein Krankenzimmer | |
zeigen. Diese sich ewig gleichenden Bilder und die Schauspieler, die immer | |
die gleichen Charaktere verkörpern, tragen zum Erfolg der Endlosserien bei. | |
Der Zuschauer fühlt sich zu Hause, in einer vertrauten Umgebung. Er braucht | |
sich keiner außergewöhnlichen Situation zu stellen, Mitdenken wird nicht | |
verlangt. Langweilig? Sicher ist das langweilig, aber das ist jeden Morgen | |
Kaffeekochen auch. Mehrere dieser Serien, auf verschiedenen Kanälen und | |
über eine Woche verteilt, sind wie der Speiseplan einer Jugendherberge: Das | |
ganze Zeug sättigt zwar, aber Genuß bereitet es nicht. | |
Experimente sind im seriellen TV-Schaffen äußerst selten. Erstens ist es | |
teuer, vom eingefahrenen Baukastenprinzip abzuweichen, und zweitens | |
bedeutet es ein erhebliches unternehmerisches Risiko. Selbst beim Einkauf | |
erfolgreicher ausländischer Fernsehproduktionen stellen sich die Deutschen | |
mehr als ängstlich an. Die sechsteilige britische Spielfilm-Serie The | |
Singing Detective wollte jahrelang hierzulande niemand haben. Und das, | |
obwohl die BBC-Produktion von 1986 weltweit Preise einheimste und Kritiker | |
und Publikum begeisterte. In England und den USA kam The Singing Detective | |
sogar nachträglich in die Kinos, nachdem der Filmkritiker der 'New York | |
Times' 1988 einen ganzseitigen Artikel mit der Frage, „Läuft der beste Film | |
des Jahres im Fernsehen?“ überschrieben hatte. Vincent Canby führte dann | |
den Nachweis, daß The Singing Detective den Vergleich mit den gelungensten | |
Kinofilmen nicht zu scheuen braucht, und daß die Serie unwiderlegbar | |
demonstriert, daß Schreiben fürs Fernsehen eine Kunstform hohen Ranges sein | |
kann. | |
Die ersten Bilder zeigen regennasse Londoner Straßen und eine dunkle | |
Gestalt, die die Treppe zum Nachtklub „Skinskapes“ hinuntersteigt: „Und so | |
stieg der Mann hinunter ins Loch, wie Alice“, erzählt eine Stimme aus dem | |
Off, „doch da waren keine Kaninchen, es war eine andere Art Loch — ein | |
Rattenloch!“ Die Musik setzt ein, und mit dem Song „I got you under my | |
Skin“ wechselt der Schauplatz. Wir befinden uns in einem Krankenhaus und | |
sehen den Erzähler in einem Rollstuhl. Es ist der Krimi-Schreiber Philip | |
Marlow (ohne e), und er sieht aus, als hätte man ihn gerade aus einer | |
Friteuse gezogen. In großen Fetzen löst sich die Haut von seinem Körper. | |
Marlow leidet an Arthritischer Schuppenflechte und damit unter | |
unerträglichen Schmerzen. Er droht durchzudrehen. Und er weiß es. | |
Erinnerungsfetzen vermischen sich mit der Realität, die Romanfiguren | |
drängen ins Krankenzimmer und die Patienten, Schwestern und Ärzte in seinen | |
Roman. Zunehmend nimmt Marlow Zuflucht zu seinem Alter ego, dem Helden | |
seiner Romane, dem „Singenden Detektiv“, der im London der vierziger Jahre | |
einen Mordfall löst und nebenbei im Laguna-Club alte Schlager trällert. | |
So ensteht im Kopf des Autors mit dem dermatologischen Problem ein völlig | |
neuer Kriminalfall mit zum Teil wechselnden Personen in der gleichen Rolle. | |
Die nackte Leiche, die aus der Themse gezogen wird, hat einmal das Gesicht | |
einer Hure, in einer anderen Folge das der Krankenschwester oder sie sieht | |
aus wie Marlows Mutter. Sex und Crime wechseln sich ab mit grotesken | |
Showeinlagen, und gespickt ist das Ganze mit diesem tiefschwarzen, bösen | |
britischem Humor. Mit Michael Gambon, Mitglied der Royal Shakespeare | |
Company, verfügt die Serie außerdem über einen erstklassigen | |
Hauptdarsteller. Für seine Darstellung des Patienten und singenden | |
Detektivs erhielt er den BAFTA- Award (den britischen Oscar) und wurde zum | |
besten Fernsehschauspieler des Jahres gewählt. Das Drehbuch schrieb der | |
Theater- und Fernsehautor Dennis Potter, der seine Geschichte mutig gegen | |
den Strom der Zeit anschwimmen läßt. Potter nennt diese neuartige | |
Sichtweise und Kombination von Vergangenheit und Gegenwart, von Realität | |
und Phantasie „Nicht-Naturalismus“. Die verschiedenen Ebenen des Films fügt | |
er zu einem Mosaik zusammen, das beides ist: psychologische Studie und | |
spannender Krimi. | |
Der NDR zeigt The Singing Detective im Orginal mit Untertiteln heute abend | |
und an den folgenden fünf Montagen. Endlich lohnt es sich mal wieder, den | |
alten Video-Recorder auf Aufnahme zu schalten, und wenn Dénes Törzs die | |
Ansage macht, wird diesem TV-Leckerbissen zweifellos auch noch ein | |
Sahnehäubchen aufgesetzt. Karl Wegmann | |
18 Mar 1991 | |
## AUTOREN | |
karl wegmann | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |