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# taz.de -- Der Aufstieg des Poetry Slam: Der Lehrer gehört zur Slamily
> Anfang der Neunziger erreichte Poetry Slam Deutschland. Inzwischen sind
> die Lese-Events im Mainstream angekommen - im Deutschunterricht und in
> Reclam-Heften.
Bild: Auch das gibt es jetzt schon: ein christlicher Poetry Slam in Osnabrück.
BERLIN taz | Sie spricht von Vaginalpilz. Er zitiert ein Sonett. Das
Publikum jubelt. Die Zuschauer sitzen in der Berliner Volksbühne auf dem
nackten Boden und lauschen. Im Scheinwerferlicht steht eine junge
Engländerin und schildert, welche Sprachbarrieren sich in einem Gespräch
mit einem Apotheker aufbauen, wenn sie ihren Vaginalpilz beschreiben muss.
Die Zuhörer lachen. Später trägt ein junger Berliner ein Sonett vor. Es ist
die Berliner Stadtmeisterschaft des Poetry Slams.
Beim Poetry Slam tragen Autoren auf der Bühne ihre Texte vor und lassen sie
vom Publikum bewerten. Der Bestbewertete gewinnt. Mancher Vortragende muss
aber auch Pfeifen oder dürftigen Höflichkeitsapplaus hinnehmen. Das Format
war jahrelang ein Geheimtipp. Inzwischen ist es im Mainstream angekommen.
Es erreicht nicht nur die avantgardistische Kulturszene der Großstädte,
sondern auch Kleinstädte in ganz Deutschland. Selbst Deutschlehrer nehmen
Poetry Slam in ihren Unterricht auf, um den Schülern Literatur nahe zu
bringen. Die belächelte Subkultur in Kellerkneipen entwickelt sich zur
Massenveranstaltung in ausverkauften Theatersälen. Dabei professionalisiert
sich die Slam-Szene mehr und mehr: einige Slammer werden in großen
Buchverlagen aufgenommen, das Fernsehen übeträgt Poetry Slams und die
jährlichen internationale deutschsprachige Meisterschaft versammelt drei
Tage lang die besten Slammer im deutschsprachigen Raum.
Rock 'n' Roll
Das Unkonventionelle macht das Format aus: Grölender Applaus aus dem
Publikum begleitet Literatur. Backstagebier begleitet Lyrik. Beim Poetry
Slam hat der Autor nur einen Zeitrahmen von fünf Minuten für seinen Text.
Die Texte auf der Berliner Stadtmeisterschaft können formal und inhaltlich
nicht unterschiedlicher sein. Der Zuschauer gibt seine Bewertung zu diesen
unterschiedlichen Texten ab und damit stehen die Slammer, also die Autoren,
im Wettbewerb gegeneinander. Aber für die meisten Poeten stehen der Spaß
und die Sprache im Vordergrund. Poetry Slam vereinigt ein bisschen den Rock
'n' Roll Lifestyle mit der empfindlichen Poetenseele.
Dieses Bühnenformat für Literatur ist alles andere als die einschläfernde
Literaturlesung, in der der Autor gemächlich seine Brille zurecht rückt und
einzig und allein mit seinem Wasserglas interagiert. Poetry Slam fordert
mehr: der Künstler schreit und flüstert seinen Text, wedelt mit den Armen
und verzerrt das Gesicht. Performance wird von ihm gefordert, und nicht
Lesung. Dabei kann auch mal das Mikrofon geschmissen werden, wenn es zum
Text passt.
Zwischenrufe erwünscht
Das Publikum ist auch gefordert, es soll nicht das Wasserglas
hypnotisieren, sondern sich an der Lesung beteiligen, sodass das Glas bebt:
Der Zuschauer soll laut lachen, wenn die Pointe vorbei rauscht, bedächtlich
schweigen, wenn die Probleme des Protagonisten ihn wie eine Welle erdrückt.
Zwischenrufe sind erwünscht und nicht zuletzt ist die Publikumsbewertung
ein wesentlicher Charakter des Poetry Slams.
Die Zuschauer sollen von Literatur mitgerissen werden, so stellte sich das
der Poetry Slam-Erfinder vor. Es war 1985 als Marc Kelly Smith, damals
Bauarbeiter, einen Zugang zu Literatur erschaffen wollte, der Spaß macht.
Er wollte den Elfenbeinturm der Literatur abreißen und Lyrik als etwas
entdecken, das mehr als schnöde Interpretation im Schulunterricht ist. So
lud Smith am 20. Juili 1985 zum ersten Poetry Slam in Chicago ein. Von dort
aus erreichte Poetry Slam die Ostküste und Bob Holman prägte die New Yorker
Slam-Szene. Es dauerte nicht lange und der Musiksender MTV zeigte
Poetry-Slam-Clips. Anfang der neunziger Jahre erreicht das Format
Deutschland.
Der Anfang mit einer Chipstüte
In einer Berliner Kneipe, dem Ex 'n' Pop, fing alles an: Bar, Bühne und
einige Amerikaner, die anfingen Texte auf der Bühne vorzulesen, erzählt
Wolf Hogekamp. Er begleitete als ehemaliger Besitzer der besagten Kneipe
die ersten Sprech- und Bühnenversuche des Poetry Slams. Heute ist er immer
noch Slam-Veranstalter in Berlin. „Es entstand damals plötzlich die Lust
Texte vorzulesen. Da wurden tatsächlich die Rückseite von Chipstüten
vorgelesen.“ Es war 1993 und erst der Anfang. „Das hat so Spaß gemacht,
dass wir uns regelmäßig zum Vorlesen getroffen haben und die ersten kamen
mit ihren eigenen Texten an. Relativ schnell war jemand da, der sagte: Hey,
das was ihr macht ist Poetry Slam!“ Rund ein Jahr später war der Poetry
Slam mit Jurybewertung in Deutschland geboren.
Inzwischen sind fast zwei Jahrzehnte vergangen und Poetry Slam ist eine
Erfolgsgeschichte. Die E-Nummern aus der Zutatenliste der Chipstüten sind
uninteressant geworden und Poetry Slam ist ein etabliertes Format in der
abendlichen Veranstaltungskultur. Nicht nur die großen Städte wie Berlin,
Hamburg und München versammeln die Zuschauer vor Slam-Bühnen, auch in
Kleinstädten wie Schwabach und Leer - irgendwo in den Landschaften Frankens
und Ostfrieslands - finden regelmäßig Poetry Slams statt. Studentenstädte
bieten das richtige Publikum, um Poetry Slams salonfähig zu machen.
Der Erfolg lässt sich auch in den ausverkauften Theatersälen finden: So ist
die Berliner Stadtmeisterschaft in der Berliner Volksbühne schon Tage
vorher ausverkauft. Ähnlich sieht es im Hamburger Schuspielhaus aus. Dort
finden regelmäßig sogenannte „Dead or Alive“-Slams statt. Das ist eine
Variation des ursprünglichen Poetry Slams, in der Slampoeten mit ihren
Texten gegen professionelle Theaterschauspieler mit klassischen
Theatertexten antreten.
Auftritt gegen tote Dichter
So kommt es, dass am 15. Januar unter anderem der Gewinner des German
International Poetry Slams (GIPS) Philipp „Scharri“ Scharrenberg aus
Stuttgart gegen den toten Robert Gernhardt in Hamburg antritt. Scharri hat
sich bei den jährlichen internationalen deutschsprachigen Meisterschaften
2008 gegen über rund 70 andere Slammer aus Deutschland, Österreich und der
Schweiz in der Einzeldisziplin durchgeschlagen. Seit 1997 finden diese
Meisterschaften statt: im Einzel, im Team und in der Jugendliga. Zuletzt
drei Tage lang in Düsseldorf mit insgesamt 9000 Zuschauern.
Die Präsenz des Poetry Slams in Kneipen machte auch die deutschen Medien
auf dieses Format aufmerksam. Der WDR strahlte 2007/08 gegen Mitternacht
einen eigenen Poetry Slam aus und wurde 2008 mit einer
Grimme-Preis-Nominierung dafür geehrt. Arte beachtete als Kulturkanal den
neuen Trend mit einem Webslam und das private Bezahlfensehen schickte 2008
die Moderatorin Sarah Kuttner auf „Slam Tour mit Kuttner“, bei der sie
Slams besuchte und mit den Machern sprach. Sowohl der WDR als auch Kuttner
hielten jeweils zwei Staffeln durch.
„The point is not the point“
Ob Chicago, München oder Leer - es gibt Slamweisheiten, die universell
gelten: Zum einen heißt es für die Zuschauer „respect the poets“, denn
egal, wie der Zuschauer den Text bewertet, gebührt dem Poet ein
ordentlicher Applaus, und zum anderen „the point is not the point“ für den
Slammer. Die Punkte oder der Applaus, mit dem der Zuschauer über den Text
abstimmt, soll nicht der springende Punkt beim Slam sein. „Natürlich kann
man Poesie nicht bewerten – das wäre ja anmaßend. Ich betrachte das als
Spiel, als Interaktion. Mit der Bewertung bindest du das Publikum näher an
die Texte. Wer aber glaubt, er sei ein besonders erfolgreicher Slammer,
weil er ausschließlich irgendwelche Local-Slams gewinnt, ist meines
Erachtens auf dem Holzweg“, erklärt Wolf Hogekamp, der sich als Slammer in
ganz Deutschland und als Veranstalter in Berlin etablieren könnte.
Für die meisten Slammer ist das Ganze mehr als fünf Minuten Bühnenpräsenz.
Es ist irgendwas zwischen einer Familie, so auch der Begriff Slamily für
die Gemeinschaft der Bühnendichter, und einem Rock 'n' Roll Lifestyle. Sie
touren durch das Land und nehmen Auftritte auf diversen Bühnen mit,
Backstagebier inklusive. So wird der Erfinder, Marc Kelly Smith aus den
USA, auch liebevoll „Slampapi“ genannt. Alles erinnert eher an ein
anfängliches künstlerisches Aufstreben, denn Geld gibt es von den
Veranstaltern selten, vielleicht Fahrtkostenerstattung, wenn der Slam
größer ist. Der Gewinn im materialistischem Sinne bleibt oft bei Büchern
oder einer Flasche Hochprozentigem.
Der arme Poet nach Spitzweg schläft zwar nicht unter einem löchrigen Dach
mit einem aufgespannten Regenschirm, aber die WG-Matratzen des
Slamveranstalters sind auch kein Luxusbett im Hilton. Spaß, der Idealismus
die eigenen Texte auf die Bühne zu bringen, und auch die Möglichkeit den
Sprung in den zu schaffen, treibt die Slammer an.
Poetry Slam in der etablierten Literatur
In Deutschland nehmen inzwischen auch große Buchverlage Autoren aus der
Slam-Szene auf. So verlegen der Carlsen Verlag und der Ullstein Verlag die
Bücher von namhaften Slammern wie Marc-Uwe Kling und Micha Sarim-Verollet.
Mit der Ehrung von Michael Lentz mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis in
Klagenfurt 2001 hat ein der Gewinner des Nationalen Poetry Slams 1998 gar
die etablierte Literaturszene erreicht. Heute lehrt er am Deutschen
Literaturinstitut Leipzig. Dass Poetry Slam sich langsam in der
Literaturkultur etabliert, zeigt auch Petra Anders. Sie ist Herausgeberin
des Reclamheftes „Poetry Slam“, das eine Anthologie von Slam-Texten ist,
die sich an Schüler im Unterricht richtet.
In der Nachwuchsförderung entwickelte sich in den letzten Jahren auch die
Kategorie U20, in der speziell die jungen Schriftsteller gefördert werden.
Seit 2005 gibt es einen eigenen U20 Wettbewerb auf dem GIPS.
Der weibliche Nachwuchs
„Man sieht an den jungen Leuten, wie selbstverständlich das angenommen wird
und wie konsequent sie ihr Ding durchziehen“, sagt Wolf Hogekamp, der seit
seit den Anfängen in Deutschland mit dabei ist. Als Beispiele nennt er
Julian Heun (20) aus Berlin, den U20-Meister 2007, Vizemeister in der
Erwachsenenliga 2008 und Sieger der Stadtmeisterschaft in Berlin. Ebenfalls
nennt er Theresa Hahl. Sie kennzeichnet einen großen Unterschied zwischen
der U20 und der Erwachsenenliga: Der Frauenanteil ist beim Nachwuchs viel
größer. Denn Frauen gehen eigentlich weniger auf die Slam-Bühnen gehen.
Wolf Hogekamp ewartet eine weitere Professionalisierung des Poetry Slams.
Dies ginge einher mit der Entwicklung weiterer Spielarten des mündlichen
Literaturvortrags auf: Beim schon genannte “Dead or Alive“-Slam treten
Slammer gegen Schiller und Co. auf, beim Box-Poetry Slam kommt es auf
gewaltige Schlagfertigkeit an, beim Sex-Poetry Slam hauchen die Slammer
Liebesgeschichten ins Mikrofon und Poetry Clips bieten verfilmte Slamtexte.
Aber auch Lesebühnen entstehen. Slammer etablieren sich und gehen auf
Lesetour. Oder sie werden als sogenannter „Featured Poet“, einem außer
Konkurrenz auftretenden Poeten, zu Slams eingeladen. Dies sei positiv zu
werten, denn es gibt den Künstlern mehr Raum für ihre Sprache.
11 Jan 2010
## AUTOREN
Yin Tsan
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