# taz.de -- Deniz Yücel: Seit 200 Tagen in Haft: Ich bin's, mach auf | |
> „Bei all dem Lärm draußen höre ich nur einem Klang zu: Das ist immer noch | |
> Deniz’ Lachen.“ Ein Brief von Dilek Mayatürk-Yücel an die Kritiker ihres | |
> Mannes. | |
Bild: „Ob man ihn mag oder nicht: Deniz ist ein Journalist.“ | |
Hast du ein bisschen Zeit? Dann will ich dir was erzählen. | |
Über meinen Mann, Deniz Yücel, wird so viel und so laut gestritten, dass | |
man leicht vergisst, worum es dabei eigentlich geht. Und beide Seiten in | |
diesem Streit scheinen einander immer weniger zu verstehen. | |
Darum will ich mich mit diesem Text an Menschen wenden, die es richtig | |
finden, dass Deniz im Gefängnis sitzt, die nicht verstehen können, dass die | |
türkische Regierung dafür so kritisiert wird. Wenn du zu diesen Menschen | |
gehörst, dann richtet sich dieser Text direkt an dich. Und wenn du nicht zu | |
ihnen gehörst, dann verstehst du vielleicht etwas besser, was ich denke und | |
fühle, wenn ich diesen Streit beobachte und warum ich mit diesem Text eine | |
andere Sprache finden möchte. | |
Es ist ein Schrei, mit dem ich die Mauer des Schweigens durchbrechen will. | |
Verschließ’ deine Ohren nicht. Hör mir zu. | |
Versprich mir zuerst, dass du dich von deinen Vorurteilen freimachst, von | |
allem, woran du unhinterfragt glaubst und dann einfach nur zuhörst. Fürchte | |
dich nicht vor mir, hasse mich nicht, sei nicht wütend auf mich, sondern | |
hör nur zu. Egal, ob du mich magst oder nicht, hör zu. Hör mich an. | |
## Leg deine Vorurteile ab, hör mir zu | |
Gern hätte ich diesen Text anonym veröffentlicht, wenn das irgendwie | |
möglich gewesen wäre. Damit du mich in deinem Kopf nicht gleich als die | |
Frau von Deniz Yücel abspeicherst. Denn ich wünschte, dass du beim Lesen | |
weder von der Vorannahme beeinflusst wird, dass seine arme Autorin | |
Unterstützung braucht, noch von vorgefasster Ablehnung. Ich würde gern | |
einen Text vorlegen, der von Deniz losgelöst und unabhängig von mir ist. | |
Ich habe diesen Text auf dem Weg zu einem Ort angefangen, zu dem ich jeden | |
Montagmorgen um 6.30 Uhr aufbreche und der sich gewaltsam in unser Leben | |
gedrängt hat: auf dem Weg zum Gefängnis. Ich wünschte, du würdest einmal | |
erfahren, wie es ist, als Besucher an diesen Ort zu kommen. Doch egal wer | |
du bist, selbst wenn dein Herz von widersinnigem Hass verhärtet ist, | |
niemals würde ich dir wünschen, dass jemand, den du liebst, unrechtmäßig | |
hier gefangen gehalten wird. | |
Nur um mich zu verstehen wäre es gut, wenn du einmal diese Erfahrung | |
gemacht hättest. Das ist alles. Denn dann würdest du verstehen, was das | |
Wort „unrechtmäßig“ bedeutet. Du würdest verstehen, was es heißt, deine | |
gesamte Energie für einen Kampf mit der Anstaltsleitung darüber zu | |
verwenden, ob du deinem Mann bunte Bettwäsche mitbringen darfst oder nicht | |
(einen Kampf, den du verlieren wirst). Du würdest verstehen, dass Justiz | |
keine willkürliche Angelegenheit sein darf, die jeden Menschen behandelt, | |
wie es ihr gerade passt. | |
## Ein Spind für unsichtbare Dinge | |
Weißt du was es heißt, deine Traurigkeit in einem Spind wegzuschließen? | |
Im Gefängnis gibt es Schließfächer für mitgeführte Gegenstände. Dort, wo | |
Besucher registriert werden und ihre Besucherausweise erhalten. Dort, wo | |
ich mich dem vorletzten Iris-Scan unterziehen muss, bevor ich zu Deniz | |
darf. Handys, Schlüssel und Ähnliches muss man sowieso schon am Eingang | |
abgeben. Die Schließfächer hier hinten sind für Kleingeld, Uhren und so | |
weiter. In dieses Fach lege ich immer eine Zigarette, die ich direkt nach | |
dem Besuch rauche. Das sind die sichtbaren Dinge. | |
Aber es gibt auch unsichtbare Dinge, die ich hier wegschließen muss, bevor | |
ich weitergehe. Meine Schlaflosigkeit, meine Müdigkeit, meine Krankheiten | |
wenn ich welche habe, und meine Beklemmungsgefühle schließe ich in diesem | |
kleinen Spind ein, bevor ich Deniz besuche. Damit ich vor ihm ausgeruht | |
wirke, selbst wenn ich die beiden Nächte zuvor nicht schlafen konnte. Dann | |
hinterlasse ich meinen Fingerabdruck auf der Trennscheibe, die zwischen | |
Deniz und mir steht und zwischen Deniz und der Freiheit, kehre nach Hause | |
zurück und schlafe. Seit Monaten vergeht jeder meiner Montage auf diese | |
Weise. Kannst du dich in meine Lage versetzen? | |
## Unschuldsvermutung | |
Ich möchte dir jemanden vorstellen. Ihr Name ist Unschuldsvermutung. Hör | |
mal, was sie sagt: | |
„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen | |
Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“ | |
Die Unschuldsvermutung wird in der türkischen Verfassung in den Artikeln 15 | |
und 38, in der Europäischen Menschenrechtskonvention in Artikel 6 und im | |
Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten | |
Nationen im Artikel 14 behandelt. Die Unschuldsvermutung wird aus dem | |
Prinzip der Rechtsstaatlichkeit abgeleitet und dient sowohl der Wahrung von | |
Würde und Ansehen der Person als auch der Gewährleistung eines fairen | |
Verfahrens. | |
## Die Freiheit der Gedanken | |
In der 1982 vom Militärregime erlassenen, bis heute gültigen Verfassung der | |
Türkei finden sich zwei Artikel zur Gedanken- und Meinungsfreiheit. Der | |
erste ist Artikel 25 der Verfassung: | |
„Jedermann genießt Meinungs- und Überzeugungsfreiheit. Niemand darf, aus | |
welchem Grund und zu welchem Zweck auch immer, zur Äußerung seiner | |
Meinungen und Überzeugungen gezwungen werden; er darf wegen seiner | |
Meinungen und Überzeugungen nicht gerügt oder einem Schuldvorwurf | |
ausgesetzt werden.“ | |
Damit wird die Freiheit, seine Gedanken zum Ausdruck zu bringen, verbrieft. | |
Der Artikel 26 regelt die Freiheit der Äußerung und Verbreitung der | |
Meinung: | |
„Jedermann hat das Recht, seine Meinungen und Überzeugungen in Wort, | |
Schrift, Bild oder auf anderem Wege, allein oder gemeinschaftlich zu äußern | |
und zu verbreiten. Diese Freiheit umfasst auch die Freiheit des Empfangs | |
oder der Verbreitung von Nachrichten und Ideen ohne Eingriff öffentlicher | |
Behörden.“ | |
## Isolation ist gegen das Wesen des Individuums | |
Recht, Rechtsstaatlichkeit, faires Verfahren, Justiz, Gerechtigkeit… Du | |
kennst diese Worte doch auch, oder? Es sind Werte, die nicht nur Deniz | |
heute braucht. Wir alle werden sie eines Tages brauchen. | |
Seit 200 Tagen sitzt Deniz in Untersuchungshaft. Er wird isoliert und ist | |
durchgehend alleine. Isolation ist eine Form unmenschlicher Behandlung, die | |
darauf angelegt ist, die körperliche und geistige Gesundheit eines Menschen | |
langfristig zu ruinieren. Ein System, das entwickelt wurde, um den Menschen | |
seiner eigenen Natur und der Außenwelt zu entfremden, bis er zerfällt. | |
Dieses System wurde gegen das Wesen des Individuums entwickelt, es nährt | |
sich von Beschränkungen und hinterlässt beim Menschen nichts anderes als | |
Zerstörung. | |
Ich interessiere mich nicht für deine politische Einstellung, deine | |
Herkunft, deine Fußballmannschaft oder dein Lieblingsessen. Mir geht es nur | |
darum, dass du ein Mensch bist. Deniz ist, unabhängig davon, ob er mein | |
Mann oder ein Journalist ist, zunächst einmal ein Mensch. Du und ich kommen | |
zusammen auf dieser Grundlage: dass wir Menschen sind. Isolation verstößt | |
gegen unser Menschsein. Das weißt du doch, oder? | |
## Wir sind alle gleich | |
Das Ganze wird nicht dadurch glamouröser oder spannender, dass es sich bei | |
einigen der Menschen, deren Namen wir immer wieder in diesem Zusammenhang | |
hören oder lesen, um Journalisten handelt. Dieser Umstand macht das | |
erfahrene Unrecht weder größer noch kleiner. In den Gefängnissen sitzen | |
Tausende von Menschen, die mit ihrer Stimme zu niemandem durchdringen. Sie | |
alle sitzen zu unrecht. | |
Zum Beispiel hast du sicher schon häufig von den Journalisten der | |
türkischen Zeitung Cumhuriyet gehört, die im Gefängnis sitzen, nicht wahr? | |
Vielleicht erinnerst du dich, dass sogar der Buchhalter der Cumhuriyet seit | |
Monaten in Einzelhaft sitzt. Wir müssen aufhören, die Gefangenen nach | |
Berufsgruppen zu klassifizieren. Wir alle sind Menschen, die vom Weltall | |
aus gesehen nicht einmal die Größe einer Ameise haben. Die Freiheit | |
bestimmter Menschen ist nicht wichtiger oder wertloser als die Freiheit | |
anderer Menschen. Wir sind alle gleich. | |
Deniz’ Inhaftierung wurde begründet mit Artikeln, die er geschrieben hat, | |
die aber laut Presserecht schon längst verjährt sind und nicht mehr als | |
Grundlage der Strafverfolgung dienen dürfen; einige dieser Artikel sind | |
zudem von der Anklagebehörde sinnentstellend übersetzt worden. Es geht um | |
nichts anderes als um seine journalistische Tätigkeit. Noch immer liegt | |
keine Anklageschrift vor und es hat noch keine Gerichtsverhandlung | |
stattgefunden. Doch längst schon ist Deniz zur Zielscheibe geworden und in | |
der Öffentlichkeit wurden wirklichkeitsfremde Anschuldigungen erhoben, die | |
das Produkt einer regen Phantasie sind. | |
## Deniz schreibt kantig, hat aber ein reines Herz | |
Ich möchte deine Erinnerung auffrischen: Deniz ist am 14. Februar aus | |
freien Stücken zur Polizei gegangen, um eine Aussage zu den gegen ihn | |
erhobenen Vorwürfe zu machen. Er schreibt gern polemisch, er schreibt gern | |
kantig, und manchmal auch ein bisschen arrogant. Ja. Doch egal, ob man ihn | |
mag oder nicht: Deniz ist ein Journalist. Er trägt ein riesiges, reines | |
Herz in seiner Brust, eines von der Sorte, die vom Aussterben bedroht ist. | |
Hör mich an! | |
Draußen gibt es Gedränge, draußen ist Lärm. Dabei bräuchte man all das | |
Geschrei gar nicht. Deniz ist hier, er haut nirgendwohin ab, und nachdem er | |
freiwillig eine Aussage machen wollte, fordert er nun nichts weiter als ein | |
faires Verfahren. Das könnte ohne Umstände stattfinden, ohne dass er in | |
Haft sitzt. | |
Manche fragen: Was ist an diesem Deniz so wichtig? Warum stehen so viele | |
Einzelpersonen und Institutionen hinter diesem Deniz, warum hat sich in | |
Deutschland diese riesige Öffentlichkeit gebildet? Ich sehe, dass manche | |
Menschen das irgendwie nicht verstehen. Dabei ist die Antwort ganz simpel: | |
Deniz ist der Türkeikorrespondent einer angesehenen deutschen Tageszeitung. | |
Und er liebt seinen Beruf wie verrückt. | |
## Beide Staaten tragen Verantwortung für ihre Bürger | |
In Ländern, in denen Recht und Demokratie herrschen, verstehen sogar | |
Kinder, dass man Menschen nicht einfach verhaften darf, nur weil sie | |
journalistisch tätig sind. Deshalb sind die Reaktionen in Deutschland | |
schlicht als Versuch vieler Bürger und ihrer Regierung zu erklären, sich | |
für einen Journalisten einzusetzen, der die deutsche Staatsbürgerschaft | |
trägt. Nichts mehr als das. | |
Deniz besitzt sowohl einen deutschen als auch einen türkischen Pass. Und | |
beide Staaten tragen Verantwortung für ihre Bürger. Deutschland muss die | |
unrechtmäßige Freiheitsberaubung eines seiner Staatsbürger so aufmerksam es | |
geht beobachten. Die Türkei muss Sorge tragen, dass geltendes Recht | |
umgehend angewandt und eine endgültige Anklageschrift vorgelegt wird, und | |
dass keine Willkür sondern menschenwürdige Haftbedingungen herrschen, | |
solange die Untersuchungshaft angeordnet bleibt. | |
Politische Spielchen oder Dickköpfigkeit, das Referendum in der Türkei oder | |
der Wahlkampf in Deutschland dürfen nicht mit dem Ringen um das Leben und | |
die Freiheit eines Menschen vermengt werden, denn dadurch wird ein Brand | |
geschürt, aus dem für alle involvierten Parteien nur Schutt und Asche | |
zurückbleiben, so glaube ich. | |
## Die außergewöhnlichste Blume in meinem Garten | |
Ich bin’s, mach auf. Ich bin’s, ich wollte dir noch einmal sagen: Es ist | |
jetzt 200 Tage her, dass die außergewöhnlichste Blume in meinem Garten | |
rücksichtslos ausgerissen wurde. | |
Aber bei all dem Lärm draußen höre ich nur einer Stimme zu: Das ist immer | |
noch Deniz’ Lachen. Allen Widrigkeiten zum Trotz werden wir schön wie | |
Blumen aus dieser Zeit hervorgehen. | |
Komm’ endlich raus aus deiner Höhle, bitte streck deinen Kopf an die Luft. | |
Sei kein Gefangener der Schatten, glaub nicht nur dem, was dir gezeigt | |
wird. Hör mich an. | |
Glaubst du es sei einfach, 200 Tage im Knast zu verbringen? | |
Glaubst du es sei einfach, 200 Tage draußen vor dem Knast zu verbringen? | |
Es sind jetzt 200 Tage. Die Jahreszeiten ziehen vorbei, der Winter ist | |
vorübergegangen, der Frühling, und jetzt der Sommer. Hör mir zu. | |
Einem Menschen in Isolationshaft werden ganze Tage und Monate aus seinem | |
Leben geraubt. Unrechtmäßig. Nur weil er seine Arbeit getan hat. Nur weil | |
er Artikel geschrieben hat. Nur weil er Interviews geführt hat. | |
## Aus vollem Leib. Mit ganzem Atem. | |
Wir haben uns in letzter Zeit absurde Angewohnheiten zugelegt wie etwa | |
diejenige, unsere Trauer und Wut über das Unrecht anlässlich runder Zahlen | |
lauter herauszubrüllen als sonst. Aber wenn du mich fragst, gibt es keinen | |
Unterschied zwischen dem 200. Tag und dem 78. Tag. Alle Tage sind gleich. | |
Eine psychische Last kann einen Menschen stärker erschöpfen und tiefer | |
verwunden als eine physische Verletzung. Viel lieber hätte ich eine | |
sichtbare Wunde an meinem Körper, als geistig an das Gefängnis von Silivri | |
gekettet zu sein. | |
Bei jedem der einstündigen Treffen versuche ich, die potenziell schädlichen | |
Auswirkungen der Isolation von Deniz fernzuhalten wie von einem Kind, auf | |
dessen Wunde man pustet. Aus vollem Leib. Mit ganzem Atem. | |
Von jeder Institution, die den Begriff „Menschenrechte“ in ihrem Namen | |
führt, erwarte ich einen professionelleren Atem als mein amateurhaftes | |
Pusten. | |
Es sind 200 Tage. Ist dir das bewusst? | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
Zum 200. Tag der Gefangenschaft von Deniz Yücel erscheint dieser Text | |
gleichzeitig bei Spiegel Online, WELT, Zeit Online sowie der Homepage von | |
Reporter ohne Grenzen. | |
1 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Dilek Mayatürk-Yücel | |
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