# taz.de -- Debatte Comeback des Staates: Lebenslang auf der Baustelle | |
> Der Staat ist per se kurzsichtig. Will er die Zukunft planen, wird das | |
> zum Problem. Denn die Verantwortung für notwendige Paradigmenwechsel | |
> bürdert er den Bürgern auf. | |
So alle zwanzig bis dreißig Jahre schlägt das Pendel in die | |
entgegengesetzte Richtung aus. Von solchen historischen Rhythmen | |
innergesellschaftlicher Einstellungsmuster sind jedenfalls eine Reihe | |
kluger Interpreten der Geschichte überzeugt. Auf Phasen des Individualismus | |
folgen Passagen kollektiver Orientierungen. Zeiten liberaler | |
Wirtschaftsideen werden von Abschnitten etatistischer Antizipations- und | |
Regelungsversprechen abgelöst. Der dominierende Charakter im jeweiligen | |
Zyklus produziert in Folge rigider Einseitigkeiten regelmäßig Probleme und | |
Defizite, auf welche die nachfolgende Ära ähnlich überschüssig, doch eben | |
in die andere Richtung hin antwortet. | |
Derzeit erleben wir das Ende der goldenen Jahre neuliberaler | |
Gesellschaftsinterpreten. Und bezeichnenderweise kehrt der Staat als | |
Modernisierungsagens und vorsorgende Rationalisierungsinstanz zurück in die | |
Debatte der Zeitdiagnostiker. Déjà vu, möchte man da gern ein bisschen | |
seufzend sagen. Denn so erlebte man es bereits in den 1960er Jahren. | |
Nach zwei Jahrzehnten neuliberaler Erhard-Politik brach die große Zeit der | |
Planer, Gestalter und Gesellschaftsarchitekten an. Natürlich galt auch | |
seinerzeit die Bildung als Schlüssel für die Gesellschaftsreform. Und das | |
entscheidende Passepartout für den technischen, wirtschaftlichen und | |
dadurch bedingt auch sozialen Fortschritt war in den frühen 1960er Jahren | |
die Atomenergie. Jeder, der progressiv und "zukunftsorientiert" dachte, | |
setzte auf diese Energiequelle. Kaum jemand zweifelte in diesem | |
Modernitätsjahrzehnt daran, dass die Atomenergie das probate Mittel | |
schlechthin für eine weitsichtige technologische Vorsorgepolitik sein | |
würde. | |
Und keine Partei begeisterte sich stärker für den Bau von Atomkraftwerken | |
als die Sozialdemokraten, die sich davon fortwährendes wirtschaftliches | |
Wachstum und infolgedessen unversiegbar sprudelnde materielle Quellen für | |
Wohlstand und sozialen Ausgleich in einer Gesellschaft der sozialen | |
Demokratie versprachen. Auch Erhard Eppler, später bedeutender | |
Wachstumskritiker in der SPD, folgte in den 1960er Jahren dieserm | |
Paradigma. "Mit leisem Grausen", so schreibt er in seiner Autobiographie, | |
erinnere er sich, wie er in diesem "Jahrzehnt des technokratischen | |
Größenwahns" für Roboter und schnelle Brüter schwärmte. Wie Eppler hatte | |
auch sonst kaum jemand im Jahr 1965 daran gezweifelt, dass die Atomenergie | |
das probate Mittel schlechthin für eine weitsichtige technologische | |
Zukunftspolitik sein würde. | |
Und da die Philosophie der Machbarkeit und der systematischen Gestaltung | |
den Zweifel und die Ambivalenz gern ausblendet, kamen Alternativen gar | |
nicht erst zum Zug. Im Rausch bombastisch subventionierter Atomvorsorge | |
wurde beispielsweise die staatliche Förderung der Mikroelektronik | |
stiefmütterlich betrieben, so dass Deutschland - gerade wegen seiner | |
Vorsorgepolitik - auf diesem Gebiet drastisch zurückfiel. | |
Nun ist natürlich eine Philosophie der Zukunftsplanung nicht rundum | |
abwegig. Vorsorge für das Morgen und Übermorgen zu treffen - Menschen | |
pflegen seit ewigen Zeiten auf diese Weise zu handeln. Indes: die Tücke | |
liegt im Antizipationsbegehren von Staatlichkeit. Vor allem der moderne | |
Sozialstaat des 19./20. Jahrhunderts hat nicht nur nachgesorgt. Geradezu | |
als Musterbeispiel für Vorsorgewohlfahrtsstaatlichkeit kann die große | |
Rentenreform von 1957 gelten, mit der in der Tat ein uraltes Problem der | |
Menschen - die chronische Unsicherheit und Armut im Alter - gelöst wurde. | |
Kaum eine Reform des modernen Sozialstaats dürfte jemals populärer gewesen | |
sein als die Garantie auf einen materiell gesicherten Ruhestand. | |
Doch gerade diese Vorsorgereform der Alterssicherung durch das | |
Solidarprinzip gilt heute als problematisch. Die gegenwärtigen | |
Zukunftsreformer begründen ihre Ablehnung dieser "Jahrhundertreform" damit, | |
dass man eben mit Aussicht auf Ertrag in die Zukunft, nicht sinnlos in die | |
Vergangenheit investieren müsse. Salopper ausgedrückt: Die unproduktiven | |
Rentner kosten zu viel. Die gängige Deutung ist: Die große Rentenvorsorge | |
von 1957 ging im Laufe der Zeit zu Lasten der Jüngeren. Daher wird die | |
Zukunftsreform der Adenauer-Jahre nun fünfzig Jahre später ihrerseits mit | |
dem Verweis auf die Zukunftssicherung reformiert. | |
Und man kann sich bereits jetzt sicher sein, dass diese gegenwärtige Reform | |
der früheren Reform in spätestens zwanzig bis dreißig Jahren zu dem | |
gigantischen Problem von Altersarmut zumindest im unteren Drittel der | |
Bevölkerung führen wird. Daher steht abermals die Reform der Reform an: Die | |
spätere Zukunft wird sich gegen die vorangegangen Zukunftsplanung zur Wehr | |
setzen. Das sind die vielzitierten nicht-intendierten Negativfolgen | |
gutgemeinter Absichten. Die Idee jedenfalls, dass der Staat die Probleme | |
rechtzeitig aufspürt und Zukunft gezielt, systematisch, planvoll gestaltet, | |
ist alles andere als neu - und ihre heiklen Implikationen mittlerweile gut | |
bekannt. | |
Und doch: Die säkulare Heilsutopie des systematisch-effizienten | |
Antizipation birgt keine große Lernelastizität. Denn im | |
Rationalitätsversprechen steckt immer der große Plan. Insofern es Zufall | |
ist, dass derzeit gerade bei den Profis der Politik Begriffe wie | |
"Baustelle", "positionieren", "aufgestellt sein" lustvoll kursieren. In | |
diesem Verständnis wird Gesellschaft zur weitflächigen Großbaustelle, auf | |
der jeder an seinem Platz die ihm zugewiesene Funktion exakt auszufüllen | |
hat. Es herrscht nachgerade ein Zwang zur unentwegten | |
Optimierungsanstrengung aufgrund der "fördernden" Sozialinvestitionen des | |
Staates. Wer zu dieser Optimierungsleistung im Förder- und Forderstaat | |
nicht in der Lage ist, hat das Nachsehen und wird mit Nachtsicht kaum | |
rechnen dürfen. | |
In den nächsten Jahren könnten sich all die Negativerfahrungen aus der | |
ersten Bildungsexpansion in der nun allseits annoncierten zweiten | |
Bildungsreform der Produktivitäts- und Modernitätslenker ungleich schroffer | |
wiederholen. Die einen werden es schaffen; für die anderen ist ihre | |
Erfolglosigkeit, ihre Unzulänglichkeit, ihr Scheitern noch bitterer - da | |
ihnen jetzt ja eine "kollektive Chancenstruktur" von den frühen Krippe- und | |
Vorschuljahren an zugeteilt wurde. | |
Der die Zukunft planvoll okkupierende Machbarkeitsstaat begreift Menschen | |
als Heizmaterial unablässiger Produktivität. Kultur, Autonomie, Eigensinn, | |
die Freiheit zum Nein - all dies kommt bei den Ideologen der rationellen | |
Gesellschaftsplanung nicht mehr vor. Der normierte Mensch im "stählernen | |
Gehäuse" des Vorsorgestaats hat die Pflicht, der verordneten Vernunft und | |
der dekretierten Anstrengungen unbedingt Folge zu leisten. Der Zugriff | |
erfolgt während der gesamten Biographie. "Lifelong learning" ist daher eine | |
Lieblingsvokabel der Architekten des großen gesellschaftlichen Bauplans. | |
Der neue Staat fordert, fördert, examiniert, evaluiert, prämiert und | |
verwirft die Bürger - buchstäblich: lebenslänglich. | |
23 Nov 2007 | |
## AUTOREN | |
Franz Walter | |
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