| # taz.de -- Debatte Armut und Reichtum: Die gespaltene Gesellschaft | |
| > Die Leistungseliten igeln sich ein, Hartz-IV-Bezieher driften in | |
| > haßerfüllte Paralleluniversen ab. Die Brücken scheinen abgebrochen. | |
| Armut ist nicht aus sich heraus, sondern nur im Kontext ihres Pendants, des | |
| Reichtums, wirklich zu verstehen. Daher kann man, eine berühmte Sentenz Max | |
| Horkheimers über den Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus | |
| abwandelnd, mit einiger Berechtigung formulieren: Wer vom Reichtum nicht | |
| sprechen will, sollte auch von der Armut schweigen! | |
| Armut und Reichtum stehen zueinander in einem dialektischen | |
| Wechselverhältnis, was sich am Beispiel der kapitalistischen | |
| Profitwirtschaft zeigt. Der dieser innewohnende Drang nach | |
| Gewinnmaximierung und die Tendenz zur Verarmung eines Teils der Bevölkerung | |
| gehen Hand in Hand. Deshalb kann Armut im Rahmen der bestehenden | |
| Gesellschaftsordnung nicht durch zunehmenden Reichtum beseitigt werden, da | |
| beide systembedingt und konstitutive Bestandteile des Kapitalismus sind. | |
| Schon Hegel hatte in seiner "Rechtsphilosophie" festgestellt, "daß bei dem | |
| Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, | |
| d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße | |
| der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern." | |
| Gleichwohl würde eine Stärkung der Massenkaufkraft die Konjunktur ankurbeln | |
| sowie die Kluft zwischen Arm und Reich zumindest ansatzweise schließen | |
| helfen. Vor allem die Kaufkraft der untersten Einkommensgruppen, etwa durch | |
| eine generelle Anhebung der Grundsicherung (Hartz IV) dauerhaft zu erhöhen, | |
| wäre nicht bloß sozial gerecht, vielmehr auch ökonomisch sinnvoll. | |
| Reichtum bedeutet die Möglichkeit, wirtschaftlich und politisch Macht | |
| auszuüben, wie Armut umgekehrt bedeutet, ökonomische und soziale Ohnmacht | |
| zu erfahren. Wieder geht es nicht bloß um Geld, obwohl dieses das Fundament | |
| des privaten Reichtums bildet. An dem Grundproblem, dass auf den | |
| Finanzmärkten nicht zuletzt durch spekulative Geschäfte fast über Nacht | |
| riesige Vermögen entstehen und manchmal auch genauso schnell wieder | |
| vergehen, wird eine internationale Kontrollinstanz, eine strengere | |
| Bankenaufsicht und mehr Transparenz in diesem Bereich, wie sie die | |
| G-20-Staaten planen, wenig ändern. | |
| In einer wohlhabenden Gesellschaft, die den Anspruch erhebt, sozial, | |
| gerecht und demokratisch zu sein, müssen Armut, sofern sie nicht auf | |
| Einzelfälle beschränkt ist und man ein persönliches Versagen der davon | |
| Betroffenen unterstellen kann, wie Reichtum, der ein vernünftiges Maß | |
| übersteigt, öffentlich gerechtfertigt werden. Dies geschieht primär über | |
| die Lehre, wonach es Leistungsträgern in der Sozialen Marktwirtschaft | |
| besser geht und besser gehen soll als den weniger Leistungsfähigen oder gar | |
| den "Leistungsverweigerern", "Faulenzern" und "Sozialschmarotzern". Dass es | |
| sich hierbei um einen Mythos handelt, merken immer mehr Bürger/innen. Ihnen | |
| bleibt nicht verborgen, dass sich die Leistungseliten auf geradezu | |
| inzestuöse Weise hauptsächlich aus ihrem eigenen Herkunftsmilieu | |
| reproduzieren und eine "geschlossene Gesellschaft" bilden. Gleichzeitig | |
| vertreten sie ihre Interessen heute auch sehr viel massiver und | |
| rücksichtsloser als in der "alten" Bundesrepublik, weil sich seither die | |
| Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit spürbar zu ihren Gunsten | |
| geändert und ideologische Deutungsmuster an Bedeutung gewonnen haben, die | |
| ihre soziale Privilegierung legitimieren. | |
| Früher verkörperten die Armen ein "soziales Worst-case-Szenario" für | |
| Gesellschaftsmitglieder, die sich nicht systemkonform verhielten; ihnen | |
| blieb jedoch (fast) immer die Hoffnung, ihre Lage durch eigene | |
| Anstrengungen und/oder glückliche Fügungen des Schicksals zu verbessern. | |
| Auch wenn diese Erwartungen fast nie erfüllt wurden, steckte darin ein | |
| wichtiger Lebensimpuls, der sonst schwer vergleichbare Gruppen miteinander | |
| verband, weil soziale Grenzlinien zumindest prinzipiell - wiewohl real eben | |
| nur im Ausnahmefall - überwunden werden konnten. Armut diente also der | |
| Disziplinierung, Motivierung und Loyalitätssicherung. Die (Angst vor der) | |
| Armut war ausgesprochen nützlich für den Fortbestand des politischen und | |
| Gesellschaftssystems. | |
| Wenn die bestehende Wirtschaftsordnung statt sozialer Gerechtigkeit sowohl | |
| vermehrt Armut wie auch immer größeren Reichtum schafft, muss sie diese | |
| Ungleichverteilung der gesellschaftlichen Ressourcen und der Lebenschancen | |
| rechtfertigen, um ihre Legitimationsbasis nicht zu verlieren. Vor allem in | |
| einem Land, das nach wie vor unter dem geistig-politischen Einfluss des | |
| Neoliberalismus steht und daher stark auf Leistung und ökonomischen Erfolg | |
| setzt, bedeutet Armut nicht bloß, dass ein Mangel an prestigeträchtigen | |
| Konsumgütern besteht, sondern auch, dass hiermit ein Makel verbunden ist, | |
| der das Selbstwertgefühl Betroffener erschüttert. | |
| Breitet sich die Armut in einem reichen Land aus, wird ein Großteil der | |
| Bevölkerung marginalisiert, die Menschenwürde gleich massenhaft verletzt | |
| und den Betroffenen "strukturelle Gewalt" (Johan Galtung) angetan. Arme und | |
| Reiche leben in einem permanenten Spannungsverhältnis, das sich zur | |
| sozialen Zeitbombe entwickeln kann, während Politik, Staat und Verwaltung | |
| nicht selten die Armen anstelle der Armut bekämpfen, statt für einen | |
| gerechten sozialen Ausgleich zu sorgen. | |
| Die zunehmende soziale Spaltung erhöht nicht bloß das Konflikt- und | |
| Gewaltpotenzial der Gesellschaft, vielmehr auch die Wahrscheinlichkeit | |
| einer Krise der politischen Repräsentation. Wenn die Lebensverhältnisse der | |
| Mitglieder einer demokratisch verfassten Gesellschaft, d.h. Armut und | |
| Reichtum immer stärker auseinander klaffen, kann sich eine latente | |
| Bürgerkriegsstimmung ausbreiten. | |
| Wer die brisante Mischung von berechtigter Empörung, ohnmächtiger Wut und | |
| blankem Hass auf fast alle P(arteip)olitiker/innen unseres Landes kennt, | |
| wie sie wohl nur in Versammlungen von Hartz-IV-Bezieher(inne)n existiert, | |
| kommt zu dem Schluss, dass innerhalb der Bundesrepublik längst zwei Welten | |
| oder "Parallelgesellschaften" existieren und die Brücken dazwischen | |
| endgültig abgebrochen sind. | |
| 13 Jul 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| Christoph Butterwegge | |
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