# taz.de -- Das taz.FUTURZWEI-Gespräch: „Ich bin Deutscher“ | |
> Joschka Fischer über die Bundestagswahl, Pazifismus, Macron und Gott. | |
INTERVIEW: [1][PETER UNFRIED] | |
FUTURZWEI: Wenn Sie 25 wären, wofür und wogegen würden Sie sich heute | |
engagieren, Herr Fischer? | |
Joschka Fischer: Die Frage kann ich sehr schwer beantworten. Weil ich | |
sofort an die Jahre zurückdenke, die ich erlebt habe, und damals war | |
Deutschland ein völlig anderes Land, Westdeutschland genauer gesagt. Die | |
Enge, der Druck, das kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Deshalb war | |
einem der antiautoritäre Reflex fast in die Wiege gelegt, wenn man ein | |
bisschen Aufruhr im Kopf hatte. | |
Sie waren ein Dagegen-Mann. | |
Es blieb einem damals ja nicht viel anderes übrig, das wollte ich ja sagen. | |
Wenn ich heute 20 bin, schließe ich mich Mélenchon an, also stramm links, | |
oder Macron, also liberal-europäisch? | |
Es war zu meiner Zeit schon keine gute Idee, sich den linken | |
Traditionalisten anzuschließen, und ist es heute noch weniger. Madame | |
Wagenknecht lobte erst Mélenchon über den grünen Klee und schwieg dann, als | |
er vor der Stichwahl zur Frage Macron oder Le Pen lavierte. Das zeigt, dass | |
sie offensichtlich nicht wirklich was aus der Geschichte der Weimarer | |
Republik gelernt hat, sonst wäre ihr der Begriff Sozialfaschismus geläufig. | |
Die Kommunisten bekämpften damals die Sozialdemokraten als »linken Flügel | |
des Faschismus«, was den Nationalsozialismus stärkte. | |
Eben. Wie man angesichts der Entscheidungsalternative für Frankreich und | |
Europa als angeblich linke Spitzenfigur dazu die Schnauze halten kann, das | |
habe ich überhaupt nicht verstanden. Wie kann man links und anti-europäisch | |
sein? François Mitterrand hat in seiner letzten Rede vor dem | |
Europaparlament dazu Bleibendes gesagt: »Der Nationalismus ist der Krieg«, | |
das war die Summe seiner Lebenserfahrungen mit zwei Weltkriegen. | |
Präsident Macron versucht das alte Denken mit dem Slogan »Weder links noch | |
rechts« zu überwinden. Wie sehen Sie es? | |
Er will völlig zu Recht raus aus den alten Gräben. Die Gerechtigkeitsfrage | |
haben Sie heute global. Es geht nicht nur um westliche Unterschichten, | |
sondern um berechtigte Ansprüche einer großen Mehrheit rund um den Globus. | |
Aber daraus ergeben sich soziale Probleme, die vor allem im ökologischen | |
Bereich auftauchen. Die soziale Frage ist heute also sehr viel komplexer. | |
Sexuelle Minderheiten, Geschlechterfragen, all diese Dinge gehören auch | |
dazu. Ein Teil dieser Wiedergeburt des rechten Nationalismus besteht in der | |
negativen Reaktion auf diese soziokulturellen Gerechtigkeitsfragen. Dann | |
kommt die große Frage der Zuwanderung, der globalen Bewegung dazu. Es gibt | |
die einfache Welt von rechts und links nicht mehr, wie sie mal existierte. | |
Wenn Sie mich also nach heutigem Engagement fragen, so finde ich den | |
Einsatz für die Umwelt, für soziale Gerechtigkeit und für Europa von | |
überragender Bedeutung. Und ich finde es gut, dass viele junge Leute sich | |
in der Flüchtlingsarbeit engagieren. | |
Also für etwas kämpfen – nicht mehr gegen etwas? | |
Durch die ökologische Frage geht es in zentralen Punkten nicht mehr so sehr | |
um das Dagegensein, also um die Alternative, sondern um das Dafür. Man muss | |
schon sehr mit Brettern vernagelt sein, um die große Herausforderung nicht | |
zur Kenntnis zu nehmen, die das Anthropozän für die Umwelt darstellt. Der | |
Klimawandel ist nur die Spitze. Und das hat natürlich soziale, kulturelle, | |
ökologische Folgen. Das setzt ein Handeln voraus, das nicht mehr auf | |
Vereinte Nationen beschränkt ist, also einen abstrakten Internationalismus. | |
Das setzt voraus, dass die Staatengemeinschaft als solche konkret | |
zusammenfindet, was ja beim Klimagipfel in Paris zu ersten Mal wirklich | |
gelungen ist in der Frage des Klimaschutzes. | |
Und nun? | |
Der Druck der Realität wird so stark, dass Paris vielleicht nicht innerhalb | |
des Zeitplans umgesetzt wird, aber schließlich doch. Die Inder und Chinesen | |
halten daran fest, obwohl ihnen Trump eine Ausstiegsmöglichkeit geboten | |
hat, das halte ich für sehr wichtig. | |
Für Sie deutet aber grundsätzlich alles auf globales Chaos hin? | |
Wir müssen eine Auflösung von Ordnung feststellen. Für chinesische Bürger | |
ist das positiv, der Aufstieg von Millionen in die Mittelschicht ist ein | |
historisches Großereignis. Ebenso die Tatsache, dass die Volksrepublik sich | |
anschickt, zur größten Volkswirtschaft zu werden. Zugleich beginnt das, was | |
Westen ist, sich von innen heraus aufzulösen. Was mit aller Kritik und | |
Unzulänglichkeiten »Pax Americana« hieß, das löst sich auf. | |
Die Ordnung durch den übermächtigen Weltpolizisten USA, die dem Westen | |
Frieden und Wohlstand brachte. | |
Und damit entsteht nicht eine neue Ordnung, sondern erst mal ein Vakuum, | |
und dieses Vakuum wird Chaos mit sich bringen. Das erleben wir jetzt in | |
Europa durch den Brexit. Aber die Zerstörung der britischen | |
Industriekultur, die Konzentration auf die Finanzindustrie, das war nicht | |
Brüssel, das waren nicht mal die neuen Wettbewerbsbedingungen globaler Art, | |
das waren Maggie Thatcher und die Konservativen. Sowohl dem Brexit als auch | |
der Wahl von Trump ging ein Prozess mit aggressiver Verlagerung von | |
Arbeitsplätzen nach außerhalb des Landes voraus: Das sind Entwicklungen, | |
die jetzt so kumulieren, dass sie einen neuen Nationalismus befördern. Der | |
Westen stellt sich dadurch von innen heraus mehr und mehr selbst infrage. | |
Deshalb war die Wahl von Macron so wichtig. | |
Sie hatten aus dem Dreisatz Brexit-Trump-Le Pen eine Untergangsprophetie | |
gemacht. | |
Keine Untergangsprophezeiung, das nicht, aber mir wurde nur irgendwann | |
klar: Hey, das ist möglich. Mit Brexit, Trump und Le Pen heißt es: EU am | |
Ende, Euro am Ende. | |
Und die westliche Welt. | |
Ja. Und mit Herrn Mélenchon wäre es ähnlich gewesen. | |
Und die Ironie ist: Das Ende der amerikanischen Weltherrschaft und das Ende | |
des bösen weißen Mannes, das waren doch die Dinge, die wir wollten. | |
Das Ende der Vorherrschaft des weißen Mannes, so muss es richtig lauten. | |
Und nun stellt sich heraus: Das hat viele gute Seiten. | |
Die liberale Weltordnung, wie wir sie kennen, war alles andere als perfekt, | |
aber sie löste den Faschismus ab, der dank eines ganz wesentlichen Beitrags | |
der Vereinigten Staaten gottseidank besiegt wurde. Und dann gab es den | |
Sowjetkommunismus und die liberale Weltordnung, wie Amerika sie sich | |
vorstellte. Und diejenigen, die aufseiten der liberalen Weltordnung waren, | |
profitierten enorm davon. Sofern man nicht in einem Drittweltland lebte, da | |
sahen die Dinge anders aus. Der Wiederaufstieg Westdeutschlands und Japans | |
waren damit eng verknüpft. | |
Ausgerechnet Trump skizziert das Ende dieser Phase. | |
Das macht das Bedrohliche von Donald Trump aus, der die beiden | |
Grundversprechen infrage stellt, von denen Deutschland seit 1949 | |
existenziell abhängt, gemeinsame Sicherheit und freier Handel. Weshalb ich | |
diese Haltung – auch der taz – nie verstanden habe, gegen den freien Handel | |
zu sein. Vieles von dem, was sozial kritisiert und gefordert wird, ist für | |
uns nur auf der Grundlage dieses freien Handels zu erwirtschaften. | |
Sind die Amerikaner dafür verantwortlich, dass es uns gut geht, oder mit | |
der Kette von desaströsen Kriegen, dass wir in dem Schlamassel sind, in dem | |
wir sind? | |
Die USA als Sicherheitsgarant und ökonomische Führungsnation sind für | |
beides verantwortlich. Aber auch bei der Sicherheit, dem zweiten großen | |
Versprechen, hat sich die Linke hierzulande allzu oft in die Tasche | |
gelogen. Sie hat die Amerikaner gern und bisweilen mit sehr guten Gründen | |
kritisiert, aber die strategischen und Sicherheitsfragen an sie delegiert, | |
die aber für uns existenziell waren. Die USA übernahmen auch die | |
schmutzigen Bereiche für uns, und die Deutschen haben sie dann dafür | |
kritisiert. | |
Ideal. | |
Tja. Aber auch das geht zu Ende. | |
Sie haben die auf dem Grundpfeiler Pazifismus gegründeten Grünen 1999 in | |
der Regierung mit der Realität des Kosovo-Kriegs konfrontiert. Manche | |
hassen Sie heute noch dafür. Auch 18 Jahre später ist die Vorstellung einer | |
europäischen Militärpolitik kulturell-emotional sehr weit weg. | |
Ich glaube, sie ist näher, als Sie meinen. Trump hat klargemacht, dass die | |
amerikanische Sicherheitsgarantie mit Fragezeichen versehen ist. Damit Sie | |
mich nicht missverstehen: Ich wollte, der Pazifismus hätte recht. Aber die | |
Erfahrung hat mich eines anderen belehrt. | |
Gewalt gehört dazu? | |
Das ist auch in der Innenpolitik so. Sie können die schönsten Gesetze | |
erlassen. Wenn Sie nicht die Polizeikräfte und die Justiz haben, um sie im | |
Zweifelsfall durchzusetzen, gegen die, die sie nicht einhalten, ist das | |
alles nur bedrucktes Papier. Angesichts von Trump, von Putin, von dem, was | |
in der Ukraine vor sich geht, werden wir nicht darum herumkommen, gemeinsam | |
mit unseren europäischen Partnern die notwendige Hardpower aufzubauen, | |
damit die europäische Softpower ernst genommen wird. | |
Also militärische Potenz, um das, was wir unsere Werte nennen, zu bewahren? | |
Das ist meine Erfahrung als Außenminister. Softpower bringt man nur dann | |
zum Tragen, wenn Sie auch über Hardpower verfügen, das heißt, wenn die | |
Leute das ernst nehmen. | |
Heute noch Pazifist sein ist also eine zutiefst naive politische Haltung. | |
Ich weiß nicht, ob das heute der Fall ist. Wie wurde Hitler von der Macht | |
entfernt? | |
Durch geballte militärische Potenz. | |
Durch die brutalste Form des Krieges, die man bis dahin kannte. Es nicht zu | |
tun, war keine Option. Die Welt wäre eine völlig andere geworden, gerade | |
auch für unsere Generation. Deshalb wird durch die Veränderung bei den | |
Amerikanern die deutsch-französische Verbindung von entscheidender | |
Bedeutung sein. | |
Es gibt Bewegungen gegen Bahnhöfe, Miethaie oder Chlorhühner, aber es wird | |
niemals eine Bewegung für eine europäische Sicherheits- und damit | |
Militärpolitik geben. | |
Was aber vernünftig wäre. | |
Aber emotional undenkbar. | |
Das sehe ich nicht so. Aber dafür sind sie eben in der Bundesregierung. Das | |
macht den Unterschied aus, auf Oppositionsbänken zu sitzen oder in einem | |
schönen taz-Gebäude und die Welt nur zu beschreiben. | |
Lassen Sie uns über den Krieg in Syrien und den Nahen Osten reden. Wie geht | |
es weiter? | |
Die Überwindung des Chaos und des Leids in dieser Nachbarregion Europas | |
wird weder durch gutes Zureden noch durch Wünschen stattfinden. Die | |
Konflikte dort, die entstanden sind mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und | |
dem Untergang des Osmanischen Reiches, sind heute nahezu alle noch da. Und | |
einige sind dazugekommen wie der israelisch-arabische Konflikt. | |
Hinzugekommen sind zudem nicht staatliche Akteure auf allen Seiten und die | |
innerislamische religiöse Konfrontation zwischen Sunniten und Schiiten und | |
der Hegemonialkonflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran. | |
Woraus folgt? | |
Die beteiligten Nationen und ihre Staaten werden das selbst lösen müssen. | |
Das ist die Lektion, die man seit dem Ersten Weltkrieg gelernt haben | |
müsste. | |
Das heißt, dem Syrien-Krieg weiter zusehen? | |
Ich weiß, das ist jetzt leicht gesagt, denn es bedeutet ein furchtbares | |
humanitäres Desaster. Syrien ist dafür ein Beispiel, aber wird nicht das | |
einzige bleiben. Und das Zweite: Der Krieg ist ein enormes | |
Sicherheitsrisiko. Es ist eine große Leistung, vor allem von Obama, dass | |
dieser gewaltsame Prozess nicht noch nuklear aufgeladen wurde, sonst wäre | |
das Risiko noch größer. | |
Ist das für Sie ein Beleg, dass ohne Weltpolizist USA alles noch schlimmer | |
ist? | |
Sagen wir es so: Wir haben im Nahen Osten eine Situation, die fast eins zu | |
eins der Situation Mitteleuropas im Dreißigjährigen Krieg entspricht. | |
Damals war Deutschland Syrien und Irak zusammengenommen. Ein scheinbarer | |
Religionskrieg, der mit unglaublicher Brutalität geführt wurde. In | |
Wirklichkeit tiefe Machtinteressen auf der lokalen, regionalen und der | |
internationalen Ebene. Im 17. Jahrhundert ging es um die Interessen der | |
entstehenden Großmächte in Europa. Heute haben Sie die USA mit angezogener | |
Handbremse und Putins Russland, das nicht die Stärke der früheren | |
Sowjetunion hat. Und auf der anderen Seite die Regionalmächte, von denen – | |
wie damals auch – keine stark genug ist, um die andere zu besiegen. Weder | |
die schiitische Großmacht Iran noch die sunnitische Großmacht | |
Saudi-Arabien. Deshalb zog sich das damals in einer unendlichen humanitären | |
Katastrophe über Jahrzehnte hin, und so ist das auch im Nahen und Mittleren | |
Osten. | |
Was wird aus den Kurden? | |
Mit der Kurdenfrage ist ein neuer, sehr dynamischer und gefährlicher Faktor | |
hinzugekommen. Auf der einen Seite wollen die Kurden Autonomie und damit | |
vielleicht auch staatliche Unabhängigkeit, auf der anderen Seite gibt es | |
keinen Staat in der Region, der bereit ist, das zu unterstützen. Sowohl die | |
Türkei als auch Iran, Irak und Syrien würden dafür einen hohen Preis zu | |
bezahlen haben. | |
Ist eine sozialökologische Wende trotz der Dringlichkeit angesichts des von | |
Ihnen skizzierten Chaos eine naive Vorstellung für Sie? | |
Für mich ist die ökologische Frage die zentrale Frage im 21. Jahrhundert. | |
Schlicht durch die globalen Trends. Auf der einen Seite eine wachsende | |
Weltbevölkerung mit wachsenden Bedürfnissen. Immer mehr Menschen, die – zu | |
Recht – sagen: Hey, wir sind auch da und wollen das alles auch: Konsum, | |
Zukunftsperspektiven, soziale Sicherheit, Gesundheit, Ausbildung unserer | |
Kinder. Der Pro-Kopf-Verbrauch an Energie, Ressourcen, Wasser wird also | |
enorm zunehmen, zusammen mit der Anzahl der Köpfe. Auf der anderen Seite: | |
Begrenztheit dieser Ressourcen, das Kippen globaler und regionaler | |
Ökosysteme, drohende Kriege um Wasser et cetera, all das wird dramatisch | |
zunehmen und das hat massive, sehr harte politische Konsequenzen. | |
Der Green New Deal, das nachhaltige Wirtschaften, ist die Religion, die uns | |
bleibt? | |
Ich würde es keine Religion nennen und Deal übrigens auch nicht, weil es | |
von der Mehrheit der Deutschen nicht verstanden wird. Da liegt die Zukunft | |
der Technologie und der Wirtschaft. Ein Land wie Deutschland wird nur eine | |
Perspektive haben, wenn wir uns darauf einstellen. | |
Das schreit nach einer entsprechenden Politik, aber wenn Sie an die Grünen | |
denken, haben Sie einen leeren Kopf, liest man. | |
Leeren Kopf? | |
Es fällt Ihnen nichts mehr dazu ein. | |
Die Grünen in Baden-Württemberg sind ein Erfolgsmodell mit Kretschmann. Es | |
spräche also dafür zu sagen: Hey, so. | |
Aber? | |
Aber es ist nun mal so: Hätte Kretschmann eine Mehrheit auf einem Grünen | |
Bundesparteitag? Nein. Also. | |
Also was? | |
Ende der Debatte. Was wollen Sie da noch sagen? Ob ich da der mit dem | |
leeren Kopf bin? Das zu entscheiden, überlasse ich anderen. | |
Kretschmann macht Politik für die ganze Gesellschaft. | |
Das muss er als Ministerpräsident, sonst wäre er fehl am Platz, und das | |
sollten die Grünen auch machen. | |
Man nimmt es ihm nicht einmal übel, dass er Intellektueller ist. | |
Im Gegenteil. Ich bin ja selber Schwob. Kretschmann ist die Kombination von | |
Bodenständigkeit, Verwurzelung und starker Intellektualität, die der Schwob | |
gern hat. »Der Schiller und der Hegel, das ist bei uns die Regel, der | |
Uhland und der Hauff, das ist bei uns der Brauch«, wie es so schön heißt. | |
Wer bleibt Bundeskanzler? | |
Ich sehe nicht, dass die SPD die Kraft haben wird, an der Union | |
vorbeizuziehen, ohne hier Prophet sein zu wollen, aber das | |
Saarland-Ergebnis könnte für die Bundestagswahlen beispielhaft sein. | |
CDU 40, SPD 29, dann Große Koalition? | |
Die beiden Großen werden um jede Stimme kämpfen, sodass am Ende die Frage | |
der Koalitionspartner entscheidet, die dann nicht mehr da sind oder nicht | |
ausreichend stark da sind. | |
Ist es für Sie komplette Illusion, eine bessere Welt durch | |
gesellschaftliche Bewegungen schaffen zu können? | |
Wenn Sie es in der Absolutheit sagen – gesellschaftliche Bewegung schafft | |
bessere Welt, dann wird’s naiv. Aber erst mal auf gesellschaftliche | |
Bewegung zu setzen in einer offenen Gesellschaft, in einer rechtsstaatlich | |
verfassten Demokratie, das halte ich für unersetzlich. | |
Und jetzt sind wir an dem Punkt, wo wir Konservative sein müssen, um die | |
Errungenschaften, die liberale, freie, emanzipierte Gesellschaft zu | |
bewahren und zu verteidigen? | |
Nein. Und Errungenschaften, das klingt so staatstragend sozialistisch. Ich | |
neige da eher zu einem organischen Begriff: Das Land hat sich auch durch | |
die sozialen Bewegungen, auch durch die Konfrontation mit der eigenen | |
Vergangenheit sehr positiv entwickelt und sollte sich weiter in dieser | |
Richtung entwickeln. | |
Warum sind die reaktionären Identitätsimpulse als Reaktion auf globale | |
Veränderungen und Abstiegssorgen in Deutschland nicht so breit wie in | |
Frankreich? | |
Wir Deutsche können nicht viel dafür, es sind eher die Tragödien unserer | |
jüngeren Geschichte, zwei Weltkriege, der Verlust von einem Drittel des | |
Staatsgebietes, die deutsche Teilung, der Kommunismus in der DDR, all das | |
hat ja elitenzerstörend gewirkt, weshalb Deutschland sehr viel egalitärer | |
strukturiert ist als Frankreich, Großbritannien oder Italien. Was die | |
deutsche Rechte stark gemacht hat, war ja Ostelbien. Das ist heute Polen | |
und Russland. Und der ostelbische oder baltische Adel ist irgendwo in | |
Köln-Ossendorf im Sozialbau gelandet. | |
Und? | |
Zugleich haben zwölf Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge das Land | |
langsam, aber unglaublich verändert. Die seit Ende des Dreißigjährigen | |
Krieges fixierten Religionsgrenzen wurden dadurch überwunden. Ich erinnere | |
mich an den ersten Bau einer evangelischen Kirche in unserem Dorf, das war | |
schlimmer als heutzutage eine Moschee. Dann erst die, die gar nichts | |
geglaubt haben, bei denen die Eltern geschieden waren, um Gottes Willen. | |
Und die Oma ging nie ohne Kopftuch aus dem Haus, das wollen wir auch nicht | |
vergessen. Das war ein anderes Deutschland. | |
Die AfD will dieses Deutschland zurück. | |
Diese AfD ist ein komischer Verein. Sie wollen mit den Nazis nichts zu tun | |
haben, reden aber wie Nazis, denken wie Nazis, was sind sie also? Eben. Das | |
zeigt, wie wichtig in unserem Land das Bewusstsein über unsere | |
Vergangenheit ist. | |
Andererseits verpasst Deutschland vor lauter Sorge, in die schlimme | |
Vergangenheit zurückzufallen, sich aus einer gelungenen Zukunft zu | |
definieren. | |
Nein, das sehe ich nicht so. Wir sind eines der modernsten Länder Europas. | |
Ich denke, es hat sich sehr viel an demokratischer Identität in der | |
Konfrontation mit der Geschichte ergeben. Und aus einer dialektischen | |
Situation heraus werden wir in Deutschland auch durch unsere furchtbare | |
jüngere Geschichte geschützt. | |
Inwiefern? | |
Man kann in Deutschland nicht einfach sagen: »Make Germany great again.« | |
Großdeutschland hatten wir, war keine gute Idee. Man kann auch nicht sagen: | |
»Let's build a wall.« Hatten wir auch, war auch keine gute Idee. Ein paar | |
Dinge sind hier in diesem Land halt anders und sich dessen bewusst zu sein, | |
finde ich für die Gestaltung der Zukunft sehr gut. | |
Ich finde Deutschland super. Aber es hat lange gedauert, bis ich so weit | |
war. | |
Ist doch nicht schlecht. | |
Würden Sie sagen, Sie sind Patriot? | |
Ich bin Deutscher. Durch und durch. | |
Ist das jetzt positiv? | |
Es hat seine positiven und sicher auch negativen Seiten. Dass wir Lambada | |
nicht erfunden haben, sondern eher mit preußischer Stock- und Erdenschwere | |
daherkommen, dass wir Ordnung als eine politisch-philosophische Kategorie | |
im Kopf haben, wenn wir uns die Welt anschauen, das sind | |
Eigentümlichkeiten, die andere auf ihre Art auch haben. | |
Sie glauben doch nicht etwa an deutsche Tugenden? | |
Jede Nation hat ihre Tugenden und Laster, ihre Besonderheiten. Aber ich | |
gehöre nicht zu denen, die mit dem Begriff Leitkultur hantieren. Es gelten | |
das Grundgesetz und die damit verbundenen Gesetze. Wir haben hier die | |
Gleichstellung der Geschlechter. Jungs und Mädels werden gleich erzogen. So | |
steht es im Grundgesetz und das möchte ich auch nicht anders haben. Und wer | |
das nicht mag, bitte, der hat sich hier in der Adresse geirrt. | |
Sind wir trotz aller Modernität mental nicht im 21. Jahrhundert angekommen? | |
Wir bewegen uns immer noch gern im 19. oder sogar im 18. Jahrhundert, und | |
schon wieder kommt was Interessantes zum Vorschein bei dieser AfD und wie | |
sie alle außerhalb Deutschlands heißen. Es scheint anzukommen, dass wir in | |
einer Abwärtsspirale sind, dass andere aufsteigen. Das ist etwas, das | |
gerade die Linke als politisch-gesellschaftliche Kraft immer wollte. Das | |
halte ich für einen normalen Vorgang. Bis zum Jahr 1800 waren Indien und | |
China die führenden Volkswirtschaften, erst mit der industriellen | |
Revolution in England haben sich die Verhältnisse geändert. Das geht jetzt | |
zu Ende. Nun geht es um einen neuen Gesellschaftsvertrag und zwar einen, | |
der nicht nur auf nationaler Ebene stattfinden kann. Wer wären wir denn, | |
wenn wir die EU nicht hätten? Wen würden denn die Deutschen, die Franzosen | |
interessieren? Ich setze große Hoffnungen auf Europa. | |
Wir haben keine andere. | |
Das macht doch die Dinge eher einfacher. Wir müssen uns darum kümmern. | |
Das klingt, als glaubten Sie an die menschliche Vernunft. | |
Natürlich. Auf der anderen Seite haben wir auch erlebt, dass das | |
Irrationale sehr stark ist. Aber wenn ich an die menschliche Vernunft nicht | |
glauben würde, gäbe es keine Erklärung für die deutsche Erfolgsgeschichte | |
nach dem Absturz ins Bodenlose. Dass dieses Deutschland sich rausgearbeitet | |
hat und am Ende die Zustimmung aller Skeptiker, Siegermächte, ehemaligen | |
Feinde zur Wiedervereinigung hatte, das zeigt, dass Vernunft sehr viel | |
bewirken kann. | |
Ihr Wort in Gottes Ohr. | |
Nein. Gott braucht mein Wort in seinem Ohr nicht. Das würde nur einen | |
Tinnitus bei ihm auslösen. | |
17 Aug 2017 | |
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