| # taz.de -- Das ende von taz.gazete: Wir sagen Tschüss | |
| > taz.gazete geht zu Ende. Doch die Kämpfe für die Demokratie und | |
| > Pressefreiheit gehen weiter. | |
| Bild: Wir danken unseren Kolleg*innen in der Türkei, unseren Leser*innen und S… | |
| Liebe Leser*innen, | |
| am Anfang stand viel Idealismus. Als taz.gazete am 19. Januar 2017, dem | |
| zehnten Todestag des armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, online | |
| ging, erlebte die Türkei eine umwälzende Zeit. „Die aktuellen Entwicklungen | |
| sind schnelllebig, besorgniserregend, folgenreich, widersprüchlich, | |
| verwirrend, dramatisch, aufwühlend, traurig, ärgerlich, unübersichtlich … | |
| Vor allem aber sind sie eins: wichtig“, schrieben wir im Editorial. Ein | |
| halbes Jahr zuvor war nach dem Putschversuch der Ausnahmezustand verhängt | |
| worden. Per Dekret wurden Pressefreiheit und Grundrechte in | |
| schwindelerregendem Tempo eingeschränkt. Die taz wollte nicht nur | |
| zuschauen, sondern Solidarität mit den Kolleg*innen zeigen, die in der | |
| Türkei viel riskierten, um weiterzuberichten. Wir wollten kritische Stimmen | |
| stärken, die immer mehr unter Druck gesetzt wurden. Seitdem haben wir auf | |
| gazete.taz.de rund 700 Hintergrundberichte, Reportagen und Interviews | |
| veröffentlicht – auf Türkisch und auf Deutsch. Mehr als 50 Autor*innen aus | |
| der Türkei haben für taz.gazete geschrieben. Sie haben zu einer | |
| vielfältigeren Türkeiberichterstattung in Deutschland beigetragen. Heute | |
| geht das Projekt zu Ende. | |
| Doch die tief greifenden Veränderungen in der türkischen Gesellschaft gehen | |
| weiter. Heute findet zum ersten Mal nach 86 Jahren in der Hagia Sophia das | |
| Freitagsgebet statt. Mit dem neuen Internetgesetz sollen die sozialen | |
| Medien, in denen noch Opposition geäußert werden konnte, unter Kontrolle | |
| gestellt werden. Während in der Gesellschaft der Rassismus gegen | |
| Syrer*innen zunimmt, ertrinken weiterhin Geflüchtete an den Landesgrenzen. | |
| Die 27-jährige Studentin Pınar Gültekin wurde von ihrem Ex-Freund brutal | |
| ermordet. Währenddessen wird diskutiert, die in der Istanbul-Konvention | |
| formulierten Frauenrechte rückgängig zu machen. Erdoğan wiederum, der | |
| fürchtet, die Wahlen 2023 zu verlieren, redet lieber über eine erneute | |
| Änderung des erst vor zwei Jahren eingeführten Wahlsystems, als über | |
| Frauenmorde zu sprechen. | |
| Blickt man nur auf die Ereignisse der vergangenen Wochen, wäre es naiv zu | |
| glauben, dass ein in Deutschland gegründetes Projekt die Demokratie in der | |
| Türkei stärken könnte. Trotzdem war taz.gazete ein wichtiges Projekt: eine | |
| Anlaufstelle für arbeitslose Journalist*innen aus der Türkei und ein | |
| Bezugspunkt für viele, die zuletzt nach Deutschland migriert sind. Es | |
| versuchte, die Pressefreiheit zu unterstützen, die jeder Demokratie | |
| zugrunde liegt, während in der Türkei alles, was mit Demokratie zu tun | |
| hatte, systematisch zerstört wurde. Auch wenn taz.gazete jetzt endet, die | |
| Kämpfe gehen weiter. | |
| Wir danken unseren Kolleg*innen in der Türkei, unseren Leser*innen und | |
| Spender*innen, Konny Gellenbeck, der taz und der taz Panter Stiftung für | |
| ihre Unterstützung, der ersten Projektleiterin Fatma Aydemir, dem | |
| Ideengeber Martin Kaul, Ebru Taşdemir und dem gesamten Team sowie unseren | |
| Übersetzer*innen. Hoşça kalın! | |
| taz.gazete | |
| ## Elf Schritte Abschied | |
| Als ich vor zwei Jahren die Anfrage erhielt, ob ich eine Kolumne für die | |
| taz.gazete schreiben wolle, habe ich mich sehr gefreut. Entsprechend | |
| traurig machte mich die Bitte, eine Abschiedskolumne aus der Gefängnishaft | |
| zu verfassen, weil das türkischsprachige Angebot der taz eingestellt wird. | |
| Was Abschied, was ein letzter Artikel, für einen gefangenen Journalisten | |
| bedeutet, ist schwer in Worte zu fassen. Jetzt gerade, während ich mich zum | |
| täglichen Ausgang in einem Hof befinde, in dem ich genau elf Schritte hin | |
| und elf Schritte her tun kann, über Abschied nachzudenken, tut ziemlich | |
| weh. Es geht dabei weniger um Abschiedsschmerz oder die Leere, in die ein | |
| Mensch stürzt, der seine Arbeit verliert. Es geht darum, ein Beatmungsgerät | |
| zu verlieren in einem Land, in dem nicht etwa das Virus, sondern der | |
| Journalismus behandelt wird wie ein Krankheitserreger. | |
| Als die taz.gazete mir in solidarischer Absicht anbot, regelmäßig für sie | |
| zu schreiben, im Mai 2018, da hatte ich gerade 750 Tage in Haft hinter mir. | |
| Ich schrieb mit Kugelschreiber, und um ein erstes Feedback zu bekommen, | |
| warf ich die Blätter über Mauern und Stacheldraht in Nachbarzellen, damit | |
| die dortigen Insassen sie lesen und kommentieren konnten. Mit der Zeit | |
| bekam ich Briefe aus verschiedenen Ländern Europas, die mich ermutigten. | |
| Meine Angehörigen, meine Anwält*innen, ehemalige Haftgenoss*innen, die | |
| freigekommen waren, und anonyme Brieftauben halfen mir dabei, die Artikel | |
| nach Deutschland zu bringen und immer musste ich bei der Themen- und | |
| Wortwahl strengstens darauf achten, nichts zu schreiben, was die | |
| Anstaltsleitung für „bedenklich“ befinden und stoppen würde. Für mich | |
| bedeutet Journalismus in erster Linie, Stimme und Atem derjenigen zu sein, | |
| die sprichwörtlich kein Kissen haben, auf das sie ihren Kopf legen können. | |
| Taz.gazete war mir ein Kissen und ein donnerndes Sprachrohr. Sie half mir, | |
| die Hoffnung lebendig zu halten, dass ein politisch kontrolliertes | |
| Justizsystem nicht über unser Schicksal bestimmen kann. Nehmen Sie das | |
| nicht auf die leichte Schulter. Hoffnung ist im Knast wichtiger als Brot | |
| und Wasser. | |
| Ich möchte mich bei der taz-Familie und unseren Leser*innen bedanken für | |
| die wichtigste Unterstützung, die ich erfahren habe und hätte erfahren | |
| können. Ich wünsche Ihnen und euch alles Liebe und alles Gute. An euch geht | |
| weniger mein höfliches Dankeschön, als meine dankbare Anerkennung, dass ihr | |
| da wart. Ihr werdet mir fehlen. Ich verbleibe in Hoffnung und Widerstand. | |
| Nedim Türfent | |
| Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
| ## Die Schwierigkeit und Schönheit der Übersetzung | |
| taz.gazete war ein Projekt über Sprach- und Ländergrenzen hinweg. In zwei | |
| Sprachen aus zwei Ländern zu arbeiten war herausfordernd und schön. Vor | |
| allem aber war es viel Arbeit. Es bedeutete, dass eine Idee in | |
| verschiedenen Aggregatszuständen von Berlin nach Istanbul, Ankara oder | |
| Diyarbakır reiste und zurück. Dann begann das Ringen um die Wörter und die | |
| Halbsätze. Denn die Übersetzung erschöpft sich nicht im Blick ins | |
| Wörterbuch. Am Ende klafft immer eine Lücke. Und darin liegt die Schönheit. | |
| Es gibt semantische Verschiebungen und erklärungsbedürftige Begriffe, die | |
| im Deutschen leere Signifikanten sind, die ohne Kontextwissen nichts | |
| bezeichnen. | |
| Als Nicht-Muttersprachlerin, die erst mit Anfang 20 Türkisch gelernt hat, | |
| hat mich diese Lücke immer fasziniert, denn in ihr tat sich eine neue Welt | |
| der Bedeutungen auf. Manches kann man in einer Sprache mit nur einem Wort | |
| ausdrücken, in der anderen gibt es kein Wort dafür, zum Beispiel Fernweh | |
| oder kolay gelsin (am ehesten: Frohes Schaffen). Bei anderen Wörtern geht | |
| die Bedeutungstiefe in der Übersetzung verloren oder der Klang. Im | |
| Türkischen muss niemand erklären, was der 12. September bedeutet. Das | |
| türkische Wort mücadele ist politisch links konnotiert und taucht in jedem | |
| Text über die politischen Kämpfe von Frauen, Gewerkschaften und LGBTI auf. | |
| Das deutsche Äquivalent Kampf verwenden wir ungern im Singular. | |
| Das mag trivial klingen, ist es aber nicht. Das Nachdenken über die | |
| Bedeutung von Wörtern in zwei Sprachen weitet den Blickwinkel. Das richtige | |
| Wort zu finden ist politisch. Wer übersetzt, weiß, dass es immer mindestens | |
| zwei Perspektiven gibt. Und hinterfragt, was schnell über die Lippen kommt. | |
| Das Redigat warf unzählige Fragen auf. Was verstehen die Leser*innen, was | |
| nicht? Was weiß die gazete-Redaktion in Berlin über die Atmosphäre in der | |
| Türkei? Welche Rolle nehmen wir als Redakteur*innen ein? Die | |
| Auseinandersetzung mit den Texten zeigte, dass es nicht nur eine gültige | |
| Form von Journalismus gibt und dass Berichterstattung wesentlich von | |
| Arbeitsbedingungen geprägt wird. Und die waren in der Türkei fundamental | |
| andere als in unserem bequemen Büro in Berlin. | |
| taz.gazete wollte solidarisch mit den Kolleg*innen in der Türkei sein, | |
| kritischen Stimmen Raum geben und neue Perspektiven auf die politischen und | |
| gesellschaftlichen Ereignisse zwischen Deutschland und der Türkei eröffnen. | |
| Ich glaube, in den besten Momenten ist uns das gelungen, in anderen sind | |
| wir daran gescheitert. gazete war ein Experiment, bei dem ich viel gelernt | |
| habe – gerade auch im Scheitern. Das lag an einem diskussionsfreudigen und | |
| stets solidarischen Team und an Kolleg*innen in der Türkei, vor deren | |
| Arbeit ich großen Respekt habe. Was von gazete bleibt, ist, dass wir für | |
| eine Zeitlang einen kleinen Unterschied gemacht haben. Zumindest hoffe ich | |
| das. | |
| Elisabeth Kimmerle | |
| ## Die Zukunft des Journalismus ist transnational | |
| Vor ein paar Wochen haben in Wien türkeistämmige Rechtsextreme ein linkes | |
| Kulturzentrum angegriffen. Zum Glück waren die Türen des | |
| Ernst-Kirchweger-Hauses gut verriegelt. Schlimmeres konnte verhindert | |
| werden. Zuvor hatten jene Rechtsextremen eine Demonstration von | |
| kurdischstämmigen und anderen Linken angegriffen. | |
| In den Tagen danach waren österreichische Zeitungen voll mit Texten über | |
| einen „Türken-Kurden-Konflikt“. Nicht nur der Boulevard blieb der Idee | |
| verhaftet, dass dieser Gewaltausbruch im migrantischen Bezirk Favoriten | |
| seine Ursprünge allein in der Türkei, nicht aber in Österreich habe. | |
| Wien-Favoriten wurde zum Symbol eines importierten Konflikts. Was für ein | |
| Denkfehler. | |
| Nachdem die Leitartikel und Reportagen gedruckt waren, meldete sich der | |
| Wiener Politologe Ilker Ataç mit einer [1][Analyse zu Wort]. Sein Argument: | |
| Weil wir Politik in einer vernetzten, mobilen, transnationalen Welt immer | |
| noch national denken, schaffen wir es nicht, zu verstehen, was wirklich | |
| passiert ist. Nicht nur waren an den Auseinandersetzungen ohnehin in | |
| Österreich geborene Menschen beteiligt. Der „Türken-Kurden-Konflikt“ hat | |
| seine Wurzeln auch in einer jahrzehntelangen autoritären Haltung eines | |
| türkischen Staates, der Teil einer politisch-ökonomischen Weltgemeinschaft | |
| ist; und der auch deshalb in Wien ausbricht, weil europäische Staaten diese | |
| Haltung seit jeher tolerieren, um eigene Interessen zu sichern. Auch | |
| Österreich. Auch Deutschland. | |
| Was hat das alles mit taz.gazete zu tun? Sehr viel. taz.gazete hat genau | |
| das gemacht, was Ataç vermisst: Politik nie als rein „türkische“ oder | |
| „deutsche“ Politik begriffen, sondern in transnationalen Zusammenhängen | |
| gedacht, diskutiert, berichtet: das europäisch-türkische | |
| Flüchtlingsabkommen und das damit gefestigte Grenzregime; der neue | |
| Istanbuler Flughafen, auf dem auch deutsche Unternehmen mit großen Profiten | |
| mitmischen; Parlamentswahlen in beiden Staaten, vor denen mit | |
| diplomatischen Eskalationen mobilisiert wurde; ein Putschversuch in der | |
| Türkei und der darauffolgende Exodus nach Deutschland; oder der Rassismus, | |
| der immer noch die Lebensrealität derer prägt, deren Eltern einst als | |
| Gastarbeiter:innen nach Deutschland kamen. | |
| Gewissermaßen hat taz.gazete damit einen Vorgeschmack auf den Journalismus | |
| der Zukunft gegeben, von dem immer alle reden. Denn dieser wird nicht nur | |
| digital, sondern auch transnational, vielleicht postnational. Nicht weil | |
| sich das cool anhört. Sondern weil das Nationale an Bedeutung verliert. So | |
| hat sich taz.gazete eingereiht in die Geschichte reger migrantischer | |
| Publikation in Deutschland. Und wie viele andere vor ihr findet nun auch | |
| taz.gazete ein Ende. Möglicherweise waren wir der Zeit einfach ein bisschen | |
| voraus. Möglicherweise werden wir noch ein paar weitere Jahre von | |
| importierten Konflikten lesen. | |
| Volkan Ağar | |
| ## Ein kurzer Atemzug | |
| „In Berlin hat niemand einen richtigen Job.“ Ich war verblüfft, als ich | |
| diesen Satz von einer Person aus Istanbul hörte. So sieht das also von | |
| außen aus. Dabei ist es für Menschen mit türkischem Pass ziemlich | |
| unmöglich, in Deutschland auch nur zu atmen, ohne „richtig“ zu arbeiten. | |
| Wer nicht per Familienzusammenführung gekommen ist, hängt mit seiner | |
| gesamten Existenz an der Erwerbstätigkeit. Migrant*innen sind so viel wert, | |
| wie sie dem Staat an Einnahmen bringen. Wer Steuern zahlt, lieb und brav | |
| ist, weder straffällig wird noch mit dem rassistischen Chef streitet und | |
| seinen Job verliert, bekommt die Aufenthaltserlaubnis um ein Jahr | |
| verlängert. Bei der Verlängerung muss man mit einer Reihe von Fragen | |
| rechnen. Eine Gehaltsabrechnung ist vorzulegen, aber ist das nicht etwas | |
| wenig, Frau Tetik? Also, ich hab noch nie einen Journalisten gesehen, der | |
| so wenig verdient wie Sie, haha. | |
| Ein Arbeitsvertrag ist für eine Migrantin in Deutschland zugleich ein | |
| Nachweis über Abschiebehindernisse. Im Zweifelsfall ist er das einzige | |
| Dokument, das verhindern kann, dass dich jemand aus dem Leben herausreißt, | |
| das du dir aufzubauen versuchst. Mobbing am Arbeitsplatz? Lieber nicht | |
| wehren, es gibt viele andere Migrant*innen, die gerne deine Stelle | |
| hätten. Rassismus erlebt? Lächeln und durch. Du bist in einer überwiegend | |
| männlichen Abteilung und wirst andauernd belästigt? In der | |
| Personalabteilung wird man dein Deutsch nicht verstehen oder zumindest so | |
| tun, als ob, also beschwer dich lieber erst gar nicht. Sei frustriert, aber | |
| mach dir nichts draus. Egal. Hauptsache, du hast deinen Vertrag. | |
| Migrant*innen machen nicht die Arbeit, die sie mögen, sondern den Job, den | |
| sie kriegen. Für Menschen, deren Muttersprache Türkisch und deren Beruf das | |
| Schreiben ist, sind selbst in einer Stadt wie Berlin die | |
| Arbeitsmöglichkeiten sehr beschränkt. Für Journalist*innen, | |
| Wissenschaftler*innen und Autor*innen, die aus der Türkei fliehen | |
| mussten, ist es kaum möglich, hier ihren Lebensunterhalt mit Texten auf | |
| Türkisch zu verdienen. | |
| Deshalb war es eine Überraschung und ein Privileg, dass sich mein Weg mit | |
| dem der taz.gazete kreuzte. gazete war ein Projekt, das in einem Land mit | |
| so vielen Migrant*innen wahrscheinlich längst überfällig war. Für ein von | |
| Anfang an befristetes Projekt lief es sogar ziemlich lange. Aber wenn man | |
| sich den bestehenden Bedarf anschaut, war es nicht mehr als ein kurzer | |
| Atemzug. Einen Atemzug lang hat taz.gazete für viele Menschen, die von | |
| Deutschland oder von der Türkei aus weiter sprechen, weiter schreiben, | |
| weiter erklären wollten, einen Raum eröffnet. Es gab Platz für Frauen und | |
| LGBTI+, die als eigenständige Subjekte für sich selbst sprechen konnten. | |
| Hier war ich Teil einer Arbeit, die ich mochte, nicht nur einer, die ich | |
| kriegen konnte. Dieses Privileg konnte mir Deutschland nicht nehmen. Es | |
| gibt nämlich Dinge, die sind größer und wichtiger als ein Vertrag. | |
| Burçin Tetik | |
| Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
| ## Wer schreibt worüber? | |
| Die Situation der Pressefreiheit in der Türkei war seit jeher schwierig. | |
| Nach dem Putschversuch 2016 spitzte sich die Lage für regierungskritische | |
| Journalist*innen erneut zu. Viele migrierten nach Deutschland, und zum | |
| Jahreswechsel 2017 entstanden mehrere deutsch-türkische Nachrichtenportale. | |
| Als Journalistin verfolgte die Autorin dieses Textes wie andere | |
| Medienschaffende mit familiären Wurzeln in der Türkei besonders seit den | |
| Gezi-Protesten 2013 die politischen Ereignisse in dem Urlaubsland an der | |
| EU-Grenze. So brauchte es keine große Überzeugungsarbeit, als die | |
| Ideenmutter des Projektes, Fatma Aydemir, mich anfragte, an diesem | |
| bilingualen Experiment mitzuarbeiten. | |
| Die zwei Jahre bei gazete waren eine aufregende Zeit. Noch nie war | |
| redaktionelle Arbeit so empowernd, aber auch so herausfordernd. Von der | |
| anfangs mehrheitlich weiblichen Zusammensetzung des Teams über die | |
| alternative Themenwahl zur immerwährenden redaktionellen Aufgabe der | |
| kulturellen Übersetzung – in jeglicher Hinsicht war gazete das Gegenteil | |
| von allem, was Redakteur*innen aus weißen deutschen Mehrheitsredaktionen | |
| kennen. Sich im Team über die Tweets von wütenden AKP-Politikern zu | |
| amüsieren, ohne umständlich übersetzen zu müssen, war befreiend. Umso | |
| beklemmender, wenn wir intern und extern die selten subtile | |
| Erwartungshaltung an eine „Türkenredaktion“ diskutieren und folkloristische | |
| Klischeethemen abmoderieren mussten. | |
| Eine der interessantesten Erfahrungen war aber, dass Machtstrukturen und | |
| Privilegien immer gleich funktionieren. Während in Berlin die | |
| gazete-Redaktion Metadiskussionen über strukturellen Rassismus führte und | |
| sich über die Feinheiten von Übersetzung und Redigat kloppte, berichteten | |
| Kolleg*innen von Istanbul bis Kurdistan unter Lebensgefahr, zumindest aber | |
| unter drohendem Freiheitsentzug über Repressionen und | |
| Menschenrechtsverletzungen. | |
| Die Erfahrung, plötzlich privilegiert und deutsch gelesen zu werden, | |
| ausgedrückt im vermeintlichen Kompliment „Du sprichst aber gut x“ sowie dem | |
| Vater aller rassistischen Fragen, „Wo kommst du her“, nun auch vonseiten | |
| der weißen türkischen Mehrheitsgesellschaft (das hartnäckige Klischee der | |
| ungebildeten anatolischen Bauern und ihrer Nachkommen hält sich nicht nur | |
| in Deutschland), kann irritieren. Es schärft aber auch den Blick für andere | |
| Debatten. | |
| Die Diskussion darüber, wer wie warum worüber schreibt, ist ein dauerhaftes | |
| Reizthema. Projekte wie gazete zeigen, dass der Anspruch vermeintlicher | |
| journalistischer Objektivität frei von Erfahrungen und politischer Haltung | |
| ein Ammenmärchen ist, das vor allem die besonders Privilegierten unter uns | |
| sich erzählen. Kein*e Journalist*in ist im luftleeren Raum geboren. Wer | |
| atmet und denkt, hat eine Haltung. Im Idealfall weiß mensch, welche. | |
| Journalismus braucht Haltung. Solidarität ist eine Haltung. gazete ist | |
| Solidarität. | |
| Canset İçpınar | |
| ## Die Zeit ist um | |
| Im Sommer 2016 lernte ich in einer Bar in Beşiktaş Deniz Yücel kennen. Ich | |
| erzählte ihm von meinen Plänen, zwei Monate als Gastjournalist bei der taz | |
| zu arbeiten, und er riet mir, mich weder still in eine Ecke zu setzen noch | |
| mit der Tür ins Haus zu fallen. Aus den zwei Monaten sind vier Jahre | |
| geworden und ich hab es nicht geschafft, mich an diese Empfehlungen zu | |
| halten. | |
| Am 4. Oktober 2016 war mein erster Arbeitstag bei der taz. Zur Begrüßung | |
| sollte ich direkt einen Kommentar zu zehn Jahren Wikileaks schreiben. So | |
| richtige Ahnung hatte ich weder vom Thema noch vom Format, und entsprechend | |
| kritzelte ich mir etwas zusammen. Am ersten Arbeitstag. Was für ein | |
| Privileg. In jedem Fall war schon mal klar, dass ich nicht still in einer | |
| Ecke sitzen würde. Ich konnte es kaum glauben, als ich am nächsten Morgen | |
| meinen Namen auf der Titelseite erblickte. | |
| In der Türkei hingegen wurde die Lage sehr schnell sehr beschissen. Das | |
| ging mit einem riesigen Interesse an Nachrichten aus dem Land einher. Ganz | |
| Deutschland schien seine Augen auf die Türkei gerichtet zu haben. Was hatte | |
| Erdoğan vor? Wohin entwickelte sich das Land? Im November wurden meine | |
| Kolleg*innen von der Tageszeitung Cumhuriyet, bei der ich in Istanbul | |
| gearbeitet hatte, festgenommen. Daraufhin initiierte die taz Panter | |
| Stiftung ein Projekt zur Unterstützung der Pressefreiheit in der Türkei. So | |
| kam es zur Gründung von taz.gazete. | |
| Während die Türkei sprichwörtlich täglich von neuen politischen Ereignissen | |
| erschüttert wurde, fand ich mich in Berlin in der Position des | |
| „Türkeiexperten“ wieder. Ich schrieb Artikel und Kommentare und saß auf | |
| Panels, um die Lage in der Türkei für ein deutschsprachiges Publikum zu | |
| bewerten. Dabei lernte ich mein journalistisches Handwerkszeug noch einmal | |
| von Neuem. Da mir die Sprache und die gesellschaftlichen Dynamiken | |
| Deutschlands sowie der Redaktionsalltag und der journalistische Stil | |
| deutscher Medien fremd waren, war der Glaube daran, dass wir hier etwas | |
| Gutes und Richtiges machten, umso wichtiger, um die unvermeidlichen Mängel | |
| auszugleichen. Ich war schließlich nicht alleine: Wir waren ein gutes Team | |
| bei gazete und wir machten unsere Arbeit gerne. Fast täglich fragte die | |
| Printredaktion bei uns einen Artikel an. Bis ins erste Halbjahr 2018 | |
| schlitterten wir so mit viel Elan und Freude. | |
| Der Juni 2018 war für uns ein Wendepunkt. Das war kurz vor den | |
| Präsidentschaftswahlen, die nicht nur für die Demokratie in der Türkei, | |
| sondern auch für das öffentliche deutsche Interesse der Sargnagel werden | |
| sollten. Wir bemühten uns, mit allen Kandidatinnen und Kandidaten | |
| Interviews zu machen, und das führte zu einem Konflikt mit dem erfahrenen | |
| Türkeikorrespondenten der taz. Die Folgen waren für uns verheerend. Es | |
| wurde deutlich, dass wir nie wirklich ein Teil der taz gewesen waren. | |
| Zwar hatten wir über eineinhalb Jahre hinweg mit Hunderten von Artikeln zu | |
| einer tieferen Türkeiberichterstattung der taz beigetragen, doch plötzlich | |
| wurde uns klargemacht, dass wir ein Satellitenprojekt waren, das kaum | |
| jemanden im Haus so richtig interessiert. Und die Türkei lag jetzt in der | |
| Schublade der autokratischen Länder neben Russland und China. Da brauchte | |
| es auch keine besondere Aufmerksamkeit oder spezielle Themenschwerpunkte | |
| mehr. Unsere Telefone klingelten nicht mehr. Unsere E-Mails blieben | |
| unbeantwortet. Wenn wir uns besonders bemühten, einen Artikel in der | |
| Printausgabe unterzubringen, dann führte das zu neuen und aufreibenden | |
| Konflikten. Jede neue Diskussion machte uns klarer, in welcher Position wir | |
| uns befanden: Unser Zeitkonto war aufgebraucht. Wir hatten wie ein | |
| Subunternehmer gearbeitet, und jetzt war der Vertrag abgelaufen. | |
| Wie Gespenster liefen wir über die Korridore. Schweigend saßen wir an | |
| unseren Arbeitsplätzen und arbeiteten an Themen, die niemand zu sehen | |
| bekam. Trotzdem gab es keinen Tag, an dem ich morgens nicht gern zur Arbeit | |
| gekommen wäre. Denn unser Daseinsgrund war die Arbeit mit den | |
| Journalist*innen in der Türkei, und darauf konzentrierten wir uns. | |
| Natürlich hatten auch wir unseren Teil zu der Entfremdung beigetragen. Die | |
| Erkenntnis, dass unsere Arbeit nicht wertgeschätzt wurde, war ermüdend, und | |
| so ganz geht mir der Satz nicht über die Lippen, dass wir immer unser | |
| Bestes gegeben haben. Aber wir haben gern miteinander gearbeitet. Und wir | |
| waren überzeugt, dass unsere Arbeit wichtig ist. Wir haben mit tollen | |
| Menschen zusammengearbeitet. Wir haben einander unterstützt und voneinander | |
| gelernt. Deshalb weiß ich jetzt schon, dass ich im Rückblick kaum etwas als | |
| Dankbarkeit spüren werde, dass es dieses Projekt gab und dass ich an ihm | |
| mitarbeiten durfte. | |
| Ali Çelikkan | |
| Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
| ## Berlin statt Toronto | |
| 2016 war für mich ein sehr schweres Jahr in Istanbul. Ich hatte kein Geld | |
| und keine Arbeit, dafür viel Angst und sorgte mich um meine Sicherheit. | |
| Nach dem Putschversuch war das Leben für mich als oppositionelle | |
| Journalistin immer schwerer geworden. Also wollte ich Istanbul verlassen | |
| und nach Kanada gehen. Eine Kollegin wollte mir helfen, aus dem Land zu | |
| kommen. Da schlug die in Deutschland lebende feministische Journalistin | |
| Sibel Schick mich für das zweisprachige Medienprojekt taz.gazete vor. Als | |
| mich dann die damals federführende feministische Journalistin Fatma Aydemir | |
| anrief und fragte: „Willst du für uns arbeiten?“, habe ich, ohne zu zöger… | |
| zugesagt. Alles ist Kismet, und so bin ich statt in Toronto in Berlin | |
| gelandet. | |
| Ich habe mich für Berlin entschieden, weil ich die Möglichkeit bekommen | |
| sollte, an einem großen Medienprojekt mitzuarbeiten. taz.gazete war für | |
| mich eine gute Gelegenheit, die deutsche Medienbranche kennenzulernen und | |
| meine journalistischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Und ich habe viele | |
| bezaubernde Menschen kennengelernt. Drei wunderbare Frauen, mit denen ich | |
| bei taz.gazete gearbeitet habe, haben mich persönlich sehr weitergebracht: | |
| Fatma, Elisabeth und Ebru. Ihnen verdanke ich unglaublich viel. | |
| Aber es gibt natürlich auch Sachen, die mich geärgert haben. Die anderen | |
| Personen, die in der türkischen Redaktion arbeiten, hätten auch mir eine | |
| feste Stelle schaffen können. Das hat leider nie geklappt. Immer war ich | |
| die, die regelmäßig Artikel von außen geschickt hat. Wenn ich einen Vertrag | |
| bekommen hätte, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Vielleicht wäre | |
| mir viel Leid erspart geblieben. Aber so wollte es das Schicksal | |
| anscheinend. Zuallerletzt will ich noch allen taz.gazete-Leser*innen aus | |
| tiefstem Herzen danken. Trotz des bitteren Beigeschmacks der letzten | |
| Seiten von taz.gazete sende ich Ihnen die liebsten Grüße. Leben Sie wohl. | |
| Michelle Demischevich | |
| Übersetzung: Julia Lauenstein | |
| ## Das verstehen die Deutschen nicht | |
| In der Zeit, in der ich für taz.gazete berichtet habe, bekam ich aus der | |
| Redaktion in Berlin einen Satz besonders häufig zu hören: „Das verstehen | |
| die Deutschen nicht.“ Das ist regelrecht zum Motto unserer Arbeit geworden. | |
| Bei jeder Zeile meiner Texte habe ich mich gefragt: „Ist das wohl auch | |
| unverständlich?“ Es war ziemlich nervenraubend, jeden Satz, den ich | |
| geschrieben hatte, in einem weiteren Absatz erklären zu müssen. So war es | |
| auch nie leicht, zum eigentlichen Punkt zu gelangen und gleichzeitig die | |
| vorgegebene Textlänge einzuhalten. Während man in der Türkei einfach | |
| „FETÖ-Prozess“ schreiben kann, muss man hier den Zusammenhang mit dem | |
| Putschversuch am 15. Juli 2016 und die verschiedenen Bündnisse der AKP der | |
| letzten Jahrzehnte erklären. Diese Umständlichkeit, die mich am Anfang so | |
| genervt hat, hat mir jedoch geholfen, einen anderen Blickwinkel zu | |
| gewinnen. Während es für mich ganz normal erschien, „Istanbul-Konvention“ | |
| oder „Paragraf 6284“ zu schreiben, ist mir beim genaueren Erläutern | |
| aufgefallen, wie wichtig diese Erklärungen sind, die dafür gedacht waren, | |
| dass „die Deutschen es verstehen“. | |
| Wenn ich über gesellschaftliche Traumata wie das der Cumartesi Anneleri | |
| (Samstagsmütter) geschrieben habe, habe ich bemerkt, wie dieser Schmerz in | |
| der Gewaltspirale zur Normalität wird. Mir ist bewusst geworden, wie leicht | |
| wir in einer Gesellschaft, in der jeder Begriff und jede Idee politisch so | |
| aufgeladen ist, beim Sprechen und Schreiben viele Sachen hinnehmen, ohne | |
| das Gemeinte wirklich zu begreifen. | |
| In dieser Hinsicht war die Arbeit für taz.gazete eine einzigartige | |
| Erfahrung. Sie hat uns geholfen von unseren Problemen und Krisen zu | |
| berichten, wie es ihnen gebührt. Und weil es noch so viele Geschichten | |
| gibt, die erzählt werden wollen, ist der Abschied schwierig. Ich wünsche | |
| allen tazler*innen, die Sprachrohr unserer Probleme geworden sind, alles | |
| Gute. | |
| Elif Akgül | |
| Übersetzung: Julia Lauenstein | |
| ## Andere Stimmen aus der Türkei | |
| Durch taz.gazete bin ich Teil einer Reise zwischen Berlin und Istanbul | |
| geworden. Die gemeinsamen zwei Monate in Berlin haben mir die Mühe gezeigt, | |
| die nötig ist, um Nachrichten aus der Türkei in Deutschland verständlich zu | |
| machen. Als ich nach Istanbul zurückgekehrt bin und auch eine „arbeitslose“ | |
| Journalistin wurde, konnte ich auf taz.gazete weiterhin meine Artikel | |
| veröffentlichen. Das Projekt war wichtig, weil es solidarisch mit | |
| Journalist*innen aus der Türkei war und einen Raum schuf, in dem sie sich | |
| frei äußern konnten. Außerdem denke ich, dass gazete dazu beigetragen hat, | |
| dass in Deutschland andere Stimmen aus der Türkei gehört wurden. In einer | |
| Zeit, in der von Pressefreiheit keine Rede sein kann und sich die | |
| Arbeitsbedingungen von Journalist*innen weiter verschlechtern, ist dieser | |
| Abschied besonders traurig. Denn gerade jetzt sind Plattformen wie | |
| taz.gazete unglaublich wichtig. Ich danke dem ganzen taz.gazete-Team für | |
| seine Arbeit. Viel Glück euch allen. | |
| Beyza Kural | |
| Übersetzung: Julia Lauenstein | |
| ## | |
| 31 Jul 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.derstandard.de/story/2000118617172/nationalistischer-ausgrenzun… | |
| ## AUTOREN | |
| taz.gazete | |
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