# taz.de -- Das Wunder von Bern | |
> Am 4. Juli jährt sich zum 40. Mal die Gründung der BRD durch einen | |
> Fußballsieg im Wankdorf-Stadion ■ Von Bernd Gäbler | |
„Zum ersten Mal wieder so richtig am Ball, kurz gedribbelt am rechten | |
Flügel, Helmut Rahn, Flachschuß ins linke Eck – und – Weltmeister! Wir. Da | |
waren wir natürlich wieder wer,“ so paßgerecht legten sich ballverliebte | |
Zeitgeschichtler noch zum zwanzigsten Jubiläum des ersten deutschen finalen | |
Sieges der Nachkriegszeit die spielentscheidende Wahrheit zurecht. Jetzt, | |
mit größerem historischen Abstand, soll genauer hingeschaut werden auf den | |
Tag, der allen Konkurrenzdaten deutschen Erinnerns überlegen ist. Die | |
Wirklichkeit des sich zum vierzigsten Mal jährenden 3:2 sah so aus: Der Weg | |
nach rechts war versperrt. Ein Trick, das Leder rollt nach links (!). Mit | |
dem linken (!) Fuß zieht Rahn ab, ins linke (!) untere Eck. | |
Wie alle, die über die „nahtlose Übereinstimmung von Fußball und Politik“ | |
bisher nachdachten, folgt auch Arthur Heinrich in seinem Buch „Tor! Toor! | |
Tooor!“ der Prämisse, daß Fußball selbstverständlich mehr ist als bloß | |
Fußball und daß ein Spiel natürlich länger dauert als neunzig Minuten. | |
Gründlich hat er die Quellen, insbesondere die zeitgenössische Presse, auf | |
Signale für die Befindlichkeit der endlich wieder triumphierenden Deutschen | |
abgeklopft und ist natürlich auf genügend Anhaltspunkte für die bisher bei | |
kritischen Menschen stets dominierende Kontinuitätsthese gestoßen, die im | |
massenhaften befreiten Jubel der Deutschen vor allem ein nationalistisches | |
Wir-sind-wieder- wer-Gefühl, eine Revanche für die Niederlage von 1945 | |
erblickte. | |
Ja, da brüllten deutsche Menschenmassen, die in dieser Zahl erst zu Beginn | |
der achtziger Jahre durch die Friedensbewegung wieder mobilisiert wurden, | |
entfesselt „Deutschland, Deutschland über alles“, da hielt der DFB-Chef | |
Peco Bauwens beim Empfang der Weltmeister in München jene unsägliche Rede | |
mit der Anrufung von Wotan und Führerprinzip, da fällt den Reportern zur | |
Beschreibung deutscher Fußballtugenden und rauschhafter Begeisterung kaum | |
mehr ein als der Rückgriff auf die Sprachschablonen des Faschismus und da | |
ist wieder das selbstgefällige Sonderbewußtsein von der Selbstbehauptung | |
der Außenseiter inmitten einer bedrohlichen und mißgünstigen Umwelt. | |
Aber mit diesen Auskünften begnügt sich der Autor nicht. Heinrich sieht im | |
3:2 von Bern nicht ausschließlich einen Rückspielsieg für Niederlagen | |
anderen Kalibers. Die Helden von Bern, die erstmals die Bevölkerung mit dem | |
Weststaat versöhnten, so die zentrale These des Buches, haben auch ein | |
Auftaktmatch für die neue Wirklichkeit gewonnen. Alte Überheblichkeit | |
paarte sich mit dem Aufbruch zu neuer Stabilität. Das 3:2 gehört zu den | |
Beständen der Bonner Republik. Gerade weil der Weg über rechtsaußen | |
verstopft war, konnte das neue Selbstbewußtsein kanalisiert werden zu einer | |
Mischung aus stabiler Abwehr und kontrollierter Offensive. Schon der | |
Qualifikationsweg über das Saarland und später Österreich glich einem | |
kleindeutschen Bußgang. | |
„Welche Art von Begeisterung haben wir denn noch auf Lager, wenn etwa die | |
Einigung Deutschlands kommt oder der Weltfriede oder etwas dergleichen?“, | |
so mahnte nicht nur die Süddeutsche Zeitung damals zur Nüchternheit. | |
Ängstlich wurden Sport und Politik getrennt, und die Bonner | |
Spitzenpolitiker hielten sich zaudernd auf Distanz, die fast rührend | |
anmutet, wenn man sich vor Augen hält, wie Kohl später einen Rummenigge | |
selbst zur Vizeweltmeisterschaft fast erwürgte. Fritz Walter propagierte | |
statt Nationalismus Pfälzer Lokalpatriotismus, und selbst „der Chef“ Sepp | |
Herberger zählte außer der Kameraderie auch die Freiheit des spielerischen | |
Individuums zu den Tugenden seiner „Männer“. Analog zum Wirtschaftswunder | |
wurde nach dem Sieg das „Wunder von Bern“ zunehmend auf Leistung | |
zurückgeführt. Am Abend des 4. Juli konnten sich die Wiederaufbau-Autisten | |
erstmals wieder gemeinschaftsgefühlig in den Armen liegen. | |
Neu war, daß sie das alles überlagernde Materielle vorbehaltlos | |
anerkannten. Daß „unsere Jungs“ für ihr Tun schlecht entlohnt wurden, | |
gehörte zu einem Konsens, der schon auf den Abschluß der Phase | |
unmittelbarer Nachkriegswirren hinwies. Tausende, die zum Empfang des | |
Weltmeistersonderzugs brav ihre Bahnsteigkarten lösten, sammelten Geld, um | |
insbesondere Fritz Walter im Land zu halten. Die D-Mark wurde ins neue | |
Selbstwertgefühl, das vom steilen Wiederaufstieg und dem Ende des | |
internationalen Banns zeugte, integriert. In Sachen Demokratie konnte man | |
so auf Zeit spielen. | |
Im Namen der Deutschen siegte die Bundesrepublik, die faktisch den Bonner | |
Alleinvertretungsanspruch durchsetzte. Chancenloser Verlierer von Bern – so | |
Heinrich – war die DDR, die vergeblich zwischen gesamtdeutschem Auftrag, | |
Stärkung des Arbeiter- und Bauernstaates und Freundschaft zum ungarischen | |
Bruder jonglierte. Betonte man dort anläßlich schwacher Vorrundenspiele | |
noch, wie sehr das westdeutsche Kollektiv etwa durch Busch (Chemie | |
Leipzig), Eilitz (ZSK Vorwärts) oder Jochen Müller (Turbine Erfurt) zur | |
wahren Nationalmannschaft gestärkt werden könnte, verlegte man sich nach | |
dem deutschen Triumph des westdeutschen Separatstaates ausschließlich auf | |
übles Nachtreten. Der Sieg sei nur durch das langfristig angelegte | |
hinterhältige Foul des westdeutschen Stoppers gegen Major Puskas in der | |
Vorrunde möglich geworden. | |
So wurde ausgerechnet die Identifikationsfigur Werner Liebrich als | |
Ausgeburt der Amerikanisierung identifiziert, die den sauberen Fußball | |
durch amerikanische Brutalität zerstört habe. Im Angesicht der ersten | |
gesamtdeutschen Massenbewegung stand die DDR rettungslos im Abseits. Sie | |
erleichterte die Gründung der Bundesrepublik im Wankdorf-Stadion zu Bern. | |
9 Jun 1994 | |
## AUTOREN | |
bernd gäbler | |
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