Introduction
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# taz.de -- Das Ende der Angst
> VIRUS Wolfgang Kohl erlebte Aids als Epidemie, die ihm seine Freunde
> nahm. Für Marco Erling ist HIV eine gut behandelbare Krankheit. Positive,
> die Tabletten nehmen, können selbst ohne Kondom niemanden mehr anstecken.
> Muss man da Aids noch fürchten?
VON JÖRG SCHMID UND LUISE STROTHMANN
Im Sommer 1982 blättert Wolfgang Kohl auf die Seite 187 des Magazins Der
Spiegel. Dort sieht er ein Foto zweier Männer mit Sonnenbrillen. Einer hat
ein Band um die Stirn gebunden und lehnt sich gegen die Brust des anderen.
Darunter steht: „Homosexuelle in den USA: Abwehrschwäche durch Hasch?“ Im
Text daneben mutmaßt ein Forscher, das Marihuana, das viele Schwule
rauchten, würde ihr Immunsystem angreifen. Vielleicht auch Cortisonsalben,
die Männer mit wechselnden Partnern benutzten, um verletzte Schleimhäute
schneller heilen zu lassen.
Der Text handelt von einer rätselhaften Krankheit, von der offenbar vor
allem Amerikas Homosexuelle betroffen sind. Männer zwischen 25 und 30
würden mit bräunlich-blauen Flecken auf der Haut in die Krankenhäuser
eingeliefert. Viele sterben.
Wolfgang Kohl ist 21 Jahre alt, als der Artikel erscheint. Er hat das Heft
von einem schwulen Freund in Freiburg zugesteckt bekommen. Wenn es sich
unter Männern verbreitet, muss es etwas mit Sex zu tun haben, überlegt
Kohl. Angst hat er keine. Die USA sind weit weg. Er weiß noch nicht, wie
schnell das, was ein Professor in dem Text „Lustseuche“ nennt, näher kommen
wird.
Thorsten Winkler ist 13 Jahre alt, als der Artikel erscheint. Er besuchte
eine Polytechnische Oberschule in einem Ort in Brandenburg, der damaligen
DDR. Den Spiegel gibt es dort nicht und Politiker werden noch Jahre später
behaupten, dass es die geheimnisvolle Krankheit aus dem Westen ebenfalls
nicht gibt.
Marco Erling ist gerade ein Jahr alt, als der Artikel erscheint. Er wächst
in einer Familie auf, in der offen über Sex gesprochen wird. Vielleicht
nehmen sich seine Eltern damals schon vor, ihrem Sohn eines Tages
unverkrampft aufzuklären.
Fast dreißig Jahre später, im Sommer 2011, erscheint in einem
US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin eine Studie mit dem Titel
„Prävention von HIV-1-Infektionen mit antiretroviraler Frühtherapie“. Sie
wird als wissenschaftlicher Durchbruch des Jahres gefeiert. Das Ergebnis:
Wenn ein Mensch mit HIV in Behandlung ist und die Zahl der Viren durch die
Medikamente über ein halbes Jahr so gering, dass sie nicht mehr nachweisbar
sind, kann dieser Mensch praktisch niemanden mehr infizieren. Die
Wahrscheinlichkeit, sich beim Sex ohne Kondom mit einem HIV-Infizierten in
Therapie anzustecken, ist statistisch niedriger als beim geschützten Sex
mit jemandem, von dem man nicht weiß, ob er infiziert ist.
Mehr als drei Jahrzehnte sind vergangen, seit Aids bekannt wurde. Am Anfang
schien die Krankheit rätselhaft, weit weg. Dann rückte sie bedrohlich nahe.
Wird sie jetzt beherrschbar?
Wolfgang Kohl, 53, Sozialarbeiter, leitet heute ein betreutes Wohnen für
HIV-Positive und Menschen mit Aids. Die Zeiten, in denen er jede Woche auf
mindestens einer Beerdigung war, sind vorbei. Trotzdem würde er niemals
ungeschützten Sex haben.
Thorsten Winkler, 45, Veranstaltungstechniker, ist HIV-positiv und mit
einem Mann zusammen, der nicht infiziert ist. Sein Freund will ihn schon
seit einiger Zeit überreden, das Kondom mal wegzulassen.
Marco Erling, 33, gelernter Koch, benutzt nie Kondome. Eine bewusste
Entscheidung. Er ging das Risiko ein, sich anzustecken.
Drei schwule Männer, die sich ähnlich sind. Sie leben gern in Berlin, haben
viel Sex, auch mit Menschen, die sie kaum kennen. Sie setzen sich mit HIV
auseinander, haben alle ehrenamtlich in dem Bereich gearbeitet. Aber sie
wurden zu unterschiedlichen Zeiten geboren – und damit in unterschiedlichen
Welten.
Die Welt des alten Aids, an dem man jämmerlich stirbt. Die Welt des neuen
Aids, das gar nicht erst ausbricht, mit HIV als chronischer Erkrankung –
irgendwie nervig, aber behandelbar. Und die Welt dazwischen.
Wie viel Respekt muss man noch vor dieser Krankheit haben? Die drei denken
darüber sehr verschieden.
## Sex ohne Kondom – oder gar keinen Sex?
Ein Wintertag im Stadtteil Prenzlauer Berg, Marco Erling kommt im dunklen
Mantel ins Café. Er trägt Brille und Kinnbart und wirkt wie jemand, der in
der Schule in der Schach-AG gewesen sein könnte. Schüchtern im Auftritt,
aber sicher im Denken.
Er war 17, als er beschloss, keine Kondome zu benutzen. Er sagt: „Ich hatte
alle Infos und traf daraufhin meine Entscheidung.“
Er hatte es ein paar Mal mit Kondom probiert. Und bekam keine Erektion.
Wollte er Sex ohne Kondom oder keinen Sex?
Keine leichte Entscheidung, sagt er. Er hatte nach seinem Coming-out eine
schwule Jugendgruppe besucht, die von der Aids-Hilfe organisiert wurde.
„Ich wusste ziemlich genau, was mich im Falle einer Infektion mit HIV alles
erwarten kann.“ Er habe sich entschieden, das Risiko einzugehen. Zu dieser
Zeit gab es schon Medikamente, die HIV unter Kontrolle hielten, so dass es
nicht zur tödlichen Krankheit wurde. HIV sei für ihn eine gut behandelbare
chronische Erkrankung gewesen, sagt Erling.
Aber eben doch: eine chronische Krankheit. Die Last, jeden Tag Medikamente
zu nehmen, die Übelkeit, Kopfschmerzen und Verdauungsprobleme mit sich
bringen können. Kann so etwas gegenüber der Alternative, keinen Sex zu
haben, ein kleineres Übel sein? Oder war es ein Spiel mit dem Risiko, eine
irrationale Sehnsucht?
Nachfragen, um seine Sorglosigkeit zu verstehen, beantwortet Erling später
in einer E-Mail so: Er wolle gesund bleiben, natürlich. „Aber mir ist
wichtig, den Spaß am Leben nicht zu verlieren. Und den Spaß am Sex – zu
beidem gehören Krankheiten einfach dazu.“
Trotzdem war er vor jedem HIV-Test aufgeregt und dann überrascht, dass er
wieder und wieder negativ war. „Es ist so lange gutgegangen“, sagt er.
Er wurde risikobereiter. Bei einer Verabredung über eine Internetseite
wusste er, dass sein Date HIV hatte. Es war der Mann, bei dem er sich
ansteckte.
Er sagt, er habe neutral auf das Testergebnis reagiert. „Kein Drama. Es war
die logische Konsequenz aus meinem Verhalten.“ Und doch, so sagt er heute,
hat er die Krankheit beiseite geschoben. Als habe sie nichts mit ihm zu
tun. Vielleicht war das seine Form von Schock.
Als er merkte, dass es so nicht geht, schloss sich Erling einer
HIV-Jugendgruppe an. Irgendwann leitete er sie, organisierte Grillabende im
Park im Sommer oder Theaterbesuche.
Man kann ihn am Wochenende auf Sex-Partys für HIV-Positive begleiten. Es
sind Abende, an denen Erling eine halbe Stunde in der Schlange steht, bevor
er einen Clubraum betritt, in dem vielleicht hundert Männer stehen. Junge
und alte, mit Bauch oder ohne, einige nackt, andere nicht. An der Seite ist
ein Büfett aufgebaut. Suppe, Obst, Bockwürste. Ein DJ spielt House.
Marco Erling steigt in den Keller hinab, der dafür da ist, dass Leute dort
Sex haben. Jeder weiß, mit wem er es zu tun hat, HIV-Positive mit
HIV-Positiven. Es gab eine Zeit, in der sie sich dafür rechtfertigen
mussten, überhaupt Sex zu haben. Bevor Menschen wie Marco Erlinger kamen
und sagten, dass es so etwas gibt wie Safer Sex ohne Kondom.
Schon seit Ende der neunziger Jahre, lange vor den ersten Studien,
spekulieren Wissenschaftler, dass HIV-Positive, deren Viruslast durch die
Therapie unter die Nachweisgrenze sinkt, andere nicht mehr anstecken
könnten. Wissenschaftliche Belege haben sie dafür zunächst nicht.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die regionalen
Aids-Hilfen, die für die Prävention verantwortlich sind, halten sich aus
dieser Diskussion lange heraus. Sie entwerfen bunte Plakate mit Gurken und
Rettichen, die für Sex mit Kondom werben. Mach’s mit!
Es ist eine Gratwanderung: Wie viel Differenziertheit verträgt die Debatte,
wenn ein Viertel der Jugendlichen beim ersten Sex kein Kondom benutzt?
2008 veröffentlicht eine Schweizer Expertenkommission ein Statement, wonach
das Restrisiko beim ungeschützten Verkehr mit einem therapierten Positiven
bei lediglich 1:100.000 liege. Eine Revolution. Eine erfolgreiche
HIV-Therapie biete etwas mehr Schutz als das Kondom. Allerdings knüpft die
Komission ihre Botschaft an zwei Bedingungen: Die Menge der Viren, die
Viruslast, müsse seit sechs Monaten unter der Nachweisgrenze sein, außerdem
dürfe keine zweite sexuell übertragbare Infektion vorliegen, weil die das
Infektionsrisiko erhöhe.
Der Gesundheitskommissar der Europäischen Kommission lässt sofort
verkünden, die Studien aus der Schweiz sollten „unsere Aufmerksamkeit nicht
von unseren Initiativen, der Förderung von ‚safe sex‘, ablenken“. Man d�…
nicht die falsche Botschaft verbreiten, dass Aids heilbar sei. Ein
Geschäftsführer der Schweizer Aids-Hilfe sagt: „Man hätte diese Entdeckung
besser nicht breit publiziert.“
In den kommenden Jahren bestätigen kleinere Studien die These von der
Nichtinfektiosität; 2011 bringt eine internationale Studie Klarheit. Gut
1.750 Paare in Afrika, Südamerika, in Teilen Asiens und in den USA waren
beteiligt, fast alle heterosexuell, jeweils einer der Partner hatte HIV.
Eine Therapie schützt demnach zu 96 Prozent vor einer Infektion, Kondome
nur zu 95 Prozent. Das Fazit: Es gibt keine sicherere Safer-Sex-Methode
gegen eine HIV-Infektion als eine konsequent eingehaltene Therapie.
Für Marco Erling ist das die Gegenwart. „Ich bin in einer anderen Zeit groß
geworden. Die alten Bilder von Aids waren so gut wie nicht mehr präsent“,
sagt er.
Die alten Bilder. Es sind die Bilder, die sich tief in Wolfgang Kohl
festgesetzt haben.
Wenn sich Kohl an den Anfang der achtziger Jahre erinnert, an den
Spiegel-Artikel, in dem er zum ersten Mal von der geheimnisvollen Krankheit
erfuhr, dann wundert er sich immer noch, wie schnell alles ging. „Es war so
wie bei einem Gewitter.“ Er zeigt aus dem Fenster seines Büros in den
Hinterhof des betreuten Wohnens für HIV-Infizierte. „Du hörst ein
Donnergrollen und denkst, es ist noch ganz weit weg. Und plötzlich ist es
über deinem Kopf.“ An einer Bürowand hängt ein Audrey-Hepburn-Plakat neben
einem Rehgeweih. Auf einem verschnörkelten goldenen Hocker steht ein
CD-Player.
Gerade war es noch die rätselhafte Seuche in den USA, plötzlich war es Aids
in Westberlin, wo Kohl nun lebte. Die ersten Bekannten infizierten sich,
später sein bester Freund. Dann ging los, was er „Massensterben“ nennt.
Eine Beerdigung in der Woche, manchmal zwei. „Ich war 28 und dachte: In
vier Jahren hast du keine Freunde mehr.“
Es war die Zeit, in der ein Publizist in der New York Times vorschlug, man
solle Aidskranke tätowieren. Schwule auf dem Hintern und Drogennutzer auf
dem Arm. „Es hatte was von Kriegszustand“, sagt Kohl. Ein Bild, das schief
klingt, aber hilft, zu verstehen, was die Erfahrung des alten Aids mit
Menschen machte.
Bei Kriegen gibt es die Kriegsgeneration, bis ins Mark geprägt von den
Ereignissen. Meist schweigen sie später. Es gibt die Kriegskinder, die noch
frühe Erinnerungen haben und die Traumata der Älteren mitnehmen. Dann gibt
es die Nachgeborenen. Sie verstehen nicht, warum sich alle so seltsam
verhalten.
Wolfgang Kohl hat aus dem No-Future-Gefühl eine Lebenslust entwickelt, aus
Trotz gegen den Tod. „Im Grunde genommen wollte ich nie alt werden.“ Kohls
langer grau-blonder Vollbart ist exakt gestutzt. Er trägt eine karierte
Mütze, das Polohemd ist bis zum obersten Knopf zugeknöpft, dazu blaue
Schuhe mit Lederschnürsenkeln.
Mitte der Achtziger fing er mit ehrenamtlicher Arbeit bei der
Telefonberatung der Aids-Hilfe an; manche riefen mehrmals am Tag an,
Aidsphobiker wurden sie genannt. Er gestaltete Aufklärungsabende in Kneipen
und verteilte Kondome in Parks, in denen sich Männer zum Sex trafen. Die
Hysterie sei damals überall gewesen, auch in Schwulenbars hätten sie
diskutiert, ob man Leute mit Aids bedienen könne. Reichte es, ihre Gläser
gründlich abzuwaschen?
Wolfgang Kohl hat sich lange geweigert, einen HIV-Test machen zu lassen –
er wollte nicht, dass sich die Welt in „positiv“ und „negativ“ trennt. …
40 zieht man Lebensbilanz. Da habe ich meinen ersten HIV-Test gemacht, auch
als Bestätigung meiner Safer-Sex-Theorie.“
Dass therapierte Menschen mit HIV nicht mehr ansteckend sind, ändert für
ihn nicht viel. Ihn freut es für Positive, weil es die Belastung nehme,
jemanden anstecken zu können. Weil es helfe, Ausgrenzung abzubauen. Aber
die Diskussionen, die daraus folgen, findet er gefährlich.
Für Kohl ist es noch nicht lange her, dass der Schauspieler Tom Hanks 1993
im Film „Philadelphia“ vor Gericht sein Hemd auszieht und die dunklen
Flecken auf seiner Brust zeigt.
Solche Aids-bezogenen Krankheiten sind dank der Medikamente gegen HIV
selten geworden. Dank der Zeitenwende, die 1996 mit der Welt-Aids-Konferenz
in Vancouver begann. Hier wurde eine Kombinationstherapie aus drei
Wirkstoffen vorgestellt: Die Tabletten blockieren die Vermehrung des Virus,
die Zahl der Erreger sinkt. Wenn alles gut verläuft, kann HIV wenige Wochen
nach Beginn einer Behandlung nicht mehr nachgewiesen werden.
In Deutschland kann, im Prinzip, jeder Erkrankte diese Therapie bekommen,
die Kasse zahlt. In vielen Ländern ist das anders. 90 Prozent aller Mädchen
und Jungen, die weltweit infiziert sind, lebten 2012 in Afrika südlich der
Sahara. Allerdings gab es im selben Jahr dort auch den größten Fortschritt
in der Versorgung mit Medikamenten. Mit globalem Blick gesehen, ist die
Menschheit aber noch weit davon entfernt, die Krankheit als lästiges Übel
betrachten zu können, wie es Marco Erling tut.
Das Logo der Welt-Aids-Konferenz, zu der sich ab Sonntag 18.000 Menschen im
australischen Melbourne treffen, sind Aidsschleifen in Form von
Fußabdrücken. Nach hinten werden sie immer kleiner. Schritte hin zu einer
Welt ohne Aids.
Ärzte sagen, hierzulande sollte Aids nicht mehr vorkommen. Sollte. Die
Wirklichkeit sieht anders aus. Nach Schätzungen des Robert-Koch-Institut
erhielten 2012 820 Menschen ihre HIV-Diagnose erst, als das Immunsystem
bereits geschädigt war. 2013 gab es etwa 3.260 HIV-Neudiagnosen – 10
Prozent mehr als 2012. Das liegt aber wohl vor allem daran, dass die
Laborverfahren genauer werden und sich mehr Menschen testen lassen.
Insgesamt lebten 2012 rund 78.000 HIV-Positive in Deutschland, jedes Jahr
sterben hier 500 Menschen an den Folgen ihrer Infektion.
HIV ist immer noch nicht heilbar, weil sich der Erreger in einigen
Zellarten besonders hartnäckig versteckt, etwa im Gehirn, und selbst dann
wieder hervorkommen kann, wenn er über Monate im Blut nicht mehr
nachweisbar war. 2013 hatten Wissenschaftler vom sogenannten
Mississippi-Baby berichtet, das sich im Mutterleib mit HIV angesteckt hatte
und schon Stunden nach der Geburt mit Medikamenten behandelt wurde. Als die
Mutter die Therapie nach einiger Zeit absetzte, blieb das Mädchen
HIV-negativ. Ein Wunder. Oder ein Beweis, dass HIV heilbar ist, wenn die
Viren noch keine Chance hatten, sich zu verstecken? Vergangene Woche
meldeten die Ärzte, dass sie wieder Spuren von HI-Viren im Blut des Kindes
gefunden haben.
Für Marco Erling ist klar, dass andere bedenkenlos mit ihm schlafen können
– ohne Kondom und obwohl er HIV-positiv ist.
Wolfgang Kohl sieht es anders. Er bleibt lieber misstrauisch. Wie kann er
sich sicher sein, dass sein Gegenüber die Medikamente regelmäßig nimmt? „Da
ist es doch einfacher, ein Kondom rüberzureichen“, sagt er.
Thorsten Winkler hat lange gebraucht, um seinen eigenen Weg zwischen diesen
beiden Welten zu finden.
Winkler sitzt im Hinterzimmer einer Bar, in der er als Techniker arbeitet.
Rundes Gesicht, braune, fransige Haare.
Er hat sich Anfang 1997 mit HIV angesteckt. Er weiß es genau, weil er eine
Bußgeld-Quittung aus dem Januar des Jahres aufgehoben hat. „Ich war so
fiebrig an dem Tag, stand völlig neben mir. Lief durch die Einkaufsstraßen,
sah eine Postkarte, steckte sie ein und ging einfach weiter. Man rief mir
hinterher. Hielt mich auf. Ich musste 50 Mark wegen Diebstahl zahlen.“
Grippeartige Symptome können auf eine frische HIV-Infektion hindeuten.
Seine Ärztin meinte: irgendein Virus, geht sicher vorbei.
Auf HIV testen ließ Winkler sich erst, als sein ehemaliger Freund einige
Zeit nach der Trennung sagte, er habe einen Test gemacht und sei positiv.
Auch er hatte sich fiebrig gefühlt.
Thorsten Winkler kämpft seit zwölf Jahren mit Medikamenten gegen das Virus.
„Mir war schnell klar, dass ich zumindest auf dem Papier HIV-negativ bin.
Trotzdem: HIV ist ja nicht weg.“ Dass er deswegen nicht ansteckend sein
könnte, darauf kam er nicht.
## Die Neunziger, als Stars verwelkten und starben
Winkler kennt die Zeiten des alten Aids, sah Anfang der Neunziger Stars auf
der Bühne verwelken und dann sterben. Das Kondom war für ihn obligatorisch.
Dann, vor einem Jahr, schlug ihm sein Freund vor, darauf zu verzichten.
Sein Freund, der kein HIV hat. Eine waghalsige Idee – wirklich ohne Risiko?
Es war ein Artikel über die Studie von 2011, der Thorsten Winkler dazu
brachte, das Kondom nun manchmal wegzulassen.
Eine große Entscheidung in einem Land, in dem ungeschützter
Geschlechtsverkehr mit HIV-Infektion unter Paragraf 223 und 224 des
Strafgesetzbuches fällt, Körperverletzung. Strafbar ist bereits der
Versuch. Darum heißen Marco Erling und Thorsten Winkler in Wirklichkeit
anders als in diesem Text.
Seit 1987 wurden 35 HIV-Positive wegen gefährlicher Körperverletzung
verurteilt. Der prominenteste Fall ist vier Jahre her.
Die Sängerin Nadja Benaissa von der Band No Angels wurde vor einem Konzert
von der Polizei abgeführt. Ein Exliebhaber warf ihr vor, ihn mit HIV
infiziert zu haben. Das Urteil: zwei Jahre auf Bewährung und 300
Sozialstunden im Aids-Hospiz. Zeitungen nannten sie „Todesengel“.
Es kann nur vor Gericht landen, wer weiß, dass er ansteckend sein könnte.
Etwa 70 Prozent der Infektionen, schätzen Experten, gehen von Menschen aus,
die nicht wissen, dass sie HIV-positiv sind. Am größten ist die Gefahr bei
frisch Infizierten, weil die Zahl der Viren besonders hoch ist. Meist haben
sie noch keinen Test gemacht.
Wenn der Test positiv ist, dauert es oft noch Jahre, bis mit der Therapie
begonnen wird. Erst wenn der Körper so lange gekämpft hat, dass ein
bestimmter Blutwert unterschritten ist, verschreiben Ärzte Medikamente. Es
ist nicht erwiesen, ob es Vorteile hätte, früher zu beginnen.
Wenn aber alle Positiven sofort behandelt würden und bald nicht mehr
ansteckend wären, könnte die Zahl der Infektionen sinken. Es sind die
Diskussionen, die jetzt folgen. Die Weltgesundheitsorganisation schlug
kürzlich vor, dass Männer, die Sex mit Männern haben, vorbeugend
HIV-Medikamente nehmen. In den USA gibt es schon länger eine Tablette zur
Prävention.
Auch bei Marco Erding begann die Therapie erst Jahre nach der Infektion. Er
hatte Sex ohne Kondom gehabt und sich dabei angesteckt. Nun hatte er Sex
ohne Kondom – und wusste, dass er andere anstecken könnte. Seine Haltung
damals: „Wer negativ bleiben will, muss bei jedem Sexpartner davon
ausgehen, dass der irgendwas Ansteckendes hat – und sich schützen“, sagt
er.
Wenn der andere ihn vor dem Sex fragte, sagte er, dass er infiziert ist.
Wenn der andere nicht fragte, nicht. Es sei nicht seine Aufgabe, andere zu
schützen.
Diese Worte können brutal klingen, wie das Verbrechen, das im
Strafgesetzbuch geahndet wird. Oder wie die radikale Fortsetzung des
Gedankens: Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Ich. Und der andere
auch.
„Ich würde mich heute genauso für kondomlosen Sex entscheiden wie vor 16
Jahren“, sagt Marco Erling.
„Ich möchte bis heute nicht HIV-infiziert sein“, sagt Wolfgang Kohl.
Thorsten Winkler macht sich jetzt manchmal Sorgen, er könnte seinen Freund
beim ungeschützten Sex mit anderen Krankheiten infizieren.
Er hat Angst vor Hepatitis C.
■ Jörg Schmid, 38, lebt als Autor in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern
■ Luise Strothmann, 28, ist sonntaz-Redakteurin
19 Jul 2014
## AUTOREN
JÖRG SCHMID / LUISE STROTHMANN
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