# taz.de -- Das Ende der Angst | |
> VIRUS Wolfgang Kohl erlebte Aids als Epidemie, die ihm seine Freunde | |
> nahm. Für Marco Erling ist HIV eine gut behandelbare Krankheit. Positive, | |
> die Tabletten nehmen, können selbst ohne Kondom niemanden mehr anstecken. | |
> Muss man da Aids noch fürchten? | |
VON JÖRG SCHMID UND LUISE STROTHMANN | |
Im Sommer 1982 blättert Wolfgang Kohl auf die Seite 187 des Magazins Der | |
Spiegel. Dort sieht er ein Foto zweier Männer mit Sonnenbrillen. Einer hat | |
ein Band um die Stirn gebunden und lehnt sich gegen die Brust des anderen. | |
Darunter steht: „Homosexuelle in den USA: Abwehrschwäche durch Hasch?“ Im | |
Text daneben mutmaßt ein Forscher, das Marihuana, das viele Schwule | |
rauchten, würde ihr Immunsystem angreifen. Vielleicht auch Cortisonsalben, | |
die Männer mit wechselnden Partnern benutzten, um verletzte Schleimhäute | |
schneller heilen zu lassen. | |
Der Text handelt von einer rätselhaften Krankheit, von der offenbar vor | |
allem Amerikas Homosexuelle betroffen sind. Männer zwischen 25 und 30 | |
würden mit bräunlich-blauen Flecken auf der Haut in die Krankenhäuser | |
eingeliefert. Viele sterben. | |
Wolfgang Kohl ist 21 Jahre alt, als der Artikel erscheint. Er hat das Heft | |
von einem schwulen Freund in Freiburg zugesteckt bekommen. Wenn es sich | |
unter Männern verbreitet, muss es etwas mit Sex zu tun haben, überlegt | |
Kohl. Angst hat er keine. Die USA sind weit weg. Er weiß noch nicht, wie | |
schnell das, was ein Professor in dem Text „Lustseuche“ nennt, näher kommen | |
wird. | |
Thorsten Winkler ist 13 Jahre alt, als der Artikel erscheint. Er besuchte | |
eine Polytechnische Oberschule in einem Ort in Brandenburg, der damaligen | |
DDR. Den Spiegel gibt es dort nicht und Politiker werden noch Jahre später | |
behaupten, dass es die geheimnisvolle Krankheit aus dem Westen ebenfalls | |
nicht gibt. | |
Marco Erling ist gerade ein Jahr alt, als der Artikel erscheint. Er wächst | |
in einer Familie auf, in der offen über Sex gesprochen wird. Vielleicht | |
nehmen sich seine Eltern damals schon vor, ihrem Sohn eines Tages | |
unverkrampft aufzuklären. | |
Fast dreißig Jahre später, im Sommer 2011, erscheint in einem | |
US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin eine Studie mit dem Titel | |
„Prävention von HIV-1-Infektionen mit antiretroviraler Frühtherapie“. Sie | |
wird als wissenschaftlicher Durchbruch des Jahres gefeiert. Das Ergebnis: | |
Wenn ein Mensch mit HIV in Behandlung ist und die Zahl der Viren durch die | |
Medikamente über ein halbes Jahr so gering, dass sie nicht mehr nachweisbar | |
sind, kann dieser Mensch praktisch niemanden mehr infizieren. Die | |
Wahrscheinlichkeit, sich beim Sex ohne Kondom mit einem HIV-Infizierten in | |
Therapie anzustecken, ist statistisch niedriger als beim geschützten Sex | |
mit jemandem, von dem man nicht weiß, ob er infiziert ist. | |
Mehr als drei Jahrzehnte sind vergangen, seit Aids bekannt wurde. Am Anfang | |
schien die Krankheit rätselhaft, weit weg. Dann rückte sie bedrohlich nahe. | |
Wird sie jetzt beherrschbar? | |
Wolfgang Kohl, 53, Sozialarbeiter, leitet heute ein betreutes Wohnen für | |
HIV-Positive und Menschen mit Aids. Die Zeiten, in denen er jede Woche auf | |
mindestens einer Beerdigung war, sind vorbei. Trotzdem würde er niemals | |
ungeschützten Sex haben. | |
Thorsten Winkler, 45, Veranstaltungstechniker, ist HIV-positiv und mit | |
einem Mann zusammen, der nicht infiziert ist. Sein Freund will ihn schon | |
seit einiger Zeit überreden, das Kondom mal wegzulassen. | |
Marco Erling, 33, gelernter Koch, benutzt nie Kondome. Eine bewusste | |
Entscheidung. Er ging das Risiko ein, sich anzustecken. | |
Drei schwule Männer, die sich ähnlich sind. Sie leben gern in Berlin, haben | |
viel Sex, auch mit Menschen, die sie kaum kennen. Sie setzen sich mit HIV | |
auseinander, haben alle ehrenamtlich in dem Bereich gearbeitet. Aber sie | |
wurden zu unterschiedlichen Zeiten geboren – und damit in unterschiedlichen | |
Welten. | |
Die Welt des alten Aids, an dem man jämmerlich stirbt. Die Welt des neuen | |
Aids, das gar nicht erst ausbricht, mit HIV als chronischer Erkrankung – | |
irgendwie nervig, aber behandelbar. Und die Welt dazwischen. | |
Wie viel Respekt muss man noch vor dieser Krankheit haben? Die drei denken | |
darüber sehr verschieden. | |
## Sex ohne Kondom – oder gar keinen Sex? | |
Ein Wintertag im Stadtteil Prenzlauer Berg, Marco Erling kommt im dunklen | |
Mantel ins Café. Er trägt Brille und Kinnbart und wirkt wie jemand, der in | |
der Schule in der Schach-AG gewesen sein könnte. Schüchtern im Auftritt, | |
aber sicher im Denken. | |
Er war 17, als er beschloss, keine Kondome zu benutzen. Er sagt: „Ich hatte | |
alle Infos und traf daraufhin meine Entscheidung.“ | |
Er hatte es ein paar Mal mit Kondom probiert. Und bekam keine Erektion. | |
Wollte er Sex ohne Kondom oder keinen Sex? | |
Keine leichte Entscheidung, sagt er. Er hatte nach seinem Coming-out eine | |
schwule Jugendgruppe besucht, die von der Aids-Hilfe organisiert wurde. | |
„Ich wusste ziemlich genau, was mich im Falle einer Infektion mit HIV alles | |
erwarten kann.“ Er habe sich entschieden, das Risiko einzugehen. Zu dieser | |
Zeit gab es schon Medikamente, die HIV unter Kontrolle hielten, so dass es | |
nicht zur tödlichen Krankheit wurde. HIV sei für ihn eine gut behandelbare | |
chronische Erkrankung gewesen, sagt Erling. | |
Aber eben doch: eine chronische Krankheit. Die Last, jeden Tag Medikamente | |
zu nehmen, die Übelkeit, Kopfschmerzen und Verdauungsprobleme mit sich | |
bringen können. Kann so etwas gegenüber der Alternative, keinen Sex zu | |
haben, ein kleineres Übel sein? Oder war es ein Spiel mit dem Risiko, eine | |
irrationale Sehnsucht? | |
Nachfragen, um seine Sorglosigkeit zu verstehen, beantwortet Erling später | |
in einer E-Mail so: Er wolle gesund bleiben, natürlich. „Aber mir ist | |
wichtig, den Spaß am Leben nicht zu verlieren. Und den Spaß am Sex – zu | |
beidem gehören Krankheiten einfach dazu.“ | |
Trotzdem war er vor jedem HIV-Test aufgeregt und dann überrascht, dass er | |
wieder und wieder negativ war. „Es ist so lange gutgegangen“, sagt er. | |
Er wurde risikobereiter. Bei einer Verabredung über eine Internetseite | |
wusste er, dass sein Date HIV hatte. Es war der Mann, bei dem er sich | |
ansteckte. | |
Er sagt, er habe neutral auf das Testergebnis reagiert. „Kein Drama. Es war | |
die logische Konsequenz aus meinem Verhalten.“ Und doch, so sagt er heute, | |
hat er die Krankheit beiseite geschoben. Als habe sie nichts mit ihm zu | |
tun. Vielleicht war das seine Form von Schock. | |
Als er merkte, dass es so nicht geht, schloss sich Erling einer | |
HIV-Jugendgruppe an. Irgendwann leitete er sie, organisierte Grillabende im | |
Park im Sommer oder Theaterbesuche. | |
Man kann ihn am Wochenende auf Sex-Partys für HIV-Positive begleiten. Es | |
sind Abende, an denen Erling eine halbe Stunde in der Schlange steht, bevor | |
er einen Clubraum betritt, in dem vielleicht hundert Männer stehen. Junge | |
und alte, mit Bauch oder ohne, einige nackt, andere nicht. An der Seite ist | |
ein Büfett aufgebaut. Suppe, Obst, Bockwürste. Ein DJ spielt House. | |
Marco Erling steigt in den Keller hinab, der dafür da ist, dass Leute dort | |
Sex haben. Jeder weiß, mit wem er es zu tun hat, HIV-Positive mit | |
HIV-Positiven. Es gab eine Zeit, in der sie sich dafür rechtfertigen | |
mussten, überhaupt Sex zu haben. Bevor Menschen wie Marco Erlinger kamen | |
und sagten, dass es so etwas gibt wie Safer Sex ohne Kondom. | |
Schon seit Ende der neunziger Jahre, lange vor den ersten Studien, | |
spekulieren Wissenschaftler, dass HIV-Positive, deren Viruslast durch die | |
Therapie unter die Nachweisgrenze sinkt, andere nicht mehr anstecken | |
könnten. Wissenschaftliche Belege haben sie dafür zunächst nicht. | |
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die regionalen | |
Aids-Hilfen, die für die Prävention verantwortlich sind, halten sich aus | |
dieser Diskussion lange heraus. Sie entwerfen bunte Plakate mit Gurken und | |
Rettichen, die für Sex mit Kondom werben. Mach’s mit! | |
Es ist eine Gratwanderung: Wie viel Differenziertheit verträgt die Debatte, | |
wenn ein Viertel der Jugendlichen beim ersten Sex kein Kondom benutzt? | |
2008 veröffentlicht eine Schweizer Expertenkommission ein Statement, wonach | |
das Restrisiko beim ungeschützten Verkehr mit einem therapierten Positiven | |
bei lediglich 1:100.000 liege. Eine Revolution. Eine erfolgreiche | |
HIV-Therapie biete etwas mehr Schutz als das Kondom. Allerdings knüpft die | |
Komission ihre Botschaft an zwei Bedingungen: Die Menge der Viren, die | |
Viruslast, müsse seit sechs Monaten unter der Nachweisgrenze sein, außerdem | |
dürfe keine zweite sexuell übertragbare Infektion vorliegen, weil die das | |
Infektionsrisiko erhöhe. | |
Der Gesundheitskommissar der Europäischen Kommission lässt sofort | |
verkünden, die Studien aus der Schweiz sollten „unsere Aufmerksamkeit nicht | |
von unseren Initiativen, der Förderung von ‚safe sex‘, ablenken“. Man d�… | |
nicht die falsche Botschaft verbreiten, dass Aids heilbar sei. Ein | |
Geschäftsführer der Schweizer Aids-Hilfe sagt: „Man hätte diese Entdeckung | |
besser nicht breit publiziert.“ | |
In den kommenden Jahren bestätigen kleinere Studien die These von der | |
Nichtinfektiosität; 2011 bringt eine internationale Studie Klarheit. Gut | |
1.750 Paare in Afrika, Südamerika, in Teilen Asiens und in den USA waren | |
beteiligt, fast alle heterosexuell, jeweils einer der Partner hatte HIV. | |
Eine Therapie schützt demnach zu 96 Prozent vor einer Infektion, Kondome | |
nur zu 95 Prozent. Das Fazit: Es gibt keine sicherere Safer-Sex-Methode | |
gegen eine HIV-Infektion als eine konsequent eingehaltene Therapie. | |
Für Marco Erling ist das die Gegenwart. „Ich bin in einer anderen Zeit groß | |
geworden. Die alten Bilder von Aids waren so gut wie nicht mehr präsent“, | |
sagt er. | |
Die alten Bilder. Es sind die Bilder, die sich tief in Wolfgang Kohl | |
festgesetzt haben. | |
Wenn sich Kohl an den Anfang der achtziger Jahre erinnert, an den | |
Spiegel-Artikel, in dem er zum ersten Mal von der geheimnisvollen Krankheit | |
erfuhr, dann wundert er sich immer noch, wie schnell alles ging. „Es war so | |
wie bei einem Gewitter.“ Er zeigt aus dem Fenster seines Büros in den | |
Hinterhof des betreuten Wohnens für HIV-Infizierte. „Du hörst ein | |
Donnergrollen und denkst, es ist noch ganz weit weg. Und plötzlich ist es | |
über deinem Kopf.“ An einer Bürowand hängt ein Audrey-Hepburn-Plakat neben | |
einem Rehgeweih. Auf einem verschnörkelten goldenen Hocker steht ein | |
CD-Player. | |
Gerade war es noch die rätselhafte Seuche in den USA, plötzlich war es Aids | |
in Westberlin, wo Kohl nun lebte. Die ersten Bekannten infizierten sich, | |
später sein bester Freund. Dann ging los, was er „Massensterben“ nennt. | |
Eine Beerdigung in der Woche, manchmal zwei. „Ich war 28 und dachte: In | |
vier Jahren hast du keine Freunde mehr.“ | |
Es war die Zeit, in der ein Publizist in der New York Times vorschlug, man | |
solle Aidskranke tätowieren. Schwule auf dem Hintern und Drogennutzer auf | |
dem Arm. „Es hatte was von Kriegszustand“, sagt Kohl. Ein Bild, das schief | |
klingt, aber hilft, zu verstehen, was die Erfahrung des alten Aids mit | |
Menschen machte. | |
Bei Kriegen gibt es die Kriegsgeneration, bis ins Mark geprägt von den | |
Ereignissen. Meist schweigen sie später. Es gibt die Kriegskinder, die noch | |
frühe Erinnerungen haben und die Traumata der Älteren mitnehmen. Dann gibt | |
es die Nachgeborenen. Sie verstehen nicht, warum sich alle so seltsam | |
verhalten. | |
Wolfgang Kohl hat aus dem No-Future-Gefühl eine Lebenslust entwickelt, aus | |
Trotz gegen den Tod. „Im Grunde genommen wollte ich nie alt werden.“ Kohls | |
langer grau-blonder Vollbart ist exakt gestutzt. Er trägt eine karierte | |
Mütze, das Polohemd ist bis zum obersten Knopf zugeknöpft, dazu blaue | |
Schuhe mit Lederschnürsenkeln. | |
Mitte der Achtziger fing er mit ehrenamtlicher Arbeit bei der | |
Telefonberatung der Aids-Hilfe an; manche riefen mehrmals am Tag an, | |
Aidsphobiker wurden sie genannt. Er gestaltete Aufklärungsabende in Kneipen | |
und verteilte Kondome in Parks, in denen sich Männer zum Sex trafen. Die | |
Hysterie sei damals überall gewesen, auch in Schwulenbars hätten sie | |
diskutiert, ob man Leute mit Aids bedienen könne. Reichte es, ihre Gläser | |
gründlich abzuwaschen? | |
Wolfgang Kohl hat sich lange geweigert, einen HIV-Test machen zu lassen – | |
er wollte nicht, dass sich die Welt in „positiv“ und „negativ“ trennt. … | |
40 zieht man Lebensbilanz. Da habe ich meinen ersten HIV-Test gemacht, auch | |
als Bestätigung meiner Safer-Sex-Theorie.“ | |
Dass therapierte Menschen mit HIV nicht mehr ansteckend sind, ändert für | |
ihn nicht viel. Ihn freut es für Positive, weil es die Belastung nehme, | |
jemanden anstecken zu können. Weil es helfe, Ausgrenzung abzubauen. Aber | |
die Diskussionen, die daraus folgen, findet er gefährlich. | |
Für Kohl ist es noch nicht lange her, dass der Schauspieler Tom Hanks 1993 | |
im Film „Philadelphia“ vor Gericht sein Hemd auszieht und die dunklen | |
Flecken auf seiner Brust zeigt. | |
Solche Aids-bezogenen Krankheiten sind dank der Medikamente gegen HIV | |
selten geworden. Dank der Zeitenwende, die 1996 mit der Welt-Aids-Konferenz | |
in Vancouver begann. Hier wurde eine Kombinationstherapie aus drei | |
Wirkstoffen vorgestellt: Die Tabletten blockieren die Vermehrung des Virus, | |
die Zahl der Erreger sinkt. Wenn alles gut verläuft, kann HIV wenige Wochen | |
nach Beginn einer Behandlung nicht mehr nachgewiesen werden. | |
In Deutschland kann, im Prinzip, jeder Erkrankte diese Therapie bekommen, | |
die Kasse zahlt. In vielen Ländern ist das anders. 90 Prozent aller Mädchen | |
und Jungen, die weltweit infiziert sind, lebten 2012 in Afrika südlich der | |
Sahara. Allerdings gab es im selben Jahr dort auch den größten Fortschritt | |
in der Versorgung mit Medikamenten. Mit globalem Blick gesehen, ist die | |
Menschheit aber noch weit davon entfernt, die Krankheit als lästiges Übel | |
betrachten zu können, wie es Marco Erling tut. | |
Das Logo der Welt-Aids-Konferenz, zu der sich ab Sonntag 18.000 Menschen im | |
australischen Melbourne treffen, sind Aidsschleifen in Form von | |
Fußabdrücken. Nach hinten werden sie immer kleiner. Schritte hin zu einer | |
Welt ohne Aids. | |
Ärzte sagen, hierzulande sollte Aids nicht mehr vorkommen. Sollte. Die | |
Wirklichkeit sieht anders aus. Nach Schätzungen des Robert-Koch-Institut | |
erhielten 2012 820 Menschen ihre HIV-Diagnose erst, als das Immunsystem | |
bereits geschädigt war. 2013 gab es etwa 3.260 HIV-Neudiagnosen – 10 | |
Prozent mehr als 2012. Das liegt aber wohl vor allem daran, dass die | |
Laborverfahren genauer werden und sich mehr Menschen testen lassen. | |
Insgesamt lebten 2012 rund 78.000 HIV-Positive in Deutschland, jedes Jahr | |
sterben hier 500 Menschen an den Folgen ihrer Infektion. | |
HIV ist immer noch nicht heilbar, weil sich der Erreger in einigen | |
Zellarten besonders hartnäckig versteckt, etwa im Gehirn, und selbst dann | |
wieder hervorkommen kann, wenn er über Monate im Blut nicht mehr | |
nachweisbar war. 2013 hatten Wissenschaftler vom sogenannten | |
Mississippi-Baby berichtet, das sich im Mutterleib mit HIV angesteckt hatte | |
und schon Stunden nach der Geburt mit Medikamenten behandelt wurde. Als die | |
Mutter die Therapie nach einiger Zeit absetzte, blieb das Mädchen | |
HIV-negativ. Ein Wunder. Oder ein Beweis, dass HIV heilbar ist, wenn die | |
Viren noch keine Chance hatten, sich zu verstecken? Vergangene Woche | |
meldeten die Ärzte, dass sie wieder Spuren von HI-Viren im Blut des Kindes | |
gefunden haben. | |
Für Marco Erling ist klar, dass andere bedenkenlos mit ihm schlafen können | |
– ohne Kondom und obwohl er HIV-positiv ist. | |
Wolfgang Kohl sieht es anders. Er bleibt lieber misstrauisch. Wie kann er | |
sich sicher sein, dass sein Gegenüber die Medikamente regelmäßig nimmt? „Da | |
ist es doch einfacher, ein Kondom rüberzureichen“, sagt er. | |
Thorsten Winkler hat lange gebraucht, um seinen eigenen Weg zwischen diesen | |
beiden Welten zu finden. | |
Winkler sitzt im Hinterzimmer einer Bar, in der er als Techniker arbeitet. | |
Rundes Gesicht, braune, fransige Haare. | |
Er hat sich Anfang 1997 mit HIV angesteckt. Er weiß es genau, weil er eine | |
Bußgeld-Quittung aus dem Januar des Jahres aufgehoben hat. „Ich war so | |
fiebrig an dem Tag, stand völlig neben mir. Lief durch die Einkaufsstraßen, | |
sah eine Postkarte, steckte sie ein und ging einfach weiter. Man rief mir | |
hinterher. Hielt mich auf. Ich musste 50 Mark wegen Diebstahl zahlen.“ | |
Grippeartige Symptome können auf eine frische HIV-Infektion hindeuten. | |
Seine Ärztin meinte: irgendein Virus, geht sicher vorbei. | |
Auf HIV testen ließ Winkler sich erst, als sein ehemaliger Freund einige | |
Zeit nach der Trennung sagte, er habe einen Test gemacht und sei positiv. | |
Auch er hatte sich fiebrig gefühlt. | |
Thorsten Winkler kämpft seit zwölf Jahren mit Medikamenten gegen das Virus. | |
„Mir war schnell klar, dass ich zumindest auf dem Papier HIV-negativ bin. | |
Trotzdem: HIV ist ja nicht weg.“ Dass er deswegen nicht ansteckend sein | |
könnte, darauf kam er nicht. | |
## Die Neunziger, als Stars verwelkten und starben | |
Winkler kennt die Zeiten des alten Aids, sah Anfang der Neunziger Stars auf | |
der Bühne verwelken und dann sterben. Das Kondom war für ihn obligatorisch. | |
Dann, vor einem Jahr, schlug ihm sein Freund vor, darauf zu verzichten. | |
Sein Freund, der kein HIV hat. Eine waghalsige Idee – wirklich ohne Risiko? | |
Es war ein Artikel über die Studie von 2011, der Thorsten Winkler dazu | |
brachte, das Kondom nun manchmal wegzulassen. | |
Eine große Entscheidung in einem Land, in dem ungeschützter | |
Geschlechtsverkehr mit HIV-Infektion unter Paragraf 223 und 224 des | |
Strafgesetzbuches fällt, Körperverletzung. Strafbar ist bereits der | |
Versuch. Darum heißen Marco Erling und Thorsten Winkler in Wirklichkeit | |
anders als in diesem Text. | |
Seit 1987 wurden 35 HIV-Positive wegen gefährlicher Körperverletzung | |
verurteilt. Der prominenteste Fall ist vier Jahre her. | |
Die Sängerin Nadja Benaissa von der Band No Angels wurde vor einem Konzert | |
von der Polizei abgeführt. Ein Exliebhaber warf ihr vor, ihn mit HIV | |
infiziert zu haben. Das Urteil: zwei Jahre auf Bewährung und 300 | |
Sozialstunden im Aids-Hospiz. Zeitungen nannten sie „Todesengel“. | |
Es kann nur vor Gericht landen, wer weiß, dass er ansteckend sein könnte. | |
Etwa 70 Prozent der Infektionen, schätzen Experten, gehen von Menschen aus, | |
die nicht wissen, dass sie HIV-positiv sind. Am größten ist die Gefahr bei | |
frisch Infizierten, weil die Zahl der Viren besonders hoch ist. Meist haben | |
sie noch keinen Test gemacht. | |
Wenn der Test positiv ist, dauert es oft noch Jahre, bis mit der Therapie | |
begonnen wird. Erst wenn der Körper so lange gekämpft hat, dass ein | |
bestimmter Blutwert unterschritten ist, verschreiben Ärzte Medikamente. Es | |
ist nicht erwiesen, ob es Vorteile hätte, früher zu beginnen. | |
Wenn aber alle Positiven sofort behandelt würden und bald nicht mehr | |
ansteckend wären, könnte die Zahl der Infektionen sinken. Es sind die | |
Diskussionen, die jetzt folgen. Die Weltgesundheitsorganisation schlug | |
kürzlich vor, dass Männer, die Sex mit Männern haben, vorbeugend | |
HIV-Medikamente nehmen. In den USA gibt es schon länger eine Tablette zur | |
Prävention. | |
Auch bei Marco Erding begann die Therapie erst Jahre nach der Infektion. Er | |
hatte Sex ohne Kondom gehabt und sich dabei angesteckt. Nun hatte er Sex | |
ohne Kondom – und wusste, dass er andere anstecken könnte. Seine Haltung | |
damals: „Wer negativ bleiben will, muss bei jedem Sexpartner davon | |
ausgehen, dass der irgendwas Ansteckendes hat – und sich schützen“, sagt | |
er. | |
Wenn der andere ihn vor dem Sex fragte, sagte er, dass er infiziert ist. | |
Wenn der andere nicht fragte, nicht. Es sei nicht seine Aufgabe, andere zu | |
schützen. | |
Diese Worte können brutal klingen, wie das Verbrechen, das im | |
Strafgesetzbuch geahndet wird. Oder wie die radikale Fortsetzung des | |
Gedankens: Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Ich. Und der andere | |
auch. | |
„Ich würde mich heute genauso für kondomlosen Sex entscheiden wie vor 16 | |
Jahren“, sagt Marco Erling. | |
„Ich möchte bis heute nicht HIV-infiziert sein“, sagt Wolfgang Kohl. | |
Thorsten Winkler macht sich jetzt manchmal Sorgen, er könnte seinen Freund | |
beim ungeschützten Sex mit anderen Krankheiten infizieren. | |
Er hat Angst vor Hepatitis C. | |
■ Jörg Schmid, 38, lebt als Autor in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern | |
■ Luise Strothmann, 28, ist sonntaz-Redakteurin | |
19 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
JÖRG SCHMID / LUISE STROTHMANN | |
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