# taz.de -- „Chaos-Tage“ in Hannover | |
Als Teilnehmer dieses Punktreffens sehen wir uns veranlaßt, zu den | |
Ereignissen in Hannover Stellung zu beziehen, da die Berichterstattung der | |
Fernsehsender und Printmedien den Sachverhalt sehr einseitig, stark | |
übertrieben und wenig differenziert darstellten. | |
[...] Alle Teilnehmer dieses Treffens wurden in den Berichten der Medien | |
pauschal als „randalierende linke Chaoten“ quasi kriminalisiert. Nach | |
meiner Einschätzung hatte aber die überwiegende Anzahl der Punks es nicht | |
auf Ausschreitungen mit der Polizei abgesehen. Für die Polizei und die | |
Hannoveraner Bevölkerung stellte alleine die Anwesenheit von einigen | |
hundert bunthaarigen Jugendlichen eine Provokation beziehungsweise eine | |
potentielle Gefahr dar. Jegliche Aktivitäten, ob legal oder illegal, wurden | |
von seiten der Polizei durch Festnahmen verhindert. Dabei soll die Polizei | |
hier nicht als Sündenbock dargestellt werden. Das Verhalten der Polizei bei | |
den Chaos-Tagen in Hannover ist als sehr hart und konsequent, aber trotzdem | |
im wesentlichen als fair zu charakterisieren. | |
Der eigentliche Skandal ist darin zu sehen, daß bei ähnlichen Treffen in | |
der rechtsradikalen Szene nicht annähernd so konsequent durchgegriffen | |
wird, wie dies in Hannover geschehen ist. Uns allen sind noch die | |
Fernsehbilder bekannt, wo in der Magdeburger Fußgängerzone eine regelrechte | |
Menschenjagd auf Ausländer von Neonazis durchgeführt wurde und die Polizei | |
erst zu einem relativ späten Zeitpunkt eingriff und dabei sehr zögerlich | |
vorging. Diese skandalöse Tatsache wurde in Ihrer Berichterstattung nicht | |
ausreichend hervorgehoben. | |
Auch die Schilderungen über die Straßenschlacht in der Nordstadt von | |
Hannover sind schlecht recherchiert und entsprechen nicht den tatsächlichen | |
Ereignissen. In den Hauptnachrichten der Fernsehsender und in den | |
Zeitungsberichten wurden die Krawalle in der Nordstadt im wesentlichen wie | |
folgt dargestellt: Nachdem sich mehrere hundert Punker am späten | |
Samstagabend in der Hannoveraner Nordstadt mit der Polizei eine | |
Straßenschlacht geliefert hatten, verschanzten sie sich in einem | |
leerstehenden Fabrikgebäude und wurden anschließend festgenommen. | |
Wahr ist, daß es eine kleine Minderheit gab, die durchaus gewaltbereit war | |
und Krawalle mit der Polizei provozierte. Die Gruppe rekrutierte sich zum | |
Teil aus sogenannten „Autonomen“, die mit der eigentlichen Punkszene nicht | |
viel zu tun haben. Direkt vor der Lutherkirche wurde ein Lagerfeuer | |
entzündet und Pflastersteine aus dem Bürgersteig gegraben. Die überwiegende | |
Mehrheit der Jugendlichen beteiligte sich nicht an diesen Aktionen. Die | |
meisten Punks hielten sich zu diesem Zeitpunkt in und um das leerstehende | |
Fabrikgebäude auf beziehungsweise vor den beiden nahegelegenen Trinkhallen. | |
In der Fabrikhalle sollte ein Konzert von mehreren Punkbands stattfinden. | |
Hier sollten auch wir, die Kassierer aus Bochum, spielen. Man konnte die | |
Situation so bewerten, daß sich vor der Kirche eine kleine | |
Menschenansammlung gebildet hatte, die bereit war, sich mit der Polizei zu | |
prügeln. Alle übrigen Jugendlichen wollten an diesem Abend in erster Linie | |
das Punkkonzert in der Fabrikhalle besuchen. Diese Ausgangssituation wurde | |
von der Polizei nicht erkannt beziehungsweise nicht berücksichtigt. Das | |
gesamte Wohnviertel wurde umzingelt und die anwesenden Jugendlichen | |
verhaftet. Ein zwanzigköpfiges Sondereinsatzkommando stürmte die | |
vollbesetzte Konzerthalle. Alle Zuschauer sowie Musiker der Kassierer und | |
der Band Public Toys wurden festgenommen. Nach weniger als einer halben | |
Stunde hatte die Polizei die Situation in der Nordstadt unter Kontrolle. | |
Wären – wie in den Medien dargestellt – alle Jugendlichen gewaltbereit | |
gewesen, hätte es an diesem Abend mehr Verletzte gegeben. Auch hätte | |
vermutlich die Polizei die Situation nicht so schnell unter Kontrolle | |
bekommen, da das Gelände um die leerstehende Fabrik sehr unübersichtlich | |
ist und sich rund 400 Jugendliche in und vor der Halle aufhielten. | |
Tatsächlich gab es bei den Festnahmen nur wenig oder gar keinen Widerstand | |
von seiten der Punks. | |
Stellen Sie sich einmal die Situation vor, daß bei einem | |
Fußballbundesligaspiel irgendwelche Hooligans eine größere Schlägerei mit | |
der Polizei anfangen und diese als Reaktion darauf alle Zuschauer des | |
Stadions vorübergehend in Polizeigewahrsam nehmen würde, um weitere | |
Krawalle zu verhindern. | |
Durch die Schreckensmeldungen im Fernsehen und die hysterischen | |
Schlagzeilen auf den Titelseiten der Tagespresse erreichen die Medien im | |
wesentlichen zwei Dinge: Zum einen wird eine kreative Jugendbewegung noch | |
weiter in das gesellschaftliche Abseits gedrängt. Vorurteile gegen unseren | |
Rechtsstaat und gegen die angeblich so freie und objektive Medienlandschaft | |
werden bei den Jugendlichen hierdurch bestätigt. Zum anderen werden die | |
„Normalbürger“ gegen Punks und andere Randgruppen aufgehetzt. Ich sehe | |
jetzt schon die dümmlichen Leserbriefe in den Zeitungen vor mir, die | |
drakonische Strafen für solche Chaoten fordern. | |
Wir als Künstler haben den Eindruck, daß in den letzten Jahren eine | |
negative Entwicklung bei den Medien zu beobachten ist. Vor allen bei den | |
privaten Fernsehsendern sind die Nachrichten ein einziges Horrorszenraio, | |
in der eine dramatische Schreckensmeldung der anderen folgt. Leider sind | |
auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und die Printmedien von | |
dieser Entwicklung betroffen. Die übertriebenen und auf | |
Sensationsjournalismus aufbauenden Meldungen über die Chaos-Tage | |
dokumentieren eindrucksvoll den zunehmenden Verfall einer seriösen | |
Berichterstattung in den Medien. Die Kassierer, | |
Punkband aus dem Ruhrgebiet | |
## betr.: „Chaos-Tage endeten bei der Ordnungsmacht“, taz vom 8.8.94 | |
[...] Ein halbwegs kritischer Journalismus sollte mißtrauisch werden, wenn | |
in der öffentlichen Meinung oder mit staatlichen Repressalien gegen | |
Minderheiten mobilgemacht wird, und sich dann der Sache um so | |
differenzierter nähern. Auch wenn es bei den „Chaos-Tagen“ „nur“ um Pu… | |
ging. Obwohl sie, im Gegensatz etwa zu „schwarzen“ Asylbewerbern, ein | |
Außenseiterdasein in der Regel bewußt gewählt haben, haben sie doch ein | |
Recht darauf, daß Übergriffe der Polizei und beängstigende Aufweichung | |
rechtsstaatlicher Prinzipien öffentlich gemacht werden. Bei fast 700 | |
Festnahmen am letzten Wochenende – meines Wissens nach eine der größten | |
Massenverhaftungen in der Geschichte der BRD – ist es mir unbegreiflich, | |
wie Ihr nur Agenturmeldungen und öffentliche Verlautbarungen nachdrucken | |
könnt. Wenn man bei so einem Ereignis offensichtlich nicht vor Ort war oder | |
mit jemandem, der dabei war, nicht gesprochen hat, sollte man es besser | |
ganz lassen, darüber zu berichten. Alle, die Zeugen der „Chaos-Tage“ waren, | |
haben gesehen, wie unschuldige Jung-Punks nur aufgrund ihres Aussehens | |
eingeknastet wurden und/oder „Stadtverbot“ bekamen. Straftaten und | |
Sachbeschädigungen sowie Pöbeleien gegen normale Bürger waren geringer als | |
bei einem großen Fußballspiel ohne nennenswerte Ausschreitungen, und die | |
Steine und Flaschen, die geflogen sind, standen immer im direkten | |
Zusammenhang mit überfallartigen Polizeiattacken der derbsten Sorte. Und | |
das Argument „Ja, die wollten aber doch die Stadt in Schutt und Asche legen | |
...“ ist scheinheilig: Sowohl in einer Sonderausgabe des ZAP-Hardcore- | |
Magazins zu den Chaos-Tagen (bundesweit, gut 4.000er Auflage) als auch auf | |
den im Vorfeld von den Initiatoren aus Hannover herausgegebenen | |
Flugblättern ist anderes zu lesen: Spaß haben, Punkrevival feiern, Leute | |
aus ganz Deutschland (und darüber hinaus) treffen. Und vor allem: Das | |
Verhalten der Punker war so friedlich, daß man zeitweise schon fast an | |
Schafe denken mußte, die sich ohne aufzumucken abführen lassen. | |
[...] Wenn Menschen aufgrund ihrer äußeren Erscheinung zu vielen Hunderten | |
verhaftet und in „vorbeugenden Gewahrsam“ genommen werden, wenn die Polizei | |
mit RichterInnen erfolgreich darüber verhandelt, daß die gesetzlich | |
vorgeschriebene Frist von 24 Stunden Festnahme (spätestens danach muß | |
normalerweise richterlich im Einzelfall über eine Verlängerung befunden | |
werden) einfach auf das ganze Wochenende ausgedehnt wird, und wenn mal so | |
eben für „Gesocks“ sogenannte Stadtverbote ausgesprochen werden – wenn so | |
etwas passiert, dann müßt Ihr vor Ort sein und dies berichten. Eier | |
schmeißen und Chaos-Tage veranstalten sind Außenseiteraktionen – nicht | |
zuletzt weil Institutionen wie Ihr dazu beitragt, daß nicht einmal mehr | |
versucht wird, derartiges nicht konformes Handeln zu verstehen. Johnny | |
Moabit, Berlin | |
Und auf einmal liest mensch wieder von ihnen, von den Punks, die ja fast | |
schon durch die „Böhze Onkelz“-Generation abgelöst schienen. In Hannover | |
haben sie sich bemerkbar gemacht, natürlich begleitet vom gleichmachenden | |
Gehetze der alten Betonköpfe. | |
Doch zur Abwechslung mal aus der taz, die Ihr Euch ja über die Jahre eine | |
recht wertfreie Gewaltverurteilungsmoral zugelegt habt, sind – mensch traut | |
seinen Augen kaum – endlich wieder andere Töne zu vernehmen: Von heute auf | |
morgen werden da randalierende Jugendliche zu einer „konstruktiven | |
Alternative“, die an vergangene Tage erinnert, als ihr im Punk noch eine | |
progressive und antikapitalistische Kraft saht. Wie wär's denn damit, die | |
ebenso alten Debatten über Gewalt und die Rechtmäßigkeit von Gegengewalt | |
wieder auszupacken und daran anzuknüpfen, liebe tazler? Oder ist mit der | |
kleinen, in Kommentarform verpackten Lobsudelei den Punks in Hannover | |
eigentlich schon zuviel Ehre angetan, die romantische Wehmut an | |
ausgeschissene 68er-Träume schon zu sehr strapaziert? Politik wird nicht in | |
den Parlamenten gemacht, sondern draußen. Und die Fragen stellen WIR | |
selbst! Das müßtet Ihr doch eigentlich (noch) wissen. | |
Eine Zeitung, die auf ihren Seiten bald einem Dutzend Diskussionsbeiträgen | |
über Chancen und Risiken einer von einer postsozialistischen Partei | |
geduldeten rot- grünen Minderheitsregierung Platz bietet (spinnt Ihr | |
eigentlich?), sollte doch in der Lage sein, eine Diskussion über „eine | |
Gesellschaft, die es schafft, die sechs Jugendlichen, die sich hierzulande | |
täglich umzubringen versuchen, locker zu übersehen“ vom Zaune zu brechen, | |
sie zumindest wieder in Gang zu bringen. Schließlich seid Ihr nicht umsonst | |
mit dem Anspruch ausgezogen, jeden Tag eine linke GegenZeitung | |
herauszubringen. | |
Mit Euren Vietnam-Demonstrationen ist es Euch damals gelungen, der | |
bundesdeutschen Demokratie ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Jetzt macht | |
Ihr Zeitung: Also schreibt, was abgeht. Und denkt an Eure schreibende | |
Weggefährtin Ulrike Meinhof, die noch in Vor-RAF-Zeiten schrieb: „Die | |
Kriminalität geht weiter“. Markus Bickel, Köln | |
20 Aug 1994 | |
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