| # taz.de -- Cartier-Bresson-Ausstellung in Wolfsburg: Der Meister des Moments | |
| > Die Fotos von Henri Cartier-Bresson verlieren an Tiefgang, wenn man sie | |
| > nach formalen Kriterien ordnet. Beobachten lässt sich das derzeit im | |
| > Kunstmuseum Wolfsburg. | |
| Bild: Besucher in der Ausstellung. | |
| WOLFSBURG taz | "Mit dem Grand Canyon kann ich nichts anfangen", hat der | |
| französische Fotograf Henri Cartier-Bresson einmal gesagt. Er hasste alles | |
| Spektakuläre und Pathetische. Seine Themen sind alltäglich, seine | |
| Bildsprache zeugt von einer klaren Sicht auf die Dinge, er bevorzugt die | |
| unendlichen Facetten der Grautöne statt plakativer Schwarz-Weiß-Kontraste. | |
| Viele Fotografien Cartier-Bressons gehören zum kollektiven Bildgedächtnis | |
| des 20. Jahrhunderts. Beispiele dafür sind der Pfützenspringer in Paris | |
| oder die Baumreihen vor dem Palais Royal mit dem einsamen Spaziergänger, | |
| der darunter hervortritt. Cartier-Bresson ist für die Fotografie das, was | |
| vielleicht Picasso für die Malerei darstellt: eine die Disziplin prägende | |
| Größe - aber mittlerweile auch ein historisches Faktum. | |
| Kann also zu Henri Cartier-Bresson überhaupt noch etwas Neues gesagt | |
| werden? Das Kunstmuseum Wolfsburg versucht mit seiner aktuellen Ausstellung | |
| unter dem Titel "Die Geometrie des Augenblicks" einen Zugriff, der die | |
| bildästhetischen und kompositorischen Merkmale seiner Fotografien in den | |
| Vordergrund stellt. Dazu bedient es sich einer Auswahl von 100 Motiven, die | |
| der Fotograf wenige Jahre vor seinem Tod 2004 noch selbst für eine | |
| Ausstellung traf, die allerdings nicht mehr gezeigt wurde. Veröffentlicht | |
| wurde die Auswahl allerdings in einem Buch. | |
| Der Querschnitt reicht von ganz frühen Aufnahmen ab 1933 bis zum Jahr 1999, | |
| als der studierte Künstler schon längst wieder lieber zeichnete. Alle | |
| Fotografien zeigen Landschaften, wobei der Begriff weit auszulegen ist: | |
| Sehr häufig sind Menschen als Akteure eingefangen, aber auch städtische | |
| Situationen, sozusagen als urbane Topografien. Diese persönliche Auswahl | |
| ist nun ja eigentlich von Cartier-Bresson autorisiert, man könnte ihn gar | |
| als Kurator der Ausstellung bezeichnen. In seinem Buch gab er zudem | |
| thematische oder lokale Oberbegriffe vor, unter die er die Bilder | |
| gruppierte. | |
| Diesen Rahmen sprengt das Kunstmuseum, indem es die Fotokünstlerin Frauke | |
| Eigen mit einer Inszenierung beauftragte. Sie sei eine "Seelenverwandte", | |
| sagt Museumsdirektor Markus Brüderlin zu diesem Kunstgriff, bisher habe | |
| noch nie jemand gewagt, Cartier-Bresson so zu sehen, wie sie es jetzt in | |
| Wolfsburg tut. Frauke Eigen schwärmt für Japan. Ihre Fotos sind von | |
| höchster ästhetischer Qualität, mit einem ausgeprägten Hang zur Reduktion, | |
| den man als ornamentale Überhöhung bezeichnen könnte. Gemäß dieser | |
| persönlichen Handschrift hängte sie in Wolfsburg die Fotografien des | |
| Altmeisters. | |
| Das chronologisch erste und das letzte Foto befinden sich an ihren | |
| vermuteten Plätzen. Dazwischen gibt es eine Expedition durch Strukturen, | |
| Muster und Kompositionsmerkmale, die sich über mehrere Bilder ziehen und | |
| verdichten, um in ein neues formales Charakteristikum überzugehen. | |
| Das bietet beim ersten Durchgang einen frappierenden ästhetischen Genuss. | |
| Beschäftigt man sich aber erneut mit den Fotografien, merkt man, dass | |
| zugunsten dieses Effekts narrative Stränge, beispielsweise einer frühen | |
| Bildreportage des kriegszerstörten Deutschlands aufgegeben werden, da die | |
| einzelnen Fotos nun anderen Eingruppierungszwängen unterworfen sind. | |
| Diese Präsention der Fotos ist dann doch etwas ärgerlich, wenn man | |
| Cartier-Bressons Vita und die Absicht seiner Arbeiten bedenkt. Henri | |
| Cartier-Bresson arbeitete vorrangig als zumeist beauftragter | |
| Bildjournalist, für ihn ging es immer auch um das Thema, die Geschichte im | |
| Bild. Er formulierte für sich die Theorie des "entscheidenden Moments", in | |
| dem Auge, Kamera und Szene eins werden und ein sowohl inhaltlich dichtes | |
| als auch ästhetisch überzeugendes Foto entsteht. | |
| Und häufig folgte er wohl auch seinem weltpolitischen Instinkt und war zur | |
| rechten Zeit am rechten Ort. So beispielweise zu einer letzten | |
| Portraitserie Ghandis ganz unmittelbar vor dessen Ermordung 1948 oder zum | |
| Untergang der Kuomintang in Shanghai ein Jahr später. Als Mitbegründer der | |
| legendären Fotokooperative Magnum achtete er akribisch auf den Kontext | |
| einer Bildveröffentlichung, verbat sich Zuschneidungen - fast alle Fotos | |
| tragen den originalen schwarzen Rand des Negativs - und verfasste lange | |
| Legenden zu seinen Serien. Diese Seriosität seiner Arbeit, aber auch das | |
| uneitle, fast scheue Zurücktreten hinter sein Werk waren sein | |
| Charakteristikum. | |
| ## Die absolute Fotografie | |
| Die Intention der Wolfsburger Hängung bleibt vor diesem Hintergrund etwas | |
| diffus. Frauke Eigen und Markus Brüderlin sprechen davon, die verborgene | |
| Sprache, das über sich selbst Hinausweisende des einzelnen Fotos aufzeigen | |
| zu wollen. Es gehe hier nicht um Anekdoten, sondern um die absolute | |
| Fotografie, ihr eigenes Ordnungssystem, eine radikale Botschaft. Zur | |
| Legitimierung wird in vielen Saalbeschriftungen der Meister zitiert, | |
| beispielweise damit, dass die Fotografie ihn nur als Möglichkeit | |
| interessiere, selbstvergessen im Bruchteil einer Sekunde das Gefühl | |
| festzuhalten, das ein Thema und die Schönheit der Form hervorrufen. | |
| Ein bisschen scheint es aber, als würde dieses klare Bewusstsein, mit dem | |
| Cartier-Bresson immer wieder seine Wahrnehmungs- und Aufnahmevorgänge | |
| selbst reflektierte, hier einem vordergründigen ästhetischen Event | |
| geopfert. Aber Events schätzte Henri Cartier-Bresson auch jenseits des | |
| Grand Canyon ja nun gar nicht. | |
| 6 Sep 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Bettina Maria Brosowsky | |
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