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# taz.de -- tazâ€‰đŸŸthema: Bumbum mit Cellulite
> Feministische VorkÀmpferin oder Marketingprodukt? Brasiliens neuer
> Pop-Superstar Anitta polarisiert – und bildet in mehrfacher Hinsicht
> aktuelle kulturelle Diskurse ab
Bild: Umstrittene Nummer eins des brasilianischen Pop: Anitta
Von Ole Schulz
FĂŒr einige Sekunden fĂ€ngt die Kamera nur den wippenden Po Anittas ein. Der
ist in ein rotes Höschen gequetscht, an ihren Oberschenkeln zeichnet sich
unverkennbar Cellulite ab. Dann schwingt sich die SĂ€ngerin auf ein
Motorradtaxi und lÀsst sich zu einem schleppenden Beat durch Rio de
Janeiros Favela Vidigal chauffieren. Kurz darauf taucht sie eingeölt in
einem knappen Bikini auf einem Favela-Dach auf, wo sich MCs anerkennend
ĂŒber ihren „Bumbum“ Ă€ußern, ihren ausladenden Hintern.
Der sparsam instrumentierte und zugleich eingĂ€ngige Baile-Funk-Track „Vai
malandra“ (auf Deutsch in etwa: „Auf geht’s, böses MĂ€dchen“) wurde na…
seiner Veröffentlichung Ende 2017 auf YouTube innerhalb weniger Tage ĂŒber
70 Millionen Mal aufgerufen, wÀhrend er auf Spotify schnell unter die 20
meistgehörten Songs kam – als erster portugiesischsprachiger Song
ĂŒberhaupt. Keine Frage: Larissa de Macedo Machado alias Anitta hat es
geschafft. In Brasilien ist sie lÀngst ein Star, nun steht sie auch
international im Rampenlicht. Das Magazin Billboard zÀhlt sie sogar zu den
zehn einflussreichsten KĂŒnstlern in sozialen Netzwerken.
In Brasilien hat ihr Song „Vai malandra“ allerdings auch eine Debatte ĂŒber
Fragen wie Sexismus, Schönheitsideale, weibliche SelbstermÀchtigung und
Cultural Appropriation ausgelöst. So werfen ihr einige Aktivisten vor, dass
sie sich typische schwarze Modeelemente wie geflochtene Zöpfe, mit denen
sie im Video zu sehen ist, aneigne. Andere preisen Anitta gerade dafĂŒr,
dass sie das Favela-Leben und die SexualitÀt von Frauen aus Àrmeren
Vierteln feiere – wozu etwa das im Clip ebenfalls auftauchende Benutzen von
Klebestreifen beim Sonnenbaden gehöre, was die BrÀunungsstreifen besonders
zur Geltung bringt.
Mit Geschlechterklischees wird in dem Video jedenfalls nicht gespart – vor
allem mit jenem leicht bekleideter und dem Arsch wackelnder weiblicher
Schönheiten. Einige aber deuten Anittas Auftreten als das eines
selbstbewussten „bösen“ MĂ€dchens, das die Macho-Rapper nach ihrer Pfeife
tanzen lasse. Weniger umstritten ist hingegen, dass es wohl keine gute Wahl
war, ausgerechnet Terry Richardson als Regisseur fĂŒr Videoclips zu
verpflichten – der berĂŒhmte US-Fotograf wird inzwischen wegen
MissbrauchsvorwĂŒrfen von großen Modemagazinen boykottiert.
Zumindest aber dafĂŒr, dass sie ihre Cellulite im Clip offen zur Schau
stellt, wurde Anitta gelobt. „Es war meine Entscheidung, das Video nicht
nachzubearbeiten. Die echte Frau hat Cellulite“, lautete ihr Kommentar
dazu. Ohnehin mĂŒsse frau endlich mit diesen ganzen Körpervergleichen
aufhören, forderte die mittlerweile 25-JÀhrige, die sich selbst als
„feminista“ bezeichnet und im Kirchenchor einer Ă€rmeren Nachbarschaft Rio
de Janeiros mit dem Singen begonnen hat. Von dort aus hat Anitta dabei
geholfen, den verrufenen Baile Funk aus den Favelas Rios in den Mainstream
zu bringen – durch ihre weichgespĂŒlten Versionen dieses trashigen Genres,
das viele aus Brasiliens Oberschicht bis heute fĂŒr kulturell minderwertig
halten und das seit Jahren auch von politischer Seite unterdrĂŒckt wird.
## Elektro und Schnulze
Weitgehend losgelöst von solchen Fragen ging Anittas Karriere ab 2010 steil
nach oben. 2013 wurde ihr erstmals vorgeworfen, ihr Haut aus ImagegrĂŒnden
„geweißt“ zu haben. Das hat sie zwar stets bestritten, aber offensichtlich
ist auch, dass Anitta sich bereits in jungen Jahren mehreren
Schönheitsoperationen unterzogen hat.
Dass sie einem ausgeklĂŒgelten Marketingkonzept folgt, bestreitet Anitta
nicht. 2017 hatte sie vor „Vai malandra“ im Monatstakt vier Singles auf
den Markt gebracht, die nicht nur unterschiedliche Genres bedienten,
sondern auch in mehreren Sprachen gesungen waren. Dazu hat sie eigens
Englisch und Spanisch gelernt – denn die wichtigste Zielgruppe dieser
„strategischen Veröffentlichungen“ waren die USA und die dort lebenden
Latinos. Neben einer Bossa-Nova-Imitation („Will I see you?“) und einer
Elektronik-Nummer („Is that for me?“) lancierte sie – im Duett mit dem
Reggaeton-Star J. Balvin – auch eine Schnulze auf Spanisch („Downtown“).
Wer in Anitta dennoch eine VorkĂ€mpferin fĂŒr die Rechte von Frauen sieht,
dĂŒrfte im MĂ€rz enttĂ€uscht worden sein: Nach dem brutalen Mord an der
linken lesbischen Politikerin Marielle Franco, die wie Anitta aus einem
von Rios Armenvierteln stammte, weigerte sie sich zunÀchst, Stellung zu
dem Vorfall zu beziehen. Nachdem sie von vielen Seiten dazu aufgefordert
worden war, verlautbarte Anitta schließlich in einem ungehaltenen Statement
auf Twitter, sie verurteile jeden Mord – egal ob das Opfer „rechts, links,
hetero oder gay“ sei. Kurz darauf löschte sie den Tweet wieder.
19 May 2018
## AUTOREN
Ole Schulz
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