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# taz.de -- Blick in anderer Leute WG-Küche
> ■ Ethnographie des Alltags: Das Szeneporträt Chronik eines Sommers wurde
> der epochalen „chronique d'un été“ nachgestellt
„Ich glaube, dadurch, daß wir Kameras und vor allem die Ergebnisse von
Kameras ständig im Fernsehen sehen, haben wir auch das Gefühl, was für
Möglichkeiten dahinter stecken und daß man dann plötzlich im Flimmerkasten
in irgendeinem blöden Wohnzimer sein kann“, resümiert eine der
Teilnehmerinnen das ungewöhnliche Projekt von Lori und Andreas Munz.
Zusammen mit einigen Bekannten aus der Hamburger Kultur- und Kneipenszene
haben sie ein Remake gedreht. Das ist an sich nicht weiter spektakulär. In
ihrem Fall allerdings schon, handelt es sich nämlich um einen
Dokumentarfilm, noch dazu um einen, der das Nachdenken über das
dokumentarische Prinzip maßgeblich weitergeführt hat: Jean Rouchs und Edgar
Morins Nouvelle-Vague-Klassiker Chronique d'un été von 1960.
Eigentlich hatten der Soziologe Morin und der Doku-Filmer Rouch eine
Untersuchung der „französischen Frau und der Liebe“ geplant, ein Projekt,
das bald als viel zu „schwierig“ erschien – die neue Frage war dann „Wie
leben Sie?“ und das Ergebnis eine Ethnographie des Pariser Alltags, der
plötzlich so fremd und damit deutlich wurde wie jene Praktiken, die Rouch
in Afrika untersucht hatte. Ihre neo-realistische, marxistische Agenda fiel
in eine Zeit, in der Michel Foucault und Henri Lefèbre in der Theorie oder
die Situationisten in ihrer künstlerisch-politischen Praxis ganz ähnliche
Projekte verfolgten. Die meisten jener Proletarier, Studenten, Künstler und
Migranten, die darin in Interaktion mit den auch vor der Kamera agierenden
Regisseuren über ihren Alltag, den Algerienkrieg und Auschwitz
diskutierten, fand die Filmgeschichte später heraus, standen denn auch, wie
die Filter selbst, der Gruppe „Socialisme ou barbarie“ nahe. Die auf
Spielfilmlänge geschnittene Jump-Cut-Symphonie führten sie wiederum den
Akteuren vor – und machten die gefilmte Diskusion darüber zum Teil des
Films.
So auch Lori und Andreas Munz in ihrem Szeneporträt Chronik eines Sommers.
Die übernommene Frage „Sind Sie glücklich?“ lassen sie von Ex-MTV-Moderat…
Christian Ulmen auf der Spitalerstraße stellen, und das ist vielleicht
geradezu symptomatisch für jene postmodernen Zeiten, die inzwischen Einzug
gehalten haben. Einige der beteiligten Musiker, Theatermacher, Künstler und
Studenten verbinden mit dem Prinzip der filmischen Alltagsethnograhie denn
eher auch den narzißtischen Doku-Schmock von MTVsReal World als den
Versuch, die Frage des Glücks kollektiv werden zu lassen. Die
Klassenanalyse ist der individualistischen Selbstdarstellung von Menschen
mit meist kreativen Berufen gewichen, die nach authentischen Kompromissen
zwischen Kunst und Kommerz suchen.
Gelingt die Repräsentation nicht befriedigend, brechen die Befragten
Interviews auch mal ab. Andere stellen fest, wie schwierig es in den 90ern
sei, sich als gesellschaftliches Subjekt zu definieren – und beklagen die
Banalität ihrer Rede, wenn sie sich selbst im Endschnitt sehen. So
routiniert der Umgang mit dem eigenen Bild den Beteiligten erscheint,
entsteht gerade darin dennoch ein ziemlich präzises Portrait des Sommers
1998. Wie wir leben und wa-rum, muß ständig überprüft werden, forderte
einst Rolf Dieter Brinkmann. Manchmal hilft dazu auch der Blick in anderer
Leute WG-Küchen.
Tobias Nagl
„Chronique d'un été“: Mi, 7. Juli, 19 Uhr. „Chronik eines Sommers“: M…
Juli, 21.15 Uhr
1 Jul 1999
## AUTOREN
Tobias Nagl
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