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# taz.de -- Blass und deshalb Boss
> Die Fraktionen in den Bundesländern werden immer machtvoller, ihre Chefs
> kennt niemand. Dass gerade diese in der SPD etwas werden, zeigt die Wahl
> des neuen Bremer Bürgermeisters
von Kay Müller
Ganz glauben kann er es noch nicht. Der Bremer Bildungssenator Willi Lemke
hat die SPD-Mitgliederbefragung gegen den unbekannten Fraktionschef Jens
Böhrnsen haushoch verloren. Nun wird ein blasser und auch in Bremen
weitgehend unbekannter Ex-Richter, der zuvor sechs Jahre die Fraktion
führte, Nachfolger des in der Bevölkerung beliebten Henning Scherf.
Böhrnsens Wahl ist dabei mehr als eine Bremensie, sie zeigt den Zustand der
SPD in den Ländern – und warum die Fraktionen dort immer mehr Macht
gewinnen.
Gerade weil die Machtfrage in der Post-Scherf-SPD in Bremen nicht eindeutig
geklärt war, kam Landeschef Carsten Sieling auf die Idee, die
Partei-Mitglieder zu fragen. Innerhalb weniger Tage versuchten Lemke und
Böhrnsen ihre Bataillone zu mobilisieren, mit deutlichen Vorteilen für den
Fraktionschef. Die Partei wollte keinen Ex-Werder-Manager, der im Volk
beliebt ist, der für unkonventionelle Denkansätze steht, der gewillt ist,
harte Entscheidungen zu treffen. Die SPD wollte einen Moderator, einen der
ihnen Sicherheit und Ruhe verspricht, einen aus ihren Reihen, der weiß, was
ihre Begehrlichkeiten sind – eben so einen wie Jens Böhrnsen. Der nutzte
seine Hausmacht in der Fraktion. Selbst Hinterbänkler, die fürchten müssen,
bei einem schlechteren Wahlergebnis mit dem blassen Spitzenkandidaten
Böhrnsen ihren Parlamentssitz zu verlieren, haben im innerparteilichen
Wahlkampf für ihn geworben. Die Abgeordneten setzten das in Gang, was
Wahlforscher als Bandwagon-Effekt bezeichnen: Irgendwann glaubte nur noch
eine Minderheit in der SPD, dass Lemke die Wahl gewinnen könnte – und das
Böhrnsen-Lager wuchs immer mehr.
Die Fraktionen besetzen in den Ländern eine Schlüsselrolle. Sie sind in der
Regel ordentlich alimentiert, die Abgeordneten haben viele persönliche
Kontakte zu Multiplikatoren, die Stimmungen beeinflussen können. Dort
zählen die drei „Ms“: Menschen, Mitglieder und Medien. In einem
Mini-Bundesland wie Bremen können die Parlamentarier diese Faktoren noch
direkter beeinflussen als in Flächenstaaten, wo die Macht der Fraktionen
aber ebenfalls wächst.
Das Spitzenpersonal der SPD-Fraktionen ist dabei in den meisten Ländern
ähnlich. Oft sollen farblose, in der Bevölkerung wenig bekannte Politiker
mit Verwaltungserfahrung die Regierung auf Trab halten. In
Schleswig-Holstein macht das seit 1998 der Ex-Hauptschullehrer Lothar Hay,
der bisher nicht durch rhetorische Spitzenleistungen aufgefallen ist.
Ebenso lange ist sein Kollege Volker Schlotmann – ein Gewerkschaftssekretär
– in Mecklenburg-Vorpommern im Amt. Volker wer? Und in Hamburg führt ein
mit 35 Jahren vergleichsweise junger Kollege Michael Neumann die
SPD-Fraktion, den außerhalb des engen politischen Zirkels der Hansestadt
niemand kennt.
Böhrnsen, Hay, Schlotmann – das ist das Personal, dass die Erneuerung der
SPD aus den Ländern schaffen soll. Sie sind die Verwalter des politischen
Betriebes. Sie kennen die Winkelzüge der Macht, haben über Jahre in den
entscheidenden Gremien gesessen. Profiliert haben sich in den Ländern
andere Sozialdemokraten – über Ministerposten wie der frühere Finanz- und
heutige schleswig-holsteinische Innenminister Ralf Stegner oder die
Bildungsministerin aus Rheinland-Pfalz, Doris Ahnen – oder eben Willi Lemke
in Bremen. Doch um den Sprung an die Spitze zu schaffen, sind sie zu weit
weg von der Fraktion. In der Regel stehen sie für unbequeme
Regierungspolitik, gebunden an einen Koalitionspartner, eingezwängt in
Sparvorgaben in Zeiten knapper Kassen. Die Ressortchefs versuchen
sozialdemokratisch zu gestalten, indem sie für neue Steuerkonzepte oder
Ganztagsschulen werben, doch letztlich hat ein Fraktionschef
innerparteilich immer ein wenig die Nase vorn, weil er nicht direkt für die
Regierungsbeschlüsse verantwortlich gemacht werden kann. Er ist nur einer
von vielen Parlamentariern, die die Hand heben, aber trotzdem ihren Unmut
äußern können.
Die Bremer Abgeordneten wollten lieber einen klugen, ruhigen Verwalter als
Regierungschef. Mit ihm hoffen sie mehr durchsetzen zu können, weil sie
Böhrnsen über Jahre als jemanden kennen gelernt haben, der nicht unbedingt
auf den Tisch haut, sondern eher verhandelt. Böhrnsen wird es schwer haben,
sich von der Fraktion zu emanzipieren – einen radikalen Neuanfang für das
hoch verschuldete und in seiner Existenz bedrohte Bundesland wird es mit
ihm kaum geben. Böhrnsens Vorgänger Henning Scherf hatte im Parlament noch
poltern können, dass viele Abgeordnete ihren Stuhl in der Bürgerschaft ihm
persönlich zu verdanken hätten. Nun könnten die Abgeordneten sagen, dass
Böhrnsen seinen Bürgermeisterstuhl ihnen zu verdanken hat. Kein leichter
Job – und keine guten Voraussetzungen für jemanden, der bis zur
Bürgerschaftswahl im Frühjahr 2007 dringend Profil gewinnen muss.
Und die Fraktion? Sie wird vermutlich Landeschef Carsten Sieling
übernehmen, den ein von der SPD engagierter Moderator bei einer
Bundestagswahlkampfveranstaltung vor einigen Wochen noch als Carsten
„Stieling“ vorstellte. Er hat die Kür von Henning Scherfs Nachfolger
fulminant moderiert, sich das Vertrauen von Fraktion und Partei erworben.
Er wird die SPD wieder ein wenig gegen die eigene Regierung profilieren –
und wenn er klug ist, wird er nie Senator. In zehn Jahren wird sein
Bürgermeister Böhrnsen 66 Jahre alt, so alt wie Henning Scherf bei seinem
Rücktritt. Sieling ist dann 56, so alt wie Böhrnsen heute. Vielleicht
gelingt es ihm, blass und unbekannt zu bleiben – gut möglich, dass das die
beste Voraussetzung ist, um Regierungschef eines Bundeslandes zu werden.
19 Oct 2005
## AUTOREN
Kay Müller
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